-->A K T I E N - C R A S H
Moral an die Börse!
Bilanzbetrug und Börsencrash - es konnte gar nicht anders kommen. Die Ideologie des freien Marktes trieb den Menschen in die Sucht nach Geld. Wer ehrlich blieb, verlor. Helfen können jetzt nur der Staat und ein neuer Glaube an das Gemeinwohl
Von George Soros
Die massenhaften Finanzbetrügereien von Unternehmen haben nicht nur die Wall
Street, sondern ganz Amerika in Aufruhr versetzt. Die Abscheu paart sich mit Staunen: Wie konnte das passieren?
Eigentlich sollten wir uns nicht wundern. Die Exzesse, die der Börsen-Euphorie der neunziger Jahre entsprangen, sind nichts Neues. Derartige Skandale sind von jeher Teil jedes Booms. Viel mehr erstaunt Folgendes: Auch nach so vielen Auf- und Abschwung-Phasen verstehen wir immer noch nicht genau, wie die Finanzmärkte funktionieren.
Die vorherrschende Meinung behauptet, dass Märkte dank des Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage zu einem Gleichgewicht tendieren. Für die idealen Märkte der ökonomischen Modelle mag das durchaus zutreffen, aber ganz sicher nicht für die Finanzmärkte.
Denn was auf den Finanzmärkten passiert, kann die ökonomischen Fundamentaldaten beeinflussen, die diese Märkte eigentlich widerspiegeln sollen: die Unternehmensgewinne, das Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosigkeit. Steigende Aktienkurse verbessern die Fundamentaldaten, was wiederum die Kurse weiter steigen lässt. Sinkende Kurse verschlechtern sie. Wegen dieser Wechselwirkung sind die Aktienmärkte in den vergangenen Jahren erst irrational nach oben geschossen, um dann ebenso dramatisch zu fallen.
Es bestimmen also nicht nur Angebot und Nachfrage die Marktpreise, sondern umgekehrt können die Marktpreise auch die Bedingungen von Angebot und Nachfrage beeinflussen. Meiner Ansicht nach erklärt diese beiderseitige Beeinflussung (Reflexivität) das gegenwärtige Chaos an den Finanzmärkten besser als die verbreitete Idee eines Gleichgewichts.
Viele Firmen frisierten ihre Bilanz in aller Ã-ffentlichkeit
Aufgrund der Wechselwirkung von Finanzmärkten und realer Ã-konomie ist es unmöglich zu berechnen, wo ein solches Gleichgewicht liegt. Die Marktteilnehmer müssen eine Zukunft antizipieren, die grundsätzlich unvorhersehbar ist. Die Theorie der Reflexivität verzichtet deshalb auf Vorhersagen und behauptet, dass diese unmöglich sind. So war es zwar vorhersehbar, dass die Internet-Blase platzen würde, aber nicht, wann.
Diese Sichtweise unterminiert die wissenschaftlichen Ansprüche von Ã-konomen. Wissenschaftliche Theorien sollen erklären und vorhersagen. Wer hingegen von einer wechselseitigen Beeinflussung von Angebot und Nachfrage, von Finanzmarkt und realer Wirtschaft ausgeht, akzeptiert, dass die Sozialwissenschaften generell und Wirtschaftswissenschaften im Speziellen keine wissenschaftlich haltbaren Vorhersagen machen können.
Obwohl die Theorie der Reflexivität keine sicheren Prognosen zulässt, hat sie doch gewaltige Deutungsmacht. Sie kann zum Beispiel erklären, wie eine auf den Finanzmärkten vorherrschende Tendenz sich selbst verstärkt oder selbst abschwächt. Eine sich selbst verstärkende Aufschwung-Tendenz kann dann eine riesige Blase entstehen lassen, bis diese platzt und eine sich selbst verstärkende Tendenz in die andere Richtung auslöst. Diesem Muster folgen praktisch alle Auf- und Abschwung-Phasen.
Während des jüngsten Booms versuchten die Unternehmen, um jeden Preis ihre Erträge in die Höhe zu treiben und so die ständig wachsenden Erwartungen der Anleger zu erfüllen, die wiederum für immer höher steigende Aktienkurse sorgten. Den cleveren Finanzingenieuren in den Konzernen war hierzu jedes Mittel recht. Hatten sie keine legalen mehr zur Verfügung, griffen sie auf illegale zurück. Als der Markt sich drehte, flogen einige dieser Praktiken auf.
Der Energiekonzern Enron etwa hatte, wie viele Unternehmen, Special Purpose Entities (SPEs, Briefkastenfirmen) benutzt, um seine Schulden nicht in der Bilanz ausweisen zu müssen. Aber anders als andere Firmen bürgte Enron mit seinen eigenen Aktien für die Schulden seiner SPEs. Als der Aktienkurs einbrach, flog diese Methode auf, und Enron rutschte in die Pleite, dabei kamen gleich noch einige andere Missetaten ans Licht. Der Bankrott von Enron verstärkte den Absturz der Aktienkurse, was wiederum neue Pleiten nach sich zog und weitere Missbrauchsfälle ans Licht brachte. So verdichteten sich der Abwärtstrend und der Ruf nach Abhilfe zu einem Impuls, der sich ständig selbst verstärkte. Gemäß dem Prinzip der Reflexivität.
Eine solche Entwicklung der Börsenkurse ist weder überraschend noch neu. Die Überraschung ist, das wir überrascht sind.
Denn viele Akteure praktizierten die unlautere Bilanzkosmetik, die jetzt verurteilt wird, sogar öffentlich. Jeder wusste, dass Topunternehmen wie General Electric und Microsoft ihre Zahlen frisierten, um den Schein zu wahren, ihre Gewinne wüchsen kontinuierlich. SPEs wurden serienweise gekauft, und Investmentbanken unterhielten eigene Abteilungen, um ihren Kunden maßgeschneiderte Lösungen anzubieten. Aktienoptionen galten als nützliches Instrument, den Shareholder-Value hochzutreiben, denn sie stellten eine Mitarbeiter-Entlohnung dar, die zunächst einmal nichts kostete. Zugleich ermutigten sie das Management weiter, den Aktienkurs als Nonplusultra des unternehmerischen Denkens zu betrachten.
Die heutige Krise unterscheidet sich von den vorhergehenden nur durch ihr Ausmaß. Im Gegensatz zu früher erfasste die Aufschwung-Euphorie in den neunziger Jahren alle großen Unternehmen und Investoren. Selbst die Politik mischte mit. Enron, WorldCom und Arthur Andersen wären niemals so lange unbehelligt geblieben ohne die Ermunterung und aktive Bestärkung durch so ziemlich alle Bereiche der amerikanischen Gesellschaft: ihre Kollegen, professionelle Investoren, Politiker, Medien, Privatanleger. Erst nach dem Kollaps begann die Suche nach Gegenmaßnahmen. Deshalb genügt es jetzt nicht, einige Verbrecher an den Pranger zu stellen. Wir hängen alle mit drin. Unser aller Weltsicht gehört auf den Prüfstand.
Zwei Dinge liefen in den neunziger Jahren falsch. Erstens wurden die professionellen Standards der Unternehmensführung ausgehöhlt, und zweitens nahmen die Interessenkonflikte auf dramatische Weise zu. Beides ist lediglich Symptom eines umfassenderen Problems: der Glorifizierung von Gewinn - egal, auf welchem Wege er erreicht wird.
Juristen, Buchhalter, Analysten, Angestellte, Banker und Kleinanleger ließen zu, dass das Gewinnstreben über ein lange geltendes Berufsethos triumphierte. Zwar verhielten sich nur wenige Menschen tatsächlich kriminell, aber so mancher ließ sich auf Geschäfte ein, die im Rückblick dubios erscheinen. Viele beruhigten ihr Gewissen mit Rechtsauffassungen, die ihre Linie bestätigten, mit den Bilanzierungssregeln nach USGAAP und dem tröstlichen Wissen, dass alle anderen doch genau das Gleiche taten.
Wenn allgemeine rechtliche Prinzipien exakt kodifiziert sind - wie das bei USGAAP der Fall ist -, fällt es paradoxerweise umso leichter, sie zu umgehen. Es entstand eine ganze Industrie, die sich fast ausschließlich mit rechtlichen Schlupflöchern befasste: Structured Finance. Sobald jemand sich eine neue finanzielle Raffinesse einfallen ließ, wurde sie eifrig imitiert, und aggressive oder skrupellose Geschäftsleute verschoben die Grenzen des Akzeptablen immer weiter. Hier war ein Prozess natürlicher Auslese am Werk: Wer noch schwankte, ob auch er mitmachen sollte bei der Betrügerei, wurde zur Seite gedrängt. Wer schon mittendrin war, hatte keinen Blick mehr für die Alarmsignale - berauscht vom eigenen Erfolg und von dem Zuspruch von außen. Ein Zeuge berichtete der Financial Times:"Sie konnten den Eisberg nicht sehen, denn sie standen obendrauf."
Hinter dieser blinden Jagd nach Geld stand letztlich der Glaube, der Allgemeinheit sei am besten gedient, wenn man den Menschen erlaube, ihr eigenes Interesse zu verfolgen. Im 19. Jahrhundert nannte man das Laissez-faire, aber weil die meisten heutigen Anhänger dieser Theorie kein Französisch sprechen, nenne ich es etwas zeitgenössischer Marktfundamentalismus. Diese Bewegung gewann um 1980 die Oberhand, als Ronald Reagan amerikanischer Präsident und Margaret Thatcher britische Premierministerin wurde. Der Marktfundamentalismus zielt darauf ab, Regulierungen und andere Formen staatlicher Interventionen sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene abzubauen. Die weltweite Liberalisierung der Finanzmärkte ist einer seiner größten Erfolge.
Der Marktfundamentalismus ist eine falsche und gefährliche Ideologie. Erstens stellt er private und öffentliche Interessen auf eine Stufe. Damit wird das egoistische Streben nach dem eigenen Besten, das angeblich zur bestmöglichen Welt für alle führt, mit einer moralischen Qualität aufgeladen.
Tatsächlich sind Märkte jedoch komplett amoralisch - und zwar in dem Sinne, dass moralische Erwägungen sich nicht in den Preisen niederschlagen. Selbst wenn manche Marktteilnehmer von moralischen Skrupeln gebremst werden, stehen immer andere bereit, die für sie einspringen. Auch Moralisten können nicht verhindern, dass Alkohol- und Tabakfirmen sich ihr Geld am Kapitalmarkt zu denselben Konditionen besorgen wie weniger"sündige" Firmen.
Neue Gesetze genügen nicht - der Geist muss sich ändern
Zweitens versteht der Marktfundamentalismus nicht, wie Finanzmärkte wirklich funktionieren. Diese pendeln sich eben nicht in einem Gleichgewicht ein, das dann für die optimale Allokation der Ressourcen sorgt. Das kollektive Verfolgen des eigenen Interesses führt eben nicht zu größerer ökonomischer Stabilität, sondern, wie wir es derzeit erleben können, zu enormer Instabilität.
Im letzten Börsenhype ließ sich die Mehrzahl der Anleger einfach mitreißen. In diesen Sog gerieten selbst Leute, die nie zuvor in Aktien investiert hatten. Die privaten Interessen der Shareholder waren auf einmal wichtiger als alles andere. Dieser Überschwang war nicht völlig irrational. Aber als die Fundamentaldaten nicht mehr mit den Erwartungen Schritt halten konnten, wurde die Entwicklung unhaltbar.
An dieser Stelle hätten ethische und professionelle Standards die Abwärtsspirale unterbrechen können. Der von Natur aus amoralische Markt kann diese Standards nicht liefern. Deshalb muss sich das öffentliche Interesse auf andere Weise Gehör verschaffen.
Die Marktfundamentalisten aber haben es geschafft, sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass es das eigentliche Ziel der Politik sein müsse, Märkte von staatlichen Regulierungen zu befreien. Dadurch entstehe Effizienz und Wachstum. Sie verweisen immer wieder auf das Scheitern des Sozialismus in all seinen Spielarten. Dieses Argument aber basiert auf einer falschen Logik. Dass Regulierungen nicht immer optimal funktionieren, bedeutet nicht, dass Märkte, die sich selbst überlassen sind, automatisch perfekt sind. In Wahrheit sind alle menschlichen Konstrukte, auch Märkte, unvollkommen. Die Fundamentalisten liegen also falsch: Sie nehmen für sich in Anspruch, die ultimative Wahrheit gefunden zu haben.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten, besonders aber seit 1990, waren die Finanzmärkte zu sehr sich selbst überlassen. Wir haben Konzernen erlaubt, ihre Profite zu maximieren - auf Kosten der Chancengleichheit, auf Kosten des Umweltschutzes und der sozialen Sicherungssysteme. Professionelle Standards waren auf einmal nicht mehr gültig, und die Konflikte zwischen privatem und öffentlichem Interesse wucherten wie Geschwüre.
Eine der erfolgversprechendsten Gegenmaßnahmen ist die jüngste Direktive der U. S. Securities and Exchange Commission (SEC). Sie verlangte von den Geschäftsführern und Finanzvorständen der 947 größten amerikanischen Unternehmen, die Bilanzen des aktuellen und des vergangenen Kalenderjahres zu beeidigen. Die Manager können strafrechtlich belangt werden, wenn die Zahlen den finanziellen Zustand der Firma nicht angemessen widerspiegeln - selbst wenn die Bilanzen dem GAAP-Standard entsprechen.
Bessere Gesetze sind jedoch nur ein Teil der Antwort. Sie müssen mit einer veränderten Geisteshaltung einhergehen. Die Menschen müssen ein allgemeines, öffentliches Interesse erkennen, das über ihr egoistisches Bestreben hinausgeht. Sie müssen die Standards einhalten wollen. Sonst beflügeln neue Regulierungen und Gesetze lediglich die Suche nach neuen Schlupflöchern.
Natürlich ist es unrealistisch, zu glauben, alle Marktteilnehmer ließen sich plötzlich zur Ethik bekehren. Doch die öffentliche Meinung und der öffentliche Diskurs können das individuelle Verhalten dramatisch beeinflussen - das haben wir in den neunziger Jahren erlebt. Die Amerikaner müssen wieder den Unterschied lernen zwischen einer Ansammlung von Individuen, die alle ihrem beschränkten Eigeninteresse hinterherlaufen, und einer Gesellschaft von Menschen, die vom öffentlichen Interesse geleitet wird. Davon könnte abhängen, ob dieses Land und mit ihm die Welt zu ökonomischer Stabilität und Wohlstand zurückfindet.
Übersetzt von Sandra Pfister
George Soros ist Vorsitzender des Soros Fund Management und Gründer des Open Society Network
(c) DIE ZEIT 41/2002
|