Herausbildung der Warengesellschaft im antiken Griechenland
1. Das kurze griechische Wirtschaftswunder
Über die Anfänge seines Volks, die ungefähr ins 12. Jahrhundert vor Chr. zurückreichen, schrieb der Grieche Thukydides an der Wende zum 4. Jahrhundert v. Chr.: „Handel gab es nicht sowie keinen gesicherten Verkehr, weder zu Lande noch zu Wasser; alle nutzten ihr Gebiet nur, um gerade davon zu leben, sie hatten keinen Überschuß an Gütern und bebauten das Land nicht mit Baumfrüchten, da unsicher war, ob nicht ein anderer kommen und alles wegnehmen würde, zumal auch nichts befestigt war. Da sie glaubten, die Tag für Tag notwendige Nahrung überall beschaffen zu können, wanderten sie ohne Bedenken aus, und deswegen waren sie weder durch Größe der Städte noch durch ein anderes Mittel stark.“ (Thukydides 1,2)
Andere Völker in Asien, in Ägypten und im fernen Osten kannten zu der Zeit, von der Thukydides berichtet, längst Fernhandel zu Lande und zu See wie befestigte und große Städte. Seit Beginn der Eisenzeit hatten Nomadenvölker wiederholt versucht, sich den Reichtum dieser hochentwickelten Bronzekulturen des Ostens durch direkte Eroberung anzueignen. Das Hethiterreich in Kleinasien wird durch einen solchen Angriff zerstört. Ein Angriff der in den Quellen so genannten „Seevölker“ aus dem Norden konnte von den Ägyptern nur mühsam abgewehrt werden. Ob diese frühen Eroberervölker nun siegten oder unterlagen, sie haben kaum Spuren hinterlassen.
Die als halbsesshafte Wandervölker lebenden frühen Griechen dagegen besaßen nicht die Stärke für einen geschlossenen militärischen Vorstoß in die orientalischen Hochkulturen. Sie setzten sich statt dessen in kleinen Gruppen weit zerstreut am Rande dieser alten Kulturwelt fest, was Platon der Lebensweise von Ameisen oder Fröschen um einem Teich verglich: „Wir wohnen nur in einem kleinen Teil der Erde von Phasis (an der Ostküste des Schwarzen Meeres) bis zu den Säulen des Herakles (Straße von Gibraltar), rings um das Meer, so wie Ameisen oder Frösche um einen Tümpel herum.“ (Platon, Phaidon 109 B, zit. n. Finley, Wirtschaft, S. 26) Durch diese weite Streuung konnten sich die Griechen die verschiedensten geistigen, technischen und wirtschaftlichen Leistungen nutzbar machen. Viele alte griechische Fachwörter aus Landwirtschaft und Technik und der Mathematik sind Lehnwörter aus Sprachen Kretas, Kleinasiens, Syriens, Mesopotamiens und Ägyptens (Heichelheim I., S. 206).
Erst im 9. Jahrhundert v. Chr. übernahmen die Griechen die semitische Schrift von den seefahrenden Phöniziern und paßten sie ihrem indoeuropäischen Sprachtyp an und schon zweihundert Jahre später hatte Homer seine großen Epen niedergeschrieben, die in Europa bis ins 19. Jahrhundert als Gipfel der Weltliteratur galten. Wie explosiv der griechische Aufstieg war, läßt sich an der Geschichte der Stadt Korinth ablesen. Archäologische Funde aus der Zeit von 850 v. Chr. weisen auf bäuerliche Siedler hin, die kaum über auswärtige Kontakte oder besondere handwerklichen Fertigkeiten verfügen. Doch in Fundschichten aus der Zeit ab 750 v. Chr. wurden plötzlich Luxusgüter aus dem reichen Osten gefunden: Gewandnadeln (die zugehörigen edlen Stoffe sind verrottet), Elfenbeinschnitzereien, Skarabäen aus Ägypten (als verzierte Stempel oder Amulette) und importierte Vasen. Korinth wurde für ein Jahrhundert die reichste Stadt Griechenlands mit dem wichtigsten Fernhafen und Seeverbindungen in den reichen Osten wie in den noch rückständigen Westen (vgl. Murray, S. 187).
Die koloniale und wirtschaftliche Expansion der Griechen verlor im 6. Jahrhundert v. Chr. ihre Kraft. Als um das Jahr 520 v. Chr. zum letzten Mal eine größere Gruppe von Spartanern und anderen Griechen versuchte, eine Kolonistenstadt an der nordafrikanischen Küste zu gründen, wurden sie von dort vertrieben. Sie flüchteten nach Süditalien und Sizilien und wurden dort von phönizischen Konkurrenten aufgerieben (vgl. Murray, S. 327).
Es folgte die erfolgreiche griechische Defensive gegen die Perser und das „klassische“ Jahrhundert Griechenlands. Dann begann schon ein schneller Abstieg. Scheinbar verbreiteten die Eroberungszüge Alexanders griechische Sprache und griechischen Geist über die halbe damals bekannte Welt, aber dieser Makedonenkönig benutzte Griechenland nur als Sprungbrett für seine Eroberungen und in seinem mehr orientalisch als griechisch organisierten Reich fanden selbstbewußte und selbstverwaltete griechische Städte keinen Platz. Im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. war das griechische „Mutterland“ der „schwächste und am wenigsten gefestigte Teil der hellenischen Welt“ (Rost. S. 759). Griechenland befand sich wieder in einer geopolitischen Randzone wie vierhundert Jahre vorher. Randzone war es von den beiden damaligen Machtzentren aus gesehen: Von den Römern im Westen und den hellenistisch-orientalischen Reichen im Osten.
Mit dem Schwert in der Hand hatten sich die Römer zu Erben dieser griechisch beeinflußten Welt gemacht. Nachdem mehrere römische Heere und viele Statthalter und Steuereintreiber Griechenland gründlich geplündert hatten, nannten sie die Griechen verächtlich „Griechlein“ (graeculi) und sahen in ihnen nur noch Lieferanten von Antiquitäten, Schulbüchern und Schullehrern.
Erst in der italienischen Renaissance und mit großer Verspätung auf deutschem Boden in der deutschen Klassik wurden die Griechen und ihre Kultur wieder geschätzt. In den Geburtsstunden der kapitalistischen Warenproduktion suchte das aufkommende Bürgertum in der griechischen Geschichte Vorbild und Ermutigung. Tatsächlich hatte sich vor den Griechen noch keine Gesellschaft so weitgehend auf Warenproduktion und Warenzirkulation gestützt. Karl Marx bezeichnete das kurze klassische Jahrhundert Griechenlands sogar als „die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet“ ist (K. Marx, Grundrisse S. 31).
In der universitären Geschichtswissenschaft ist die Einschätzung der griechischen Geschichte dagegen umstritten. Eine frühe wissenschaftliche Richtung, am bekanntesten sind vielleicht die als ‚Modernisten‘ bezeichneten Eduard Meyer und Michael Rostovtzeff, betont in der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft vor allem die Gemeinsamkeiten zum heutigen Kapitalismus. Sie sprechen z. B. von einer griechischen Bourgeoisie und von industriellem Kapital.
Das hat den Widerspruch der sogenannten „Primitivisten“ vor allem durch Max Weber, J. Hasebroek und Finley herausgefordert, die die Unterschiede der griechischen Verhältnisse zur heutigen Zeit betonten.
Ich denke, „Modernisten“ wie die „Primitivisten“ sind beide im Recht wie im Unrecht: Die griechische Gesellschaft war sehr „modern“ im Vergleich zu den Bronze-Hochkulturen des Ostens und als historischer Ausgangspunkt einer arbeitsteiligen Gesellschaft, die zunehmend Waren für den Austausch produzierte. Gleichzeitig blieb sie doch überwiegend noch auf Selbstversorgung ausgerichtet, also „primitiv“ im Vergleich zum modernen Kapitalismus, der ganz und gar auf arbeitsteilige Warenproduktion gegründet ist.
Die „moderne“ wie die „primitivistische“ Sichtweise, auch wenn sie sich scheinbar ausschließend als „Entweder - Oder“ gegenüberstehen, haben noch den Entwicklungsgedanken zur Grundlage: Sie sind sich darin einig, daß die historische Entwicklung das antike Griechenland mit unserer heutigen Zeit verbindet. Sie streiten sich gewissermaßen über die Länge des Weges, die die Geschichte seit der Antike bis heute zurückgelegt hat.
Dagegen will sich eine dritte, neueste, Position des „Weder-Noch“ von dem Entwicklungsgedanken in der Geschichte verabschieden (vgl. Austin, Michel u. Vidal-Naquet Pierre: Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland. München 1984.). Ihre Vertreter studieren die Besonderheiten der griechischen Wirtschaft und Kultur wie eine exotische Tierart und versichern dabei ohne große Überzeugungskraft, es sei unmöglich, dieser ausgestorbenen Tierart einen bestimmten Platz in der allgemeinen biologischen Evolution bzw. der Evolution der menschlichen Gesellschaft zuzuweisen.
Der Entwicklungsgedanke in der Geschichte geht auf Hegel zurück und ist - mindestens dem Anspruch nach - auch allen marxistischen Richtungen gemeinsam. Wo Marxisten die westliche universitäre Geschichtswissenschaft pauschal angriffen, blieben sie jedoch im Detail immer von den Forschungsergebnissen der „bürgerlichen“ Wissenschaft abhängig.
Das DDR-Standardwerk „Griechische Geschichte“ (Kreissig, Heinz u.a.: Griechische Geschichte bis 146 v. u. Z. 4. Aufl. Berlin 1991) verzichtet zwar auf Polemik, aber es beginnt seine Darstellung mit einer methodologischen Debatte darüber, was Marx alles mit dem Begriff „asiatische Produktionsweise“ gemeint haben könnte.
Für eine solche Wissenschaft gilt dasselbe, was Galilei an Kepler über seine theologischen Widersacher schrieb: „Diese Gattung Leute glaubt... man müsse die Wahrheit nicht... in der Natur suchen, sondern (ich gebrauche ihre eigenen Worte) in der Vergleichung der Texte!“ (Brief vom 19. August 1610, zit. nach Gebler, Karl von: Galileo Galilei und die Römische Kurie. 1875. Nachdruck Essen o. J.) Marx selber hatte nie ein gläubiges Verhältnis zu seinen eigenen Schriften oder zu denen eines Anderen und suchte die Wahrheit im Studium der Wirklichkeit. Er konnte daher von sich sagen, daß er kein „Marxist“ ist. (MEW 21, S. 617, Anm. 462) Sein Hauptwerk, das „Kapital“, übergab er den Lesern mit dem Satz: „Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen.“ (Vorwort zur ersten Auflage des „Kapital“, MEW 23, S. 17.)
Natürlich finden Schriftgelehrte in jeder heiligen Schrift genügend Widersprüche und Anlaß zu Streit und Wichtigtuerei. Irgendwann genügt es für „marxistische Theoretiker“ nicht mehr, nur die heiligen Texte zu kennen. Sie müssen sich durch immer neue Interpretationen hindurcharbeiten, die sich alle gegenseitig für falsch und ketzerisch erklären. Da bleibt den kämpferischen Marxisten-Leninisten nur noch eine sichere Basis: ein Standpunkt.
„Ein Hauptgeheimnis der kritischen Kritik ist der ‚Standpunkt‘ und die Beurteilung vom Standpunkt des Standpunktes. Jeder Mensch wie jedes geistige Produkt verwandelt sich ihr in einen Standpunkt.“ (K. Marx: Die heilige Familie, MEW 2, S. 203). Nicht die Erfahrung, nicht die Wissenschaft, nur der „richtige Standpunkt“ garantiert dann die richtige Erkenntnis.
Damit aber der unvermeidliche Wespenschwarm von Widersprüchen, der die komplizierte wirkliche Welt mehr noch als die Welt der Texte und ihrer Interpretationen bevölkert, nicht auf das Feld der Standpunkte übergreift, müssen die vielen möglichen Standpunkte auf bloße zwei reduziert werden: Den richtigen (Klassen)Standpunkt und den falschen.
So führt ein direkter Weg von der Fülle der Analysen und ihrer theoretischen Verarbeitung eines Karl Marx zu den Marxisten-Leninisten, die gar nichts mehr zu wissen brauchen, weil sie den richtigen Standpunkt haben.
(wird fortgesetzt)
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