...nur ein Beispiel:
Atmen verboten
Von Esther Koppel
Asbest
Biancavilla ist ein großes Dorf, wie es viele am Ätna gibt. Eine hübsche Piazza mit der Kirche und der Bar, einige alte Häuser, die dringend einen neuen Anstrich bräuchten, und drum herum die wild gewachsenen Stadtteile mit breiten aber meist ungepflasterten Straßen, und kleinen und grösseren Wohnhäusern, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren entstanden, oft ohne jegliche Genehmigung und an jedem Bebauungsplan vorbei.
Die Umgebung ist wunderschön und fruchtbar, da der Vulkan seit Jahrtausenden besonders mineralhaltige Erde liefert, auf der die Orangen- und Zitronenbäume wunderbar gedeihen. Das Dorf, das heute knapp 25.000 Einwohner zählt, lebt zum grössten Teil von diesen Plantagen denn Fabriken gibt es in dieser Gegend keine. Fast schon ein kleines Paradies, könnte man sagen. Aber dieser Schein trügt, denn Biancavilla ist vollkommen verseucht mit Asbest.
Das Gift liegt auf der Straße
Der Fall ist in Europa praktisch einzigartig, da man das giftige Material ist nicht etwa in Industrieanlagen findet, sondern es im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße liegt. Nachdem sich die Fälle von Mesatheliom der Pleura, einer besonderen Form von Lungenkrebs, und die allgemeinen Erkrankungen der Atemwege immer mehr häuften, begannen sich Wissenschaftler mit dem Problem zu befassen und fanden dann auch sehr schnell die Ursache: Seit etwa 40 Jahren holen die Einwohner von Biancavilla praktisch ihr gesamtes Baumaterial aus einem Steinbruch, der den bezeichnenden Namen Monte Calvario, Berg des Leidensweges, trägt.
Das Gestein, das sie hier abbauen enthält eine hohe Konzentration von Tremolit, einem asbestähnlichen Mineral. Mit diesem Material wurde Zement und Putz hergestellt, so dass heute gut ein Drittel des gesamten Hausbestandes, Straßen inbegriffen, krebserregende Substanzen enthält.
Biancavilla müsste eigentlich evakuiert werden
Bereits vor vier Jahren beschäftigten sich die nationale Gesundheitsbehörde aber auch die Weltgesundheitsorganisation WHO mit dem „Fall Biancavilla“. Die Gegenmaßnahmen sind eigentlich simpel: Der Ort müsste zumindest teilweise vorübergehend evakuiert werden, um alle betroffenen Häuser und Strassen grundlegend sanieren zu können. Ein Großteil der Gebäude müssten abgerissen werden, bei anderen würde eine fachgerechte Verschalung ausreichen. Die Erde, die die Straßen bedeckt, müsste man abtragen, um dann alle Wege sofort zu asphaltieren. So könnte man erreichen, dass die Fälle von Lungenkrebs, zumindest langfristig wieder abnehmen.
Aber tatsächlich wird in Biancavilla derzeit praktisch gar nichts unternommen. Nach langen Kämpfen ist es dem Bürgermeister gelungen, die verantwortlichen Steinbrüche still zu legen; er hat es auch geschafft, erst die Region Sizilien und dann die Nationalregierung in Rom für sein Problem zu interessieren; beide Institutionen haben Geld versprochen, aber angekommen ist bisher nichts - und keiner weiss so genau warum.
In seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit, hat der Gemeinderat eine Reihe von Verordnungen erlassen: In Biancavilla dürfen die Straßen nicht gefegt, sondern nur mit Wasser gesprengt werden; bei der Hausarbeit soll man Schutzmasken tragen; in den Wohnungen soll man keinen Besen sondern nur nasse Tücher zur Bodenreinigung benutzen; und wer unbedingt einen Nagel in die Wand schlagen muss, der soll sie zumindest vorher anfeuchten. Aber eigentlich gibt es nur eine Regel, die man beachten müsste, um in Biancavilla nicht an Lungenkrebs zu erkranken: Atmen verboten.
Text: @kre 10.3.2002 faz
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