-->Viele haben den Ernst der Lage nicht erkannt
Ungewißheit an der Elbe, Entspannung im Erzgebirge / Appelle an die Solidarität aller Deutschen / Von Reiner Burger
DRESDEN, 14. August. Gegen zwölf Uhr am Mittwoch gibt das Dresdner Rathaus eine handschriftliche Presseinformation heraus, in der die Verwaltung der Landeshauptstadt mitteilt, der Damm der Talsperre Malter unweit Dresdens sei gebrochen. Die Wassermassen der Weißeritz bewegten sich als gewaltige Flutwelle auf Dresden zu. Sofort verbreiten Radiostationen die Schreckensnachricht; Tausende Menschen aus den Stadtteilen entlang des Flusses verlassen in Panik ihre Häuser und suchen in den höhergelegenen Ausläufern des Erzgebirges Zuflucht. Doch wie sich nur eine halbe Stunde später herausstellt, ist die Information glücklicherweise falsch. Mehrere Fachleute begutachten die Talsperre und können keine Schäden feststellen. Wirtschaftsminister Martin Gillo eilt im Auftrag des Ministerpräsidenten, der zu dieser Zeit gemeinsam mit Bundeskanzler Schröder (SPD) das ebenfalls vom Hochwasser stark betroffene Grimma besucht, zu den Menschen nach Freital an die Weißeritz und dann flußaufwärts zu dem Bauwerk. Damit die Bevölkerung den Behörden auch wirklich glaube, zieht man einen unbeteiligten Bürger hinzu, der per Zufallsprinzip aus dem Telefonbuch ermittelt worden war. Auch er bestätigt: Zwar überfließt die Weißeritz nach wie vor unkontrolliert die Sperre, doch der Damm ist intakt.
Die Nerven im vom Hochwasser arg gebeutelten Dresden liegen nach fast drei Tagen und Nächten Dauereinsatz mittlerweile selbst bei manchem Verantwortlichen blank. Für den Chef der sächsischen Staatskanzlei, Stanislaw Tillich (CDU) ist das nicht zu entschuldigen. Erregt spricht er von einer"unverantwortlichen, wenn nicht sogar verbrecherischen" Mitteilung und forderte die Stadt auf, binnen zwölf Stunden zu klären, von wem sie stammt.
Die Staatsregierung befürchtet, daß die Menschen durch solche Falschmeldungen abstumpfen und sich in trügerischer Sicherheit wiegen, sich vielleicht sogar der Evakuierung ihrer Viertel widersetzen könnten. Denn tatsächlich hat sich zwar die Hochwasserlage an der Weißeritz wie auch an anderen Elbezuflüssen deutlich entspannt. Die Pegelstände sind auch im Erzgebirge überall zurückgegangen; die Weißeritz, die am Dienstag weite Teile der Stadt überflutet hatte, ist an den meisten Stellen wieder in ihr Bett zurückgekehrt. Vor dem sächsischen Landtag, wo sie gestern noch tosend in die Elbe mündete, ist am Mittwoch nur noch eine große Pfütze geblieben. Doch nun droht - anders als in den vergangenen Tagen - große Gefahr durch die Elbe. Für diesen Donnerstag morgen erwarten Stadtverwaltung und Staatsregierung durch Zuflüsse aus der Tschechischen Republik - vor allem durch die Wassermassen der Moldau - mit Pegelständen von bis zu 8,50 Meter. Diese Wassermassen können selbst die berühmten Elbwiesen, die sich - schon auf Anordnung August des Starken unverbaut - durch die gesamte Stadt ziehen, nicht mehr aufnehmen. Hinzu kommt, daß der Grundwasserstand ungewöhnlich hoch ist und der Boden deshalb weniger Feuchtigkeit aufnehmen kann als sonst. In den folgenden vier Tagen ist womöglich mit noch höheren Wasserständen zu rechnen. Im gesamten 20. Jahrhundert war der Fluß nie über acht Meter gestiegen, im 19. Jahrhundert dagegen gleich dreimal."Niemand hat heute noch Erfahrungen mit solchen Wasserständen", sagt Klaus Jeschke vom sächsischen Umweltministerium. Zwar werde die Elbe in den kommenden Stunden nicht wie die Flüsse und Bäche im Erzgebirge in den vergangenen Tagen zum reißenden Strom, auf jeden Fall aber werde sie eine sehr, sehr große Fläche bedecken. Und auf einen Schlag werden viele tausend Menschen zusätzlich von der Jahrhundertflut betroffen sein.
Denn steigt die Elbe wie prognostiziert, müssen noch größere Teile der Stadt evakuiert werden als bisher durch die Fluten der Weißeritz. Welche Gebiete genau betroffen sind, will in der Stadtverwaltung allerdings niemand genau sagen. Auch die Staatsregierung weiß nach Auskunft von Staatsminister Tillich nichts Genaues. Neben der Meldung über den angeblichen Bruch der Talsperre Malter ist das ein weiterer Vorfall, der im Krisenstab der Landesregierung zu großer Verstimmung über die Stadt Dresden geführt hat. Zwar beteuert Oberbürgermeister Ingolf Roßberg (FDP), daß alle Vorkehrungen getroffen würden. Und aus den Mitteilungen der Stadt ergibt sich, daß unter anderen in den von den Fluten nicht betroffenen Landkreisen Bautzen, Kamenz Notunterkünfte bereitgestellt sind. Aber wie viele Menschen ihre Häuser entlang der Elbe verlassen müssen, wenn der Fluß so stark steigt wie erwartet, will er nicht sagen, dabei liegt der Stadt nach eigenen Angaben ein entsprechender Hochwasserkatastrophenplan mit dem Namen"HQ 100" vor.
Kein Wunder, daß viele Dresdner und Gäste der Stadt den Ernst der Lage nicht erkannt haben. Obwohl das Sirenengeheul der Feuerwehr-, Polizei- und Rettungswagen in der ganzen Stadt nun schon den dritten Tag in Folge gar kein Ende finden will und obwohl fortwährend Hubschrauber der Polizei und der Bundeswehr Dresden laut knatternd überfliegen. Auf den Elbbrücken, vor allem auf der schon seit Dienstag gesperrten Marienbrücke bilden sich Trauben von Flut-Touristen in bunten Regenjacken, mit Videokameras und Fotoapparaten ausgerüstet. Bis weit in die Nacht flanieren die Menschen auf und ab, um das Spektakel zu begutachten. Doch die schiere Neugier mündet auch immer wieder in eine Welle der Hilfsbereitschaft. Als ein Lautsprecherwagen der Polizei an der Hofkirche vorbeifährt:"Bürger von Dresden, Besucher von Dresden. Bitte helfen Sie beim Füllen von Sandsäcken auf dem Theaterplatz und auf dem Altmarkt" greifen sofort mehrere Dutzend Männer und Frauen zu Schippen und Schaufeln. Andere wuchten im grellen Schein der Notstrom-Scheinwerfer der Feuerwehr Säcke auf Lastwagen, die nur kurze Zeit später im Dunkel verschwinden - noch immer ist die Altstadt ohne elektrische Energie.
Die Verheerungen des Jahrhunderthochwassers im ganzen Freistaat sind schon jetzt, da man in Dresden auf die Rekordfluten der Elbe noch wartet, immens. Staatskanzleichef Tillich rechnet mit Schäden von rund einer Milliarde Euro. Finanzminister Horst Metz (CDU) verdeutlicht das Ausmaß am Mittwoch vormittag an einem prominenten Beispiel - der Semperoper. Weit kommt er in dem stromlosen Gebäude nicht. Im Keller der weltberühmten Oper steht das Wasser allein durch die Überschwemmung der Weißeritz neun Meter hoch. Nach wenigen Stufen schwimmen im Kegel der Taschenlampe schon Stühle. Die aufwendige Bühnentechnik aus DDR-Zeiten, deren genauen Wert niemand genau kennt, wurde für mehrere Millionen Euro saniert. Das alles ist nun zerstört. Wann wieder Aufführungen in der fast immer ganz ausgebuchten und deshalb für den Staatshaushalt wichtigen Kulturstätte stattfinden können, steht in den Sternen. Im Halbdunkeln der Garderobe gibt Metz eine improvisierte Pressekonferenz."Wir müssen jetzt erst einmal in fast ganz Sachsen wieder Kontakt zwischen den Menschen herstellen: Straßen und Brücken bauen, Schulen und Krankenhäuser sanieren, das Telefonnetz reparieren", sagt der Finanzminister sichtlich bewegt. In kürze wollte er den Doppelhaushalt 2003/2004 durch den Landtag bringen. Doch die Jahrhundertflut wird auch den Etat verändern"Wir müssen uns im Kabinett noch einmal ehrlich in die Augen schauen, und entscheiden, wo umgeschichtet werden muß." Daß der Freistaat die Last nicht alleine tragen kann, wird deutlich als Metz an die Solidarität aller Deutschen appelliert:"Ich hoffe, daß der Beistand so groß ist wie damals beim Oderhochwasser."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.08.2002, Nr. 188 / Seite 3
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