US-Universitäten: Die seltsame Inflation der Kuschelnoten
In Harvard räumen ungewöhnlich viele Studenten Traumnoten und
Auszeichnungen ab - und sind darüber selbst nicht wirklich glücklich.
Betrug oder tatsächlich Spitzenleistungen? Die renommierte Hochschule
versucht nun, die Inflation der Top-Zensuren zu stoppen.
Von Jochen A. Siegle, San Francisco
Die honorige Harvard-Uni schlittert von einem Skandal in den
nächsten. Vergangenes Frühjahr erst hatten im Zuge der"Living
wage"-Kampagne Dutzende von Studenten tagelang das Verwaltungsgebäude
besetzt. Hintergrund der Belagerung: Einfachen Angestellten zahlt das
Elite-College nur Hungerlöhne, obwohl es zu den reichsten Unis der
Welt zählt.
Wenige Monate später folgte der nächste Eklat: Ende 2001 wechselte
Cornel West, farbiger Starprofessor für Afro-American Studies, nach
Princeton, weil er sich vom Harvard-Präsidenten Lawrence Summers
brüskiert sah. Zahlreiche populäre afro-amerikanische Kollegen zogen
mit. Der Fall schaffte es bis auf die Titelseiten der großen
US-Tageszeitungen - damit ist der Ruf der Kaderschmiede in der"Black
Community" ruiniert.
Traumnotenakrobatik an Elite-Unis
Nun sorgt Harvard erneut für deftige Negativschlagzeilen. Am Pranger
steht die Notenvergabe. Denn die ist augenscheinlich viel zu
schmeichelhaft: Schon seit Jahren schließt mindestens jeder zweite
Harvard-Student sein Studium mit einem"A", sprich"sehr gut", ab. Im
letzten Sommer beendeten sogar 91 Prozent der"Senior Graduates" ihre
Ausbildung mit Auszeichnung. An anderen Top-Unis wie etwa Yale oder
Princeton lagen die Quoten für vorzügliche Abschlüsse im vergangenen
Jahr bei lediglich 40 bis 50 Prozent.
Sind die"Harvardians" nun tatsächlich so viel schlauer als andere
Studenten? Mitnichten, meinen Bildungsforscher der American Academy
of Arts & Sciences: Die Top-Zensuren lägen schlicht am Phänomen der
"Grade Inflation".
Bis in die sechziger Jahre zurück haben die Wissenschaftler um einen
pensionierten Harvard-Dekan die Notenvergabe an US-Unis analysiert
und festgestellt, dass die Zensuren Jahr für Jahr besser wurden. Das
Phänomen ist zwar amerikaweit, doch Top-Zensuren hagelt es besonders
an Elite-Unis. Ganz vorne rangiert Harvard. Die Zeitung"Boston
Globe" bezeichnete die Traumnotenakrobatik spitz als"Harvards
schmutziges kleines Geheimnis".
Unter Studenten und Studieninteressenten spricht sich das schnell
herum: Wer derart gute Zensuren vergibt, macht sich gerade bei den
Eltern beliebt - sie zahlen schließlich die horrenden
Studiengebühren. Ein Jahr Harvard kostet immerhin um die 35.000
US-Dollar. Seit den achtziger Jahren werden die Hochschulen praktisch
wie Unternehmen geführt und stehen daher unter enormem
Konkurrenzdruck.
Die Bildungsforscher der Akademie sehen weitere Faktoren für die
vielen Traumzensuren: So fürchten Professoren, dass ihre Studenten
ihnen die Lehrtätigkeit bei der Evaluation verhageln könnten. Nach
Ansicht von Politikprofessor Harvey Mansfield, schon seit den
siebziger Jahren vehementer Gegner der"Grade Inflation", kommen
psychologische Ursachen hinzu: Seine Kollegen vergäben so gute Noten,
um erfolgsverwöhnte Studenten nicht zu demotivieren. Denn nicht
selten trifft man in den USA Absolventen, die in ihrer gesamten
Schul- und Unilaufbahn nur"Einsen" vorzuweisen haben. Zudem würden
weiße Dozenten es vermeiden, farbigen Studenten schlechte Zensuren zu
geben, meint Mansfield.
Der neue Harvard-Boss räumt auf
Geht es nach Lawrence Summers, ist damit bald Schluss. Die Uni solle
künftig wieder bewusster Höchstnoten vergeben, fordert der neue
Harvard-Boss. Eine fakultätsübergreifende Kommission erarbeitet jetzt
einen Maßnahmenkatalog. Summers hatte auch Cornel West vorgeworfen,
zu positive Zeugnisse auszustellen, worauf es zum Eklat kam.
Summers fürchtet um den guten Ruf der Hochschule. Und selbst
Studenten sehen das vielfach so. Statt sich im Erfolg leicht
verdienter Bestnoten zu sonnen, klagen sie, dass
Harvard-Auszeichnungen mittlerweile gar belächelt werden.
Bei der Jobsuche helfen die guten Zensuren nur bedingt: Ihnen kommt
bei Bewerbungen in den USA eine ganz andere Bedeutung zu als in
Deutschland. So orientieren sich Personalberater und Headhunter im
Silicon Valley mehr an der Berufserfahrungen der Kandidaten als an
Prüfungsergebnissen; bei Berufsanfängern sind oftmals die belegten
Kurse wichtiger als Noten.
Gleichwohl trieb die"New York Times" Fakultätsvertreter und
Studenten aus Harvard auf, die davon ausgehen, dass die Leistungen an
einer der ältesten US-Unis wegen besonders fleißiger Studenten
tatsächlich besser sind als an anderen Hochschulen. Zudem seien die
Harvard-Kurse inzwischen längst nicht mehr so überfüllt wie früher.
Geschichtsprofessor Stephen Greenblatt tutet ins selbe Horn und rühmt
seine Studenten als"absolut erstaunlich" und"geradezu verblüffend
gut."
Inoffizielle Noten, top secret
Ein verkrampfter Versuch, die Inflation der Traumnoten zu
rechtfertigen? Schon seit Jahren kursieren Berichte von
Harvard-Studenten, dass nach der Aufnahmeprüfung der Druck merklich
nachlasse. Mitunter sind die Studenten selbst verblüfft, dass sie
trotz Minimalaufwand hervorragende Noten absahnen. Auch die American
Academy hält die Lehrveranstaltungen für weniger anspruchsvoll als
früher.
Die Kritik an den Schmeichelnoten wächst: Auch die Dekanin Susan
Pedersen hat jetzt dafür plädiert, weniger Belobigungen an
Absolventen zu verleihen. Bislang reichte ein"B-"-Schnitt für eine
Auszeichnung, was einer deutschen"Zwei Minus" entspricht. Künftig
sollen Pedersen zufolge nur noch"A"-Absolventen mit den"Honors"
entlassen werden.
Harvey Mansfield löst das Problem derweil auf seine Weise: Der
Politikwissenschaftler vergibt mittlerweile neben den offiziellen
Zeugnisnoten auch inoffizielle. Und die liegen nach seinen Angaben im
Schnitt bei"C+". Aber davon erfahren nur die Studenten.
http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,183246,00.html
<ul> ~ http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,183246,00.html</ul>
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