-->"Wir werden Leistungen streichen"
Der Kanzler geht in die Offensive: Angesichts
der gegenwärtig desolaten Lage auf dem
Arbeitsmarkt und der unbefriedigenden
Wachstumsaussichten setzt der Regierungschef
auf Reformen vor allem bei den sozialen
Sicherungssystemen. „Es geht nicht mehr um
die Verteilung von Zuwächsen. Neue Ansprüche
sind nicht zu erfüllen,“ schreibt Schröder.
Gleichzeitig fordert der Kanzler seine Partei auf,
die Vorschläge und Lösungsansätze zur Reform
der Sozialsysteme, die die Rürup-Kommission
bis zum Herbst nächsten Jahres vorlegen soll,
nicht zu „zerreden“.
HB DÜSSELDORF. Am vergangenen
Wochenende haben die Staats- und
Regierungschefs der Europäischen
Union in Kopenhagen Entscheidungen
von historischer Tragweite getroffen.
Das zentrale europäische Projekt am
Anfang dieses Jahrhunderts - die
endgültige Überwindung der
schmerzlichen Teilung unseres
Kontinents - kann nun vollendet
werden. Der Weg in die Zukunft eines
großen und starken Europa ist
abgesteckt.
In Kopenhagen haben sich die Mitgliedstaaten und
die Beitrittsländer auf ein belastbares finanzielles
Konzept einigen können. Damit bleiben auch die
deutschen Interessen gewahrt: Deutschland wird
keine zusätzlichen Netto-Belastungen, etwa bei den
Agrar- und Strukturbeihilfen, zu tragen haben.
Die Erweiterung der Europäischen Union um die
Staaten Mittel- und Osteuropas ist nicht nur ein Gebot
historischer und politischer Verantwortung. Wir
schaffen damit mehr Sicherheit auf unserem
gemeinsamen Kontinent; für die mehr als 450
Millionen Menschen im künftigen europäischen
Binnenmarkt eröffnen sich großartige ökonomische
Chancen. Und dieses Europa wird Gelegenheit haben
- allerdings auch die Notwendigkeit verspüren -, in
den internationalen Beziehungen als starker Partner
aufzutreten, der mit einer Stimme spricht und
zielstrebig eine Politik für Frieden und Freiheit,
Wohlstand und globale Gerechtigkeit verfolgt.
Schließlich haben wir die Möglichkeit, das
europäische Sozialmodell, das auf Teilhabe aller am
erarbeiteten Wohlstand und an den Entscheidungen in
der Gesellschaft basiert sowie auf einem produktiven
Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer
Sensibilität, auch gegen die Stürme der
Globalisierung wetterfest zu machen.
Was für ein großes und starkes Europa gilt, muss
auch Leitlinie für die deutsche Politik sein: Ich meine
eine Außenpolitik, die im Bündnis verankert ist und
der Souveränität des Landes gerecht wird - die aber
auch die Kraft und den Mut zur Differenzierung entlang
unserer eigenen Interessen aufbringt. Ich meine,
zweitens, eine Wirtschaftspolitik, die durch
Flexibilisierung und Verringerung der Abgabenlast die
Innovations- und Investitionskräfte stärkt, ohne die
Grundpfeiler des sozialen Zusammenhalts in einer
solidarischen Gesellschaft aufzugeben. Und ich
meine, drittens, die Organisation des Gemeinwohls
im Zusammenspiel zwischen einer aufgeklärten,
toleranten Gesellschaft und einem handlungsfähigen
Staat. Was wir im Blick haben müssen, sind also,
national wie international, Sicherheit im weitesten
Sinne sowie die Fähigkeit, Zukunft zu gestalten.
"Wir brauchen mehr Eigeninitiative"
Allerdings wird Deutschland auf dem vorgezeichneten
Weg in dieses große und starke Europa erhebliche
Anstrengungen unternehmen müssen, sich im Wandel
zu bewähren: Wir dürfen bei den notwendigen
Strukturreformen nicht zögern, sondern müssen die
Modernisierung unserer Volkswirtschaft und unseres
Landes beherzt voranbringen. Wir brauchen mehr
Wettbewerb und mehr Transparenz in den sozialen
Sicherungssystemen, wir brauchen mehr
Eigeninitiative und eine neue Bereitschaft, uns auf den
Arbeitsmärkten, im Wirtschaftsleben und bei den
Sozialversicherungen mehr zuzumuten.
Die anhaltende Konjunkturschwäche in der
Weltwirtschaft hat dazu geführt, dass im
Staatshaushalt und bei den Systemen der sozialen
Sicherung der Wandel jetzt noch schneller
durchgesetzt werden muss. Weil die Einnahmen,
entgegen aller Prognosen, noch drastischer gesunken
sind, als vorhergesagt worden war, sind kurzfristig
Maßnahmen nötig. Diese Maßnahmen mögen auf den
ersten Blick unseren langfristigen Zielen
widersprechen, aber bei genauerer Betrachtung stellt
sich heraus, dass sie unumgänglich sind, um die
großen Reformvorhaben überhaupt in Angriff nehmen
zu können und erneute drastische Einbrüche zu
vermeiden.
Wir haben deshalb den Weg gewählt, den
Bundeshaushalt mit Augenmaß weiter zu
konsolidieren. Eine kurzfristige Erhöhung der
Neuverschuldung mussten wir in Kauf nehmen, ohne
das Ziel eines ausgeglichenen Etats bis 2006
aufzugeben. Die Alternative, die nötigen Mittel allein
durch Einsparungen aufzubringen, mag wohlfeil
klingen - in Wahrheit ist es aber eine
Schein-Alternative. Denn Einsparungen diesen
Ausmaßes hätten wir unmittelbar nur erreichen
können, wenn wir die öffentlichen Investitionen
zurückgefahren hätten: ein tödliches Gift für Konjunktur
und Arbeitsplätze.
Gewaltige Effizienz- und Effektivitätsreserven
Bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme geht
es zunächst darum, Renten-, Kranken- und
Arbeitslosenversicherung so zu stabilisieren, dass sie
funktions- und leistungsfähig bleiben. Das bedeutet
gerade nicht, dass sie so bleiben sollen, wie sie sind.
Oder auch nur so bleiben könnten.
Der in sozialer Verantwortung handelnde Staat, wie er
sich vor allem im vergangenen Jahrhundert in den
westeuropäischen Demokratien entwickelt hat, ist
eine herausragende zivilisatorische Errungenschaft.
Er bietet den Menschen mehr Sicherheit bei
Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit und Krankheit oder
im Alter. Er trug dazu bei, dass gesellschaftlicher
Strukturwandel und Modernisierungsprozesse in
Wirtschaft und Gesellschaft erfolgreich vollzogen
werden konnten. Unser Land ist dadurch produktiver,
moderner, humaner, gerechter und auch reicher
geworden.
Wenn wir diese Gemeinschaftsleistung bewahren
wollen, müssen wir heute zum Wandel bereit sein:
Das Prinzip der Sozialstaatlichkeit zu erhalten
verlangt, dass wir angesichts globalisierter Märkte,
veränderter Erwerbsbiografien, gewandelter
Familienstrukturen und dramatischer Verschiebungen
im Altersaufbau der Gesellschaft die Schwerpunkte
neu definieren.
An erster Stelle muss dabei die Einsicht stehen: Es
geht nicht mehr um die Verteilung von Zuwächsen.
Neue Ansprüche sind nicht zu erfüllen. Vielmehr
werden wir - wenn wir soliden Wohlstand, nachhaltige
Entwicklung und neue Gerechtigkeit bewahren wollen
- manche Ansprüche zurückschrauben und
Leistungen einschränken oder gar streichen müssen,
die vor einem halben Jahrhundert berechtigt gewesen
sein mögen, heute aber ihre Dringlichkeit und damit
auch ihre Begründung verloren haben.
Die von der Bundesregierung berufene
Rürup-Kommission hat den Auftrag, bis zum Herbst
des nächsten Jahres umfassende und umsetzbare
Vorschläge zur langfristigen Finanzierung und
Umgestaltung bei Rente, Pflege und Gesundheit
vorzulegen. Besonders im Gesundheitswesen können
wir durch mehr Transparenz und mehr Wettbewerb
zwischen den Leistungsanbietern zu erheblichen
Einsparungen kommen. Ich erwarte von den Experten
und Praktikern Lösungen sowohl für die Entwicklung
der Einnahmen als auch für die Begrenzung der
Ausgaben in den sozialen Sicherungssystemen. Und
von denen, die diesen Prozess begleiten - auch von
meinen eigenen politischen Freunden -, erwarte ich,
dass Vorschläge und Lösungsansätze nicht zerredet
werden. Wir alle wissen, dass im deutschen
Sozialstaat gewaltige Effizienz- und
Effektivitätsreserven mobilisiert werden können.
Sozialpolitik kann und muss in diesem Sinne
produktiver werden.
Bei der Rente hat die Koalition mit der Einführung der
kapitalgedeckten privaten Vorsorge als zweiter Säule
der Alterssicherung eine Reform von historischer
Dimension durchgesetzt. Wir haben aus den
demographischen Fakten den Schluss gezogen, die
Rentenfinanzierung nicht mehr allein nach dem
Umlageprinzip und den nach dem Arbeitseinkommen
berechneten Beiträgen vorzunehmen. Mit der
Rentenreform, die wir in der vergangenen
Legislaturperiode verabschiedet haben, ist, wenn man
so will, eine „neue Zeitrechnung im Rentensystem“
eingeführt worden.
Durch unsere Steuerreform sind die verfügbaren
Einkommen der privaten Haushalte spürbar
gestiegen. Durch die anstehenden Reformen bei
Gesundheit und auf dem Arbeitsmarkt werden die
Abgabenbelastung reduziert und die
Lohnnebenkosten gesenkt. Die Menschen gewinnen
dadurch nicht nur die Freiheit, sondern auch finanziell
die Möglichkeit, ergänzend zu den Leistungen der
Solidargemeinschaft ihren sozialen Schutz durch
eigenverantwortliche Vorsorge zu organisieren.
"Ein Gebot von Vernunft und Gerechtigkeit"
In der Steuerpolitik beenden wir die auch
makro-ökonomisch ungute Praxis, das
Steueraufkommen fast ausschließlich über Abgaben
auf Konsum und Arbeitseinkommen zu finanzieren. Es
ist ein Gebot von Vernunft und Gerechtigkeit, für die
Staatsaufgaben sämtliche Einkommen
heranzuziehen, also auch Einkünfte aus
Kapitalvermögen und Spekulationsgewinne.
Wir werden weiter mit großem Druck und
Engagement an der Modernisierung unseres
Steuersystems arbeiten. Dazu gehört als wesentliches
Element die Einführung von Pauschalierungen. Dieser
Weg, den wir auch bei der Besteuerung der
Wertzuwächse gewählt haben, ist bürgerfreundlich und
unbürokratisch.
Wir hoffen weiterhin, dass es gelingt, auf europäischer
Ebene die Zinssteuerrichtlinie zu verabschieden.
Unabhängig davon werden wir darüber nachdenken
müssen, ob wir nicht den erfolgreichen Beispielen
anderer europäischer Staaten folgen und für
Zinserträge eine Abgeltungsteuer einführen. In diesem
Zusammenhang sollten wir auch mit großer Offenheit
prüfen, wie wir das seit Jahren ungelöste Problem der
Repatriierung des im Ausland angelegten
Kapitalvermögens lösen können.
Parallel dazu setzen wir unsere Steuerreform fort. Die
nächsten Stufen werden - so steht es im Gesetzblatt -
2004 und 2005 in Kraft treten und Arbeitnehmer und
Unternehmen um insgesamt rund 25 Milliarden Euro
entlasten; das ist mehr als ein Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Eingangs- und Spitzensatz der
Einkommensteuer sinken auf den niedrigsten Stand,
der Grundfreibetrag erreicht das höchste Niveau seit
Bestehen der Bundesrepublik.
Entschlossener Weg der Reformen
Mit den Strukturreformen werden wir die
Wettbewerbsstärke unserer Wirtschaft ausbauen und
die Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung
nachhaltig verbessern. Als ersten wichtigen Schritt in
dieser Legislaturperiode haben wir die Reform des
Arbeitsmarktes auf den Weg gebracht, die verkrustete
Strukturen aufbrechen, neue
Beschäftigungsmöglichkeiten erschließen und für
mehr Flexibilität sorgen wird. Hierauf zielen sowohl
die Neuordnung der Zeitarbeit als auch die Förderung
der Selbstständigkeit in der „Ich AG“. Zudem wird die
geringfügige Beschäftigung - ohne ideologische
Scheuklappen - neu geregelt. Der im
Vermittlungsausschuss angestrebte Kompromiss ist
geeignet, mehr Menschen den Weg aus der
Schwarzarbeit in legale Beschäftigung zu ebnen.
Die Arbeitslosen selbst müssen durch die Änderung
der Zumutbarkeitsregelung und die Umkehr der
Beweislast zukünftig deutlich mehr
Eigenverantwortung bei der Jobsuche übernehmen.
Wir werden sie dabei durch eine effizientere
Vermittlung unterstützen.
Mit der Umsetzung der Hartz-Vorschläge ist spürbar
Bewegung in Bereiche gekommen, die lange als
„unreformierbar“ galten. Wer hätte vor zwei Jahren
vorauszusagen gewagt, dass im Einverständnis mit
den Beteiligten Arbeitslosen- und Sozialhilfe
zusammengelegt werden? Wer hätte sich vorstellen
mögen, dass wir die Leiharbeit nicht nur für
Arbeitslose neu regeln, sondern insgesamt dafür
sorgen, dass diese Beschäftigungsform ihre
wirtschaftliche Dynamik entfaltet. Im Kabinett haben
wir durch die Zusammenlegung der Ministerien für
Arbeit und Wirtschaft institutionelle Blockaden
beseitigt. Die positiven Auswirkungen, insbesondere
für den Mittelstand, werden schon in sehr naher
Zukunft sichtbar werden.
Ich bin zuversichtlich, dass unser Land sich als
reformfähig erweisen und sich gerade im Wandel
bewähren wird. Die Menschen sind dazu bereit, und
ich bin entschlossen, auf diesem Weg voranzugehen.
Der in sozialer Verantwortung handelnde Staat muss
für die Aufgaben der Zukunft gewappnet werden. Zu
diesem Weg der Reformen gibt es keine Alternative.
Aber die Erfolge, die wir dabei erzielen werden,
machen ihn zu einem lohnenden Weg für alle.
Umfrage: Was halten Sie vom Kanzlerapell,
Ansprüche zurückzuschrauben?
Quelle: Handelsblatt
|