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<h1>Auf E</h1>
»Europas Eliten« machen dicht, ohne daß sie es sind - Resümee einer Diskussionsrunde
Vergangener Dienstag, die Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland hatte zur Diskussionsrunde in das Berliner Tempodrom geladen. Motto: »Europas Eliten - Wer kommt nach oben?« So postuliert man soziale Dynamik: Es geht nach oben.
Ein dynamischer Clown im billigen grauen Anzug stimmt das Publikum ein: »Es freut mich, daß heute so viele Jüngere da sind, die dort einmal hin wollen.« Er zeigt nach oben auf die Europafahnen im romantischen Gelb-Blau des liberalen Paradieses, nach oben auf das lächerliche Label mit dem Titel der Veranstaltungsreihe »tonart.E«, ganz nach oben auf die noch leeren Polstersessel, auf denen sie gleich anfangen werden zu diskutieren: Prof. Dr. Helene Harth, Präsidentin der Deutsch-Französischen Universität, Dr. Roland Kaehlbrandt, Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertiestiftung, Ministerialdirektor Wolfgang Nowak, Leiter des Referats politische Analysen und Grundsatzfragen im Bundeskanzleramt, und schließlich Moderator Christoph Lanz, Fernsehdirektor des Deutsche Welle-TV und irgendwas bei der Frankfurter Rundschau.
Geredet wird über Europa - diesmal nicht über Agrarsubventionen und Folgen der Währungsunion, sondern »über die alltäglich erfahrene Lebenswelt«, sagt der Clown, »wie beim ersten Teil unserer Reihe - Europas Seele mit Christoph Stölzl«. Die alltägliche Erfahrung der Seele und ihrer Eliten im Zeichen des E? Das fängt gut an. Sie versuchen erst gar nicht zu verbergen, daß sie nicht mehr ganz dicht sind: E für Europa, Elite, Ecstasy-Design für die Seele. Oder auch Es-Dur, »der Tonart für Lungenkranke«, wie Hans Henny Jahnn sagte, der große Elitezüchter unter den Schriftstellern. Da wollen wir hin: Zum E, zur redenden Elite, werden aber zunächst von der Improvisationstheatergruppe Raumstation hingehalten wie auf einem Polterabend der Rotarier: »Wie war es denn bei Ihnen in der Schule? Was gelernt?« - Och ja, kann nicht klagen, pädagogische Sonderbetreuung, nach dem finnischen Modell bestens durchorganisiert. Ich kann schneller rechnen als ein Schleswig-Holsteiner (nicht die Pferde, sondern die Deutschlandbesten der PISA-Studie), nur über die Herstellung und Anwendung von Plastiksprengstoff hätte ich mir noch detailliertere Informationen gewünscht.
Die Raumstation bestimmt mit Hilfe des Publikums die Eigenschaften der Elite: »Eine wissensdurstige, ehrgeizige Person, die Spaß an der Arbeit hat« - wie etwa ein polnischer Fahrstuhlführer. Die Stimmung wird ausgelassener. Wir sind schließlich mitten in Kreuzberg. Ein Graffito am U-Bahnhof Kottbusser Tor lautet: »Europa, immer noch am Essen und Reden«. Hier in Kreuzberg, sagt Christoph Lanz, hätte es noch vor 20 Jahren beim Stichwort Elite Eier und Tomaten gehagelt. Das ist jetzt, nur wenige Steinwürfe vom Willy-Brandt-Haus entfernt, nicht mehr so. Wolfgang Nowak vom Kanzleramt lacht, bis sein Gesicht die gesunde Farbe seiner rotbraunen Socken annimmt. Die Stimmung wird noch ausgelassener. Über Legitimation muß man nicht mehr reden, reine Zeitverschwendung, der neue Autoritarismus ist locker, er lacht sich eins mit uns. Und Nowak, Chefdenker eines der sechs Schröder-Think-tanks, ist besonders locker. »Wissen Sie, wenn man sich jahrelang mit Lehrerverbänden auseinandersetzen muß, wird man ohne Humor entweder aggressiv oder depressiv.« Ein begnadeter Scherzkeks. Alle lieben ihn.
Mich überkommt die Scham der Faust in der Tasche. Ich hätte so gern einen bitteren Ernst, der mir was von den sozioökonomischen Fakten erzählt, welcher Teil der Bevölkerung (welche Leute, welche Familien) wieviel Prozent des Bruttosozialproduktes kontrolliert. Aber das ist unmöglich, die nehmen sich ja selbst kein bißchen ernst mehr. »Wissen Sie«, sagt Nowak, »für mich gehört Franz Beckenbauer nicht zur Elite. Deutschland ist ein Land der unsichtbaren Eliten« (Logen? Jean Paul?). Zur Förderung der Kommunikation zwischen den einzelnen Eliten, die isoliert sind, unsichtbar und nicht mehr miteinander reden, hat Nowak eine spezielle Task force ins Leben gerufen. Sein Vorbild ist offensichtlich Karl-Heinz Rummenigge.
Mit dem Wissen um seine Unsichtbarkeit beruhigt sich das Podium etwas. Es wird über bildungspolitische Fragen geredet (mit einem Volk von Analphabeten kann man in der Wissensgesellschaft schließlich schlecht die Welt beherrschen); über »das Verkennen der Degeneration« in den relativ abgeschlossenen französischen Eliten; über den Spaß, den man beim Studium in Italien, Frankreich, England hatte; und darüber, wie man so einen Job bekommt, wie die, die da reden, ihn haben: »Man muß einfach neugierig sein« (Nowak).
Frau Helene Harth hätte zwar sicher gern mehr von ihrer »virtuellen Akademie« geredet, auf der die Ingenieure nützlicher sind als die Philologen, aber sie darf das nicht, vielleicht weil sie eine Frau ist. Statt dessen stellt Dr. Kaehlbrandt von Hertie - soweit der Konzern sich um Hirnforschung, europäische Integration, Erziehung zur Demokratie, Beruf und Familie kümmert - fest, daß die Elite Grenzgänger braucht: interkulturell, interdisziplinär, interkommunikativ. Kein Zweifel: Sie besteht aus witzigen akademischen Kosmopoliten. Für die Ausbildung bigotter Proleten schmeißen wir keinen roten Heller raus, daß das klar ist! Wer 100 Euro Bildungsgeld, einen Gratis-PC und eine Hertie-Kundenkarte von der Stiftung bekommen will, muß nicht nur Migrant aus Osteuropa sein und ordentlich Deutsch können, sondern auch »brennen für die europäische Idee«. So wie an einem beschwingten Nachmittag in einem der vielen Think tanks im Kanzleramt: Nachdenken über Grundsatzfragen tagein, tagaus, und dabei immer neugierig und interkulturell bleiben: »harte Arbeit« (Nowak).
Soweit alles okay. Nur was vertreten diese Leute eigentlich? Was verteidigen sie? Ganz offensichtlich nichts. Es stellt sie allerdings auch niemand in Frage. Alles nimmt seinen Lauf. Den gewöhnlichen Lauf der Dinge mit seiner nicht mehr verleumdeten Ungerechtigkeit und seiner verhuschten Obszönität, wenn das Wissen um die Haltlosigkeit des Geredes sich zum Ansatz eines weiteren dummen, bösen Lachens in die Mundwinkel einzeichnet.
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Der Mann hat was. Wirkt sehr positiv, und das kommt va bei Jungen gut an. Die große Schwachstelle erkennt man jedoch erst aus der Distanz: Er mag zwar sehr gescheit sein, aber er trägt für nichts und niemand Verantwortung. Würde sein Posten eingespart, würde unter Garantie niemand was abgehen.
Und da sind wir auch schon an einem der (bereits gerstern erwähnten) vielen Schlüssel, um das herrschende Illusionsgebilde als solches zu erkennen. Wohin anders als in die völlige Verlogenheit soll ein"System" führen, wo die (zumindest nach aussen) massgeblichen Personen nicht wirklich verantwortlich, persönlich haftbar sind für ihr folgenschweres Tun bzw. Nicht-Tun? Wer glaubt, dies wäre mit ein paar"gesellschaftspolitischen Handgriffen" in den Griff zu kriegen, hat das Problem, dass es in zig Staaten aber-zigmal versucht wurde und nirgends jemals zu lösen war.
Weder durch mehr"Kollektivierung" noch durch mehr"Privatisierung". Ersteres verschlimmerte den Outcome ins Astronomische, letzteres konnte innerhalb der"realistischen Grenzen" immer nur zu noch verlogeneren Ergebnissen führen.
Warum dies auch gar nicht anders geht (sofern wir nicht einmal gedanklich das"System" zu verlassen imstande sind), das hat dottore messerscharf dargelegt. Mir kommt vor, die enorme Sprengkraft seiner Theorie ist den Wenigsten hier wirklich bewusst geworden.
Nächtlicher Gruß vom Silberadler
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