Popeye
05.06.2002, 09:09 |
FAZ Kommentar zur FDP, Möllemann und der Antisemitismus-Debatte Thread gesperrt |
Kamel und Nadelöhr
Von Volker Zastrow
Jeder weiß aus dem Privatleben, daß Streit zerstörerisch sein
kann, aber auch konstruktiv. In der Demokratie genießt der
Streit sogar Verfassungsrang: Das formalisierte Ringen um
Entscheidungen bedeutet nichts anderes als Zivilisierung der
Macht durch Institutionalisierung des Streits. Es gibt aber auch
in der Demokratie den zerstörerischen, unzivilisierten Streit, in
dem der politische Gegner keine Achtung mehr genießt und es
nur mehr um die bloße Macht geht, um unbedingten Sieg oder
bedingungslose Niederlage, und in dem die Streitenden
erblinden für die längerfristigen Folgen ihres Handelns. Das
beschreibt die Möllemann/Karsli-Affäre, von der zur Zeit nicht
zu sagen ist, ob sie Voraussetzungen für Rechtspopulismus in
Deutschland schmälert oder schafft.
Woran erkennt man zerstörerischen Streit? Das sichere
Merkmal ist, daß alles Trachten der Streitenden darauf
ausgerichtet ist, die Basis der Gemeinsamkeiten zu zerstören.
Typischerweise werden Aussagen des Gegenübers nicht mehr
ernst, schließlich nicht einmal mehr wahrgenommen, sondern
im Diskurs sogleich kongenial verschärft. Aus Möllemanns
Attacke, Friedman verschaffe mit seiner"untoleranten,
gehässigen Art" den"Antisemiten Zulauf" - ein Vorwurf, der
sogleich auf ihn zurückfiel -, sind inzwischen schon überall
"antisemitische Äußerungen" geworden. Ist diese
Vereinfachung zulässig? Das Nazi-Wort, zunächst vom
nordrhein-westfälischen Grünen-Abgeordneten Karsli
ausgegraben, wird jetzt vom thüringischen Ministerpräsidenten
Bernhard Vogel (CDU) auf Möllemann gemünzt und dessen
angeblichen"Nazi-Vorwurf, die Juden seien schuld am
Antisemitismus". Hat Möllemann das gesagt? Gemeint?
Der destruktive Streit will nicht differenzieren. Jetzt geht es
darum, ob"antijüdische Ressentiments in Deutschland
salonfähig gemacht" werden dürfen (Jürgen Rüttgers, CDU),
um eine Auseinandersetzung zwischen"Möllemann und den
Demokraten" beziehungsweise einen"Streit zwischen der FDP
und der ganzen Bevölkerung" (Paul Spiegel), um einen
"Paradigmenwechsel der deutschen Politik" schlechthin (Franz
Müntefering, SPD). Und von der betroffenen Miene so
manchen Politikers trieft die Genugtuung. Denn man weiß, daß
die Lage keineswegs hoffnungslos ist, vielleicht nicht einmal
ernst - und daß es in Wahrheit nicht um Paradigmen der Politik
geht, sondern um den Trotz eines Mannes.
Der Streit aber gehorcht eigenen Gesetzen. Natürlich kann man
fragen, was er noch mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber das
führt nicht weiter, weil weder über den Anlaß, den Grund noch
den Gegenstand Einvernehmen herrscht. Der Streit selbst ist
jetzt die Realität. Dabei stehen nicht etwa gleich starke Parteien
gegeneinander, sondern in verquerer Symbolik eine einzelne
Gestalt - der angeblich"nicht druckempfindliche" Möllemann -
gegen den Rest der Welt, die sich halb ziehend, halb hinsinkend
formiert. Möllemann wird zum Ungeziefer stilisiert; nicht
einmal mehr zum Kamel taugt er noch, und deshalb werden
jetzt die letzten Nadelöhre verstopft, durch die er noch gestern
hätte gehen oder kriechen können.
Möllemann hat seinen Fehler eingestanden. Was wäre unter
dem gegenwärtigen Druck eine darüber hinausgehende Bitte
um Verzeihung wert? Auch dieser symbolische Streit über die
Entschuldigung offenbart das Aufgebauschte der ganzen
Sache: Von Antisemiten Entschuldigungen zu verlangen wäre
lächerlich. Denen muß man ganz anders begegnen. Was den
Rechtspopulismus betrifft, hat sich Möllemann wiederholt
dagegen, insbesondere gegen Haider, verwahrt. Ungefähr
vorgestern, das nur zur Erinnerung, galt er noch als
Linksliberaler.
Wegen alldem muß man ihn nicht mögen. Aber ihn jetzt
abschießen? Westerwelle hat, nüchtern betrachtet, ja zwei
Probleme: daß er über Möllemanns Eigensinn, dem er unter
anderem den Vorsitz mitverdankt, sowenig herrschen kann wie
über den anderer führender Freier Demokraten der älteren
Generation. Westerwelle wurde genötigt, in eine Machtprobe
mit Möllemann zu ziehen, deren Ausgang - ein Patt mit
gegenseitiger Beschädigung - nicht schwer vorherzusehen war.
Deshalb hat er selbst die Probe auch nicht gesucht. Das war
ihm deutlich anzumerken. Und sein"Ich habe
entschieden"-Getue war eben unverkennbar Getue.
Wenn die FDP ihren Vorsitzenden, der objektiv überfordert und
bereits empfindlich beschädigt ist, nicht ganz zerschreddern
will, dann muß sie schleunigst ihre Reihen schließen. Das kann
sie, wenn sie es kann, nur indem sie sich den destruktiven
Streitritualen verweigert, die derzeit vor allem gegen sie wirken.
Am Anfang ging es noch darum, die Freien Demokraten als
Koalitionspartner für die Sozialdemokraten unmöglich zu
machen - Fischers Kalkül. Jetzt ist, mit der Verselbständigung
des Streits, die Schraube weitergedreht. Die FDP soll auch als
Koalitionspartner für die Union erledigt werden - Münteferings
und Strucks Bestreben. Und drittens geht es schlicht und
einfach darum, die Volkspartei-Ambitionen der FDP mit der
Gegenstrategie einer nachhaltigen öffentlichen Rufschädigung
zu durchkreuzen. Die Union hält schon gehörigen
Sicherheitsabstand.
Sie weiß aus Erfahrung: Die moralische Denunziation des
politischen Gegners ist für SPD, Grüne und PDS ein
unentbehrliches legitimatorisches Element, um das strukturelle
Defizit auszugleichen, das der Linken die Erlangung einer
Stimmenmehrheit in Deutschland erschwert. Nachdem alle
anderen Wahlkampfthemen mit sachlich ernstem Bezug -
einschließlich der weitreichenden Gedankenspiele einer
deutschen Nahostpolitik - sich schon vor der Sommerpause für
Schröder erschöpft hatten, ist ihm nun der
Antisemitismus-Streit wie ein Geschenk in den Schoß gefallen.
Jetzt geht es nicht mehr um Sachentscheidungen, sondern um
Diskursmacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.2002, Nr. 127 / Seite 1
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Henning
05.06.2002, 09:40
@ Popeye
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Re: Eine treffende Analyse (owT) |
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Taktiker
05.06.2002, 10:02
@ Popeye
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nicht so schlüssig! |
Nicht schlecht erkannt, aber auch nicht besonders erhellend. Der Artikel bleibt noch einiges schuldig:
- Wieso zieht sich die Union dermaßen zurück, wo ihr der Koalitionspartner öffentlich madig gemacht wird?
- Wieso duldet die Union, dass ihr nationalkonservative Wähler weggefischt werden? Wieso kontert die Union nicht mit einem Friedman-kritischen Tremolo, um diese Wähler zu halten?
Und vor allem:
- Wieso macht sich die SPD ihren eigenen pot.Koalitionspartner FDP unmöglich? Aktuell wahrscheinlich, dass RotGrün keine Mehrheit bekommt, RotGelb aber reichen sollte.
Dass Struck, Müntefering und Schröder ehedem linksliberale bzw. zur FDP gewechselte Ex-SPD-Wähler für sich mobilisieren wollen, leuchtet ein. Aber die SPD bildet sich doch nicht etwa ein, damit Stimmen aus dem Grünen- und PDS-Lager zu holen?! Zudem besteht das Risiko, dass nationalliberale Wähler (und das sind nicht wenige) sich völlig von der SPD abwenden. Zur Erinnerung: Die Sympathie für Möllemann bzw. die Abneigung gegen den Stil Friedmans sind in der Bevölkerung kräftig vorhanden.
Nach meiner Meinung kann die FDP bei der Sache kaum verlieren. Die paar verlorenen linksliberalen Stammwähler werden ihr kaum schaden, aber in Zeiten der wachsenden Wut ggü den manierierten und korrupten Moralaposteln der"Volksparteien" macht sich der Geruch der Bodenständigkeit sehr gut. Wenn Möllemann richtig loslegen würde, könnte er ungeahnt große Wählerpotenziale mobilisieren.
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le chat
05.06.2002, 10:30
@ Popeye
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Manche sind eben doch gleicher als andere |
Hallo Freunde,
was wäre wenn?
Sich zum Beispiel Möllemann so aufführen würde wie Friedmann Talkshows macht.
Oder, oder oder.
Einfach mal gedanklich die Seiten wechseln und die Akteure austauschen.
Auch zum Beispiel die Kontrahenten in Israel- Palestina.
Auch Spiegels Worte passend zum Flüchtlingslager.
Was der eine tut darf der andere nicht.
Und bei allem stellt sich die Frage: Wem nützt das?
Wie beim Schachspiel, ein paar Züge vorausdenken. Und mir graust.
beste Grüsse
le chat
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Henning
05.06.2002, 10:41
@ Taktiker
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Re: nicht so schlüssig! |
>- Wieso zieht sich die Union dermaßen zurück, wo ihr der Koalitionspartner öffentlich madig gemacht wird?
Die Union tut eigentlich schon ihr möglichstes - sie versuch den Ball flach
zu halten ;) Sonst würde sie auch in die Schußbahn der aufgehetzten Medien
geraten,
>- Wieso duldet die Union, dass ihr nationalkonservative Wähler weggefischt werden? Wieso kontert die Union nicht mit einem Friedman-kritischen Tremolo, um diese Wähler zu halten?
Na, die Union hat das Problem das Friedmann CDU Mitglied ist ;) das wäre ja
nur selbstkasteiung.
>Und vor allem:
>- Wieso macht sich die SPD ihren eigenen pot.Koalitionspartner FDP unmöglich?
Bis zum September ist noch alles drin - mehr als hundert Tage - solange hält
das Thema nicht mehr. Auch sind die Aussagen etwas schwammig.
Im allgemeinen ist es der SPD recht wenn die FDP klein bleibt. Man bedenke
auch das die konstellation SPD/FDP eher unwahrscheinlich ist - die wird es
nur geben wenn Union/FDP keine Mehrheit haben.
Aktuell wahrscheinlich, dass RotGrün keine Mehrheit bekommt, RotGelb aber reichen sollte.
>Dass Struck, Müntefering und Schröder ehedem linksliberale bzw. zur FDP gewechselte Ex-SPD-Wähler für sich mobilisieren wollen, leuchtet ein. Aber die SPD bildet sich doch nicht etwa ein, damit Stimmen aus dem Grünen- und PDS-Lager zu holen?! Zudem besteht das Risiko, dass nationalliberale Wähler (und das sind nicht wenige) sich völlig von der SPD abwenden. Zur Erinnerung: Die Sympathie für Möllemann bzw. die Abneigung gegen den Stil Friedmans sind in der Bevölkerung kräftig vorhanden.
>Nach meiner Meinung kann die FDP bei der Sache kaum verlieren. Die paar verlorenen linksliberalen Stammwähler werden ihr kaum schaden, aber in Zeiten der wachsenden Wut ggü den manierierten und korrupten Moralaposteln der"Volksparteien" macht sich der Geruch der Bodenständigkeit sehr gut. Wenn Möllemann richtig loslegen würde, könnte er ungeahnt große Wählerpotenziale mobilisieren.
Ich denke die SPD schätzt die Lage nicht richtig ein - das Antisemitismus
geschreie wird in der anonymen Wahlkabine seinen niederschlag finden.
(ein grund warum die FDP in der letzten Umfrage abgesackt ist das die
befragten nicht anonym wahren ;))
CU
henning
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Emerald
05.06.2002, 10:51
@ Henning
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Re: nicht so schlüssig! |
jede Partei hat so ihre schatten-werfenden Mitglieder:
CDU den Herrn Friedmann und die
FDP den Herrn Karsli (noch nicht ganz sicher, aber auch nicht mehr so unsicher).
Im Wahljahr sind solche 'Kontra-Punkte ' so oder so abwechslungsreich und
strategisch unberechenbar!
Die Kulissen-Schieber werden jedenfalls nicht arbeitslos.
Emerald.
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Josef
05.06.2002, 12:30
@ Henning
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Zitat:"Schussbahn der aufgehetzten Medien":Warum hat denn die CDU Angst davor? |
Warum schafft sich die CDU nicht ihre eigene Medienbasis?
Frueher gab es den Rheinischen Merkur. Ist der jetzt auch der Hand eines
zionistisch orientierten Konzerns?
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Henning
05.06.2002, 12:35
@ Josef
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Re: schweigsame CDU |
>Warum schafft sich die CDU nicht ihre eigene Medienbasis?
>Frueher gab es den Rheinischen Merkur. Ist der jetzt auch der Hand eines
>zionistisch orientierten Konzerns?
Ich denke die CDU will nicht in die Schußbahn weil sie Stoiber als einen
Mann der Mitte aufbauen wollen - wenn sie sich jetzt zu weit nach rechts
wagen ist es das worauf die SPD schon seit Monaten wartet - nämlich Stoiber
eine braune Gesinnung anhängen.
Mein Eindruck jedenfalls...
CU
henning
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