<h2>IST DIE DOKTRIN DER ATOMAREN ZÜGELUNG VERALTET?</h2>
Nun das aktuelle Thema. Ist die Doktrin der atomaren Zügelung veraltet? Dazu ein Kommentar von Viktor Glasunow, den die Redaktion als einen Diskussionsbeitrag betrachtet.
Die Frage, ob die Doktrin der atomaren Zügelung veraltet sei, wird seit Monaten behandelt. Sie regt zum Nachdenken an und weckt auch gewisse Zweifel. Die russisch-amerikanischen Konsultationen in der vergangenen Woche über strategischen Angriffswaffen haben diese Zweifel nur verstärkt. Die Konsultationen hinterließen einen seltsamen Eindruck. In Washington bekräftigt man andauernd, dass die USA und Russland heute keine Gegner, sondern Partner seien. Und nach dem 11. September seien sie sogar Verbündete im Kampf gegen den internationalen Terrorismus geworden. Es heißt, man vertraue einander jetzt. Warum sollte man da in einer solchen Atmosphäre des Vertrauens einander zügeln? Die Doktrin der atomaren Zügelung sei veraltet, heißt es.
Die russisch-amerikanischen Verhandlungen haben jedoch eine recht beunruhigende Tatsache offenbart. In Washington ist man bereit, die strategischen Angriffswaffen bis auf eine Anzahl von 1 700 bis 2 200 Kernsprengköpfe zu reduzieren. Doch die reduzierten Kernsprengköpfe sollen nicht vernichtet, sondern gelagert werden. Warum? Eben für alle Fälle, vielleicht würden sie noch gebraucht. Gegen wen? Etwa gegen eines der Länder, welche Washington als „Schurkenstaat“ bezeichnet und auf welche es sich zur Rechtfertigung seines Austrittes aus dem ABM-Vertrag beruft, welchem ja die Idee der atomaren Abschreckung und der gegenseitigen Vernichtung nach dem Prinzip, wer zuerst schießt, stirbt als nächster, zugrunde liegt? Aber selbst wenn es eines dieser sogenannten „Schurkenstaaten“ wagen sollte, Kernwaffen einzusetzen, dann wären 1 700 Kernsprengköpfe für die USA noch mehr als genug.
Etwas ganz anderes ist es dagegen, wenn man Russland dabei im Auge hat, das bekanntlich ein den USA ebenbürtiges Kernwaffenpotential besitzt. In Washington meint man wahrscheinlich, gegenwärtig vertraue man Russland, aber wer weiß, was morgen sein würde.
(Pardon, aber solch ein Vertrauen ist einen Dreck wert. Kurzum: Es ist kein Vertrauen. Anm.Berndt)
Doch derartige Überlegungen könnte man auch in Russland den USA gegenüber anstellen. Vertrauen ist eine veränderliche Größe. Unser Land hat zur Regierungszeit Roosevelts mit Amerika gegen den Faschismus zusammengearbeitet. In den Jahren des Kalten Krieges standen wir dann in der Konfrontation. Zur Regierungszeit Reagans galt unser Land sogar als „Imperium des Bösen“. Und da ging es Reagan wahrscheinlich um die Ausmerzung dieses Bösen, als er sein Raketenschutzschild schmieden wollte. Damals blieb dieses Vorhaben unrealisiert. Jetzt sind die USA zur Idee ihres Raketenschutzschildes zurückgekehrt. Aus diesem Grunde wollen sie auch aus dem ABM-Vertrag austreten. Dieser von den Amerikanern geplante Schutzschild ist für den Schutz vor anderen, vor den sogenannten „Schurkenstaaten“, welche niemals ein startegisches Kernwaffenpotential besitzen würden, das die USA bedrohen könnte, einfach nutzlos. Da ersteht wieder die Frage, ob dieses Schutzschild nicht etwa zum Schutz vor Russland gedacht ist. Gleichzeitig will man auch noch die zu reduzierenden Kernsprengköpfe in der Reserve lagern. Man wollte diese Reduzierung auch nicht in juristisch verbindlicher Form fixieren. Dabei argumentiert man so, dass unsere beiden Länder heute Partner und sogar Verbündete wären, weshalb man die Zügelungsdoktrin nicht mehr brauche.
Indessen existiert in den internationalen Beziehungen schon seit Jahrhunderten eine Zügelungsdoktrin. Nicht zu ihrem eigenen Vergnügen hatten sich ja die Länder bewaffnet, sondern um einen realen oder potentiellen Feind abzuschrecken. Mit dem Auftauchen der Atomwaffen tauchte selbstverständlich auch die atomare Zügelung auf. Die Gegner der Doktrin der atomaren Zügelung lassen sich von der falschen These leiten, dass sie eine Folgeerscheinung der bipolaren Welt und des Kalten Krieges sei. In Wirklichkeit aber hängt sie gar nicht vom politischen Aufbau der Welt ab. Diese Doktrin ergibt sich aus der Natur der Kernwaffen selbst, welche nicht umsonst auch „Waffen des Weltuntergangs“ genannt werden. Die atomare Zügelung ist nicht etwa entstanden, weil sich die USA und die ehemalige UdSSR gegenüberstanden. Sie entstand aus dem Bewußtsein jener Tatsache heraus, daß kein Atomkrieg ausbrechen dürfe, weil er den Untergang der Menschheit bedeuten würde. Das Gefährlichste am Verzicht auf die Doktrin der atomaren Abschreckung und der gegenseitigen Vernichtung ist, dass das Undenkbare dann möglich werden könnte. Kurz gesagt, ein Atomkrieg könnte dann tatsächlich möglich sein. Wenn ein atomarer Erstschlag nicht zu einem vernichtenden Gegenschlag führt, wie das die Doktrin der atomaren Zügelung vorsieht, so wäre der Einsatz von Kernwaffen nicht mehr auszuschließen. Und damit niemand ein solches Spiel mit Atomwaffen beginnen kann, muss einem jeden klar sein, dass der Einsatz von Atomwaffen in jeglicher Form einen vernichtenden atomaren Gegenschlag vorsieht.
Solange auf der Erde Atomwaffen existieren, werden wir uns von dem Konzept der atomaren Zügelung und der gegenseitigen Vernichtung nicht lösen können. Es verschwindet erst, wenn auch die Atomwaffen verschwinden. Aber damit zu rechnen, ist anscheinend eine Illusion. Die atomare Abschreckung ist ein unschönes und schreckliches Konzept, doch es berücksichtigt die Realitäten unseres atomaren Zeitalters.
Copyright © 2002 The Voice of Russia (21.Januar 2002)
<h3>Anmerkung (Berndt)</h3>
Ganz witzig zu beobachten, wie die Russen langsam checken, dass sie verarscht werden.
Ich finde die Gedanken, die da ausgebreitet werden sind zum großen Teil völlig plausibel - normaler gesunder Menschenverstand.
Die Frage ist jetzt, was passiert, wenn die russische Elite absolut sicher ist, von den USA verarscht zu werden. Dann wird es interessant! Angesichts seiner Wirtschaftslage, bzw. der Notwendigkeit ausländisches Kapital anzuziehen, kann Russland den USA nicht vors Schienbein treten. Von daher spricht einiges dafür, dass man stillschweigend akzeptiert, dass die USA letztlich doch ein Feind sind, und sich entsprechend verhält, bzw. vorbereitet.
Angesichts der strategischen Einkreisung Russlands durch die USA (NATO-Osterweiterung, neue Stützpunkte in Zentralasien, Raketenabwehrprogramm) kann sich Russland überlegen, ob es demnächst einen Freischlag tätigt, oder ob es sich mit seinem Niedergang abfindet. Denkt es dann an die häppchenweise Zerstückelung von Jugoslawien dürfte sich so mancher für die erste Variante begeistern. Man müsste nur auf einen Moment der Schwäche der USA warten.
Von zentraler Wichtigkeit ist, dass Russland sich angesichts seiner Wirtschaftlage keine offene Konfrontation mit den USA leisten kann. Daraus resultiert die Gefahr, dass man eine russische Schweigsamkeit fehlinterpretiert, bzw. resultiert daraus die Möglichkeit, dass Russland Freundlichkeit nur noch heuchelt.
Und das geht am einfachsten, wenn Putin in die Kameras grinst, man aber sonst nicht mehr viel mitbekommt, was Mütterchen Russland sonst so treibt. Dabei hilft es Putin, dass die europäischen Politiker heilfroh sind, dass keiner das Risiko Russland erkennt, denn.... das wäre schlecht für das europäische Investitionsklima.
"The Voice of Russia" ist ein Netz von Rundfunkstationen, das sich über Russland verteilt. Ich habs nicht überprüft, aber ich vermute mal, dass das quasi amtlich bzw. voll regierungskonform ist. Die Internetseite ist so ne Art Beipack zum Rundfunkprogramm. Senderfrequenzen siehe in der Homepage. Einen Sender gibt es sogar in Berlin, einen anderen noch irgendwo in Deutschland.
Quelle
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