-->"Die Kristallkugel war noch nie
so unscharf"
Analysten rechnen mit bis zu 14 Prozent Gewinnplus
bei amerikanischen Unternehmen
nks. NEW YORK, 15. Januar. Der Vorhang hebt sich,
doch die Unsicherheit weicht nur langsam. Zum Auftakt der
amerikanischen Bilanzsaison rechnen Analysten für das
vierte Quartal im Durchschnitt mit einem Wachstum der
Unternehmensgewinne von 13 bis 14 Prozent. Nach
Auswertungen des Finanzinformationsdienstes Thomson
Financial First Call wird die stetige Gewinnsteigerung der
vergangenen vier Quartale im ersten und zweiten Quartal
2003 aber unterbrochen werden."Die Ergebnisse in beiden
Quartalen werden wahrscheinlich schlechter ausfallen als die
Gewinne im vierten Quartal", sagt Charles Hill, Direktor der
Marktanalyse bei First Call.
Die Wall Street achtet stark auf die Gewinnentwicklung der
Unternehmen, weil diese einer der wichtigsten Faktoren für
die Aktienkursentwicklung ist. Langfristig sind die
Aktienkurse den Gewinnen immer gefolgt (siehe Grafik Seite
23). Die Wall Street verfolgt die Bilanzsaison in diesem
Quartal möglicherweise noch intensiver als sonst. Investoren
hoffen in der derzeitigen Erholungsphase am Aktienmarkt
auf Hinweise, ob der Aufwärtstrend anhalten wird.
Nachdem der Chiphersteller Intel am Dienstag nach
Börsenschluß den Auftakt gemacht hatte, gewinnt die
Bilanzsaison am heutigen Donnerstag an Fahrt.
Verschiedene Banken, der führende Autohersteller General
Motors und wichtige Technologiewerte wie der
Softwarekonzern Microsoft und der Computerhersteller IBM
werden ihr Ergebnis vorlegen. Am Freitag folgt der
weltgrößte Mischkonzern General Electric. In den beiden
kommenden Wochen werden dann über die Hälfte der im
breitgefaßten Aktienindex S&P 500 abgebildeten
Unternehmen ihre Bilanzen veröffentlichen. Danach werden
die Aussichten für dieses Jahr möglicherweise etwas
deutlicher. Unternehmen geben zusammen mit dem aktuellen
Ergebnis in der Regel eine Einschätzung für die kommenden
Quartale ab.
Analysten haben ihre Prognosen für die ersten beiden
Quartale dieses Jahres in den vergangenen vier Monaten
deutlich zurückgenommen. Nachdem sie Anfang Oktober im
Durchschnitt noch einen Gewinnzuwachs um 17,4 Prozent
für das erste Quartal erwartet hatten, rechnen sie
mittlerweile nur noch mit einem Wachstum um 11,2 Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Ähnliches gilt für das zweite
Quartal. Für diesen Zeitraum stellen die Analysten derzeit
einen Gewinnzuwachs um 10,2 Prozent in Aussicht - nach im
Oktober noch erwarteten 16,4 Prozent. Frühestens im
zweiten Halbjahr 2003 rechnet die Wall Street dann mit
einem deutlichen Aufschwung.
Fortsetzung auf Seite 23.
Das Gewinnwachstum wird vor allem für Branchen
erwartet, die stark von Investitionen anderer Unternehmen
abhängig sind, wie etwa den Branchen Industrie oder
Technologie. Wie stark die Erholung im zweiten Halbjahr
ausfallen wird und was das für der Aktienmarkt bedeuten
könnte, ist aber schwer abzusehen.
Anleger hegen allerdings Hoffnung auf eine konjunkturelle
Erholung, wie der seit Oktober anhaltende Anstieg der
Aktienkurse vermuten läßt. Gerade in den ersten beiden
Januarwochen und damit in Erwartung der Bilanzsaison sind
die Kurse an der Wall Street kräftig gestiegen. Während im
Januar in der Regel kleinere Aktiengesellschaften von
Neuanlagen profitieren, waren es in den ersten Wochen vor
allem Großkonzerne aus dem Technologiebereich, die die
Erholung anführten. Dazu gehörten der Softwarehersteller
Oracle und der Computerkonzern Sun Microsystems
genauso wie der Glasfaserproduzent JDS Uniphase. Ob
diese Rally anhält oder ob Gewinnentwicklung und
Konjunktur die Erwartungen erneut enttäuschen werden, ist
derzeit die zentrale Frage an der Wall Street.
Tobias Levkovich, der Investmentstratege der
Investmentbank Salomon Smith Barney, hält die erwartete
Gewinnsteigerung der Unternehmen um 14 Prozent für das
vierte Quartal für ein wenig zu optimistisch. Es dürfte aber
ausreichen, um Investoren zu beruhigen, die sich wegen
eines möglichen Kriegs im Irak sorgen und die dazu Angst
haben, daß die Verbraucher als treibende Kraft für die
Konjunktur ausfallen könnten."Obwohl uns möglicherweise
noch nicht einer der brillanten, wolkenlosen und trockenen
Tage bevorsteht, ist die nahe Zukunft möglicherweise nicht
so kalt und stürmisch, wie einige Marktmeteorologen
vorhersagen", bemüht Levkovich einen Vergleich mit dem
Wetter.
Nach Ansicht von Charles Hill von First Call sind vernünftige
Voraussagen aber kaum zu treffen."Die profundeste
Beobachtung, die wir für die Gewinnprognosen für 2003 und
darüber hinaus machen können, ist, daß unsere Kristallkugel
zeit unseres Lebens noch nie so unscharf war", resümiert er
die Lage. Hill begründet das mit den ungewöhnlichen
Ursachen für die jüngste Rezession. Frühere Rezessionen
seien durch eine Überhitzung der Verbraucherausgaben
entstanden, die angesichts zu niedriger Kapazitäten der
Unternehmen zu höheren Preisen und Inflation geführt
hätten. Der jüngste Konjunkturabschwung sei dagegen eine
Folge übertriebener Investitionen. Die Folge: Die Kapazitäten
haben in vielen Branchen wie etwa der Telekommunikation
die Nachfrage überstiegen. Das führte zu Druck auf die
Preise und belastete die Gewinnentwicklung der
Unternehmen. Die Notenbank habe zwar die Zinsen gesenkt
und damit die Ausgabenfreude der verunsicherten
Verbraucher stimuliert. Investitionen der Unternehmen
insbesondere im Technologiebereich blieben aber weiter aus,
da die Überkapazitäten noch nicht verschwunden seien."Wie
lange das ein Problem bleibt, das die Preise unten hält,
wissen wir nicht", sagt Hill. Die Überkapazitäten seien
zudem nicht nur auf Technologieunternehmen beschränkt.
Der am Dienstag nach Börsenschluß vorgelegte
Quartalsbericht von Intel deutete zunächst keine Besserung
der Lage an. Zwar hatte der Konzern seinen Gewinn mehr
als verdoppelt, weil der Umsatz über Erwarten hoch
gestiegen war. Aber Intel will seine Investitionen für 2003
stärker zurückfahren, als von der Wall Street erwartet
worden war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.01.2003, Nr. 13 / Seite 21
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