steve
16.03.2003, 03:10 |
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11/2003 | 12/2003
DER SPIEGEL 12/2003
Die eingebildete Weltmacht
TITEL
Das SPIEGEL-Titelpaket ab jetzt
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SO FUNKTIONIERT ES
110
Die Boten des Todes
Der Krieg gegen den Irak scheint nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Washingtons Versuch, für den Marsch auf Bagdad die Zustimmung des Uno-Sicherheitsrats zu erhalten, hat kaum noch Erfolgschancen. Gekränkt nimmt die Weltmacht das Nein der Friedensfreunde zur Kenntnis.
116
Der entfesselte Gulliver
Die USA sind militärisch, wirtschaftlich und kulturell unangefochten die Nummer eins in der Welt. Aber die Supermacht beginnt an der Krankheit aller Imperien in der Geschichte zu leiden: Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung. Läutet der Irak-Krieg womöglich den Niedergang ein?
122
D-Day bei Vollmond
Im Wüstencamp Virginia warten über 8000 US-Soldaten auf den Befehl zum Angriff.
124
"Kriegsgrund dringend gesucht"
Fälschungen und Halbwahrheiten sollen die Angst vor Saddams Waffenarsenal verstärken.
126
Griff nach dem Ã-l von Mossul
Irakische Kurden fürchten die Türken mehr als den angeschlagenen Diktator von Bagdad. Ihre Kämpfer bereiten sich auf einen Zweifrontenkrieg vor.
128
"Amerikas Macht wird gebrochen"
Der französische Historiker und Demograf Emmanuel Todd über die Auswirkungen eines Irak-Kriegs, den Niedergang der USA als alleiniger Supermacht und die Emanzipation Europas
WEITERE TOPTHEMEN
20
Regierung: Der mutlose Kanzler [0,40 €]
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Debatte: US-Konservativer Robert Kagan und Grünen-Vordenker Daniel Cohn-Bendit über den Streit zwischen Neuer Welt und altem Europa [0,40 €]
144
Fußball: Wie Lothar Matthäus bei Partizan Belgrad den Umsatz ankurbeln soll [0,40 €]
DEUTSCHLAND
17
Panorama: Deutsche Soldaten für Irak-Friedenstruppe / Wird Töpfer Rau-Nachfolger? / SPD plant"Godesberg II"
20
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22
Die zukünftigen Zumutungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe
24
Stimmen zur Rede
30
SPD: Schröders Eckpfeiler Clement und Müntefering auf Konfliktkurs
34
Union: Riss zwischen Merkel und Stoiber
36
FDP: Wie sich Möllemann isoliert
38
Bundeswehr: Aufmarsch gegen Saddam gefährdet deutsche Soldaten in Afghanistan
40
Verfassungsschutz: Innenpolitiker wollen die Geheimdienste reformieren
44
Waffenhandel: Raketen vom Kiosk
46
Schüleraustausch: Mobbing gegen Deutsche in den USA
48
Geld: Wie"Miami Vice"-Star Don Johnson mit dubiosen Unterlagen über Milliarden-Vermögen ins Visier deutscher Grenzer geriet
50
Wehrreform: Die Pläne Peter Strucks bedrohen den Zivildienst
52
Strafjustiz: Die Anordnung eines Massen-Gentests war unzulässig
54
Kriminalität: Ein junger Serienstraftäter entzweit in Berlin Polizei und Justiz
61
Interview mit Theologe Küng:"Ein Präventivkrieg ist unmoralisch"
GESELLSCHAFT
68
Szene: Afghanistan geht online / Aussteiger-Buch über ein urkommunistisches Paradies im Pazifik
69
Eine Meldung und ihre Geschichte
70
Prominente: Die Karriere der jordanischen Königin Noor
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Debatte: US-Konservativer Robert Kagan und Grünen-Vordenker Daniel Cohn-Bendit über den Streit zwischen Neuer Welt und altem Europa [€]
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Ortstermin: Wie sich die ehemalige Boom-Branche auf der Computermesse Cebit präsentiert
WIRTSCHAFT
82
Trends: Eichel will Subventionen befristen / Etappensieg für Sixt / US-Kauflust sinkt
84
Autoindustrie: DaimlerChrysler bereitet sich auf Milliarden-Prozess vor
87
TV-Konzerne: Der US-Milliardär Haim Saban will das Erbe des Medien-Pleitiers Kirch antreten
88
Hinter dem Rücken der Fußball-Clubs kassierte der DFB Millionen
92
Kommunen: Wird das Milliarden-Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau für die überschuldeten Gemeinden zum Flop?
94
Luftfahrt: Die erfolgreiche Air Berlin und ihr umstrittener Chef
96
Formel 1: SPIEGEL-Gespräch mit dem Bankenberater Thomas Fischer über die Zukunft des Rennzirkus
AUSLAND
102
Panorama: Der heimliche Deal des starken Mannes vom Bosporus / Scheinabstimmung in Tschetschenien
131
Serbien: Angst vor dem nächsten Schlag der Djindjic-Mörder
134
China: Kahlschlag in Pekings historischer Altstadt
138
Polen: Bürgermeister werben um US-Truppenstandorte
SPORT
140
Funktionäre: Deutsche Olympia-Bewerber bringen Lobbyisten in Stellung
144
Fußball: Wie Lothar Matthäus bei Partizan Belgrad den Umsatz ankurbeln soll [€]
WISSENSCHAFT + TECHNIK
147
Prisma: Chirurgensprecher warnt vor Wartelisten für Operationen / Irak-Krieg bedroht Weltwunder
150
Gentechnik: Siegeszug der Designer-Pflanzen - jetzt brechen auch in Europa die Dämme
156
Bildung: Der erstaunliche Erfolg eines Chemie-Portals im Internet
158
Raumfahrt: Müllabfuhr für Weltraumschrott
162
Medizin: Wie hilfreich ist das neue Medikament gegen Grippe?
KULTUR
168
Szene: Hilmar Hoffmann soll im Frankfurter Buchmesse-Streit schlichten / Berliner Museumschef Wilfried Menghin über die deutsch-russische Beutekunstblockade
170
Buchmesse: Autoren entdecken die Kriegserinnerungen der Großeltern
174
Belletristik: Neue Romane und Erzählungen thematisieren Kindheit, Jugend und Liebesverrat
182
Bestseller
184
Sachbücher: Michelangelo, Konfuzius und andere Helden der Kulturgeschichte
186
Autoren: Interview mit Hans Magnus Enzensberger über den Zeitgeist und seine neuen Wolken-Gedichte
188
Legenden: Michael Caine brilliert in der Neuverfilmung von Graham Greenes"Der stille Amerikaner"
192
Kulturpolitik: Wie sich Hamburgs Kultursenatorin Dana Horáková blamiert
MEDIEN
194
Trends: Interview mit Anke Engelke über ihre Rolle als Oscar-Reporterin / Neue Talent-Casting-Show am Start
195
Fernsehen: Vorschau / Rückblick
196
Verlage: Die Krise der größten deutschen Tageszeitungen eskaliert
200
Pressefreiheit: Das Redaktionsgeheimnis verkommt zur Ansichtssache der Obrigkeit
VERMISCHTES
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Sascha
16.03.2003, 04:50
@ steve
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Die Boten des Todes |
--><font size=5>Die Boten des Todes</font>
<font color="#FF0000">Der Krieg gegen den Irak scheint nur noch eine Frage von Tagen zu sein</font>. Washingtons Versuch, für den Marsch auf Bagdad die Zustimmung des Uno-Sicherheitsrats zu erhalten, hat kaum noch Erfolgschancen. Gekränkt nimmt die Weltmacht das Nein der Friedensfreunde zur Kenntnis.
Die <font color="#FF0000">schwarzen Vögel</font>, die Ende vergangener Woche schwerfällig ihren Sinkflug über dem Inselstützpunkt Diego Garcia begannen, künden von Tod und Verderben: Stealth-Bomber vom Typ B-2, wegen ihrer besonderen Form und speziellen Beschichtung von Radargeräten kaum zu orten, bezogen im Indischen Ozean und auf dem britischen US-Stützpunkt Fairfield ihre vorgeschobenen Horste.
<font color="#FF0000">Das Auftauchen dieser Tarnkappenbomber, die eher an Ufos erinnern, in Schlagdistanz zum potenziellen Kriegsschauplatz Irak ist das sicherste Anzeichen dafür, dass der Waffengang unmittelbar bevorsteht</font>.
Der Krieg gegen den Bagdader Despoten Saddam Hussein, so scheint es, ist beschlossene Sache. Keine Macht der Welt kann ihn aufhalten, weil die Hypermacht Amerika diesen Gewaltstreich will, entschlossen zum Alleingang ohne ausdrückliches Uno-Mandat.
<font color="#FF0000">Vermutlich schon Ende dieser Woche, so ein ranghoher Nato-Militär,"schlagen die Amerikaner zu"</font>. Daran dürfte weder das für diesen Montag angesetzte letzte Gefecht der Diplomatenschlacht im Uno-Sicherheitsrat etwas ändern noch die beflissenen Abrüstungsgesten Bagdads - es sei denn, US-Präsident George W. Bush lässt sich, nach dem Krisengipfel mit Großbritannien und Spanien auf den Azoren, doch noch auf einen Kompromiss im Sicherheitsrat ein."Die Stunde der Wahrheit naht", raunte seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice.
"Es gibt keine Chance mehr für eine friedliche Lösung", sah am Samstagmorgen in New York ein Botschafter des alten Europa schon alle Hoffnungen auf einen Kompromiss im Weltsicherheitsrat zerstoben. Nur"ein Wunder" - etwa ein Putsch in Bagdad oder doch noch Saddams überraschendes Exil - könne den Militärschlag abwenden. Doch wer glaubt schon an Wunder?
Amerika stand vergangene Woche am Scheideweg - und schien sich jeden Ausweg zu verbauen; <font color="#FF0000">eine Großmacht, nahe am Größenwahn</font>. Präsident George W. Bush glaubt offensichtlich, mit einem Präventivkrieg gegen den Irak ungestraft das Völkerrecht brechen zu können. Internationale Verträge, multinationale Vereinbarungen zählen in seiner politischen Weltanschauung wenig, wenn es amerikanische Interessen durchzusetzen gilt.
Die USA verfügen über die modernsten Waffen in der Welt, kontrollieren den Welthandel: Wer sollte sie stoppen? <font color="#FF0000">Doch so manches Imperium in der Weltgeschichte hat auf dem Zenit seiner Macht den entscheidenden Fehler begangen und frühere Freunde zu Gegnern gemacht</font>. <font color="#FF0000">Hybris kommt oft vor dem Fall</font>. <font color="#FF0000">Amerikas robustes Auftreten gegen die Regeln der Weltgemeinschaft könnte, dafür gibt es Anzeichen, auch seinen Niedergang einläuten</font>.
Mit seinem Wunsch, Krieg gegen den Irak zu führen, hat George W. Bush eine <font color="#FF0000">weltweite Krise </font>ausgelöst. Er stellte die Vereinten Nationen vor die Alternative: Entweder ihr seid mit uns, oder ihr seid nichts. Entweder sanktioniere der Sicherheitsrat den neuen Golfkrieg, oder er ermutige Nordkorea und Iran im Streben nach Nuklearwaffen, so die neueste Variante der Anklagen aus dem Weißen Haus gegen Europas Friedensfreunde.
Eine übergroße Mehrheit der Weltgemeinschaft ist hingegen längst der Meinung, dass es weniger um den Irak geht als um den Platz Amerikas im internationalen System des 21. Jahrhunderts: <font color="#FF0000">Was ist die Uno noch wert, wenn sie sich den Wünschen der Hypermacht unterwirft?</font>
Das konservative Amerika, das George W. Bush ins Weiße Haus gewählt hat, träumte davon, ein"gütiger Hegemon" zu sein, der anders als der alte Imperialismus nicht den Ruhm der eigenen Nation durch Eroberungen mehren will. Stattdessen sollten die Vereinigten Staaten ihre einzigartige Überlegenheit zum Wohl der freien Welt und zur Verbreitung von Demokratie und Marktwirtschaft nutzen. Doch in den Augen vieler Bush-Kritiker hat der gütige Hegemon sich unterdessen in eine arrogante Weltmacht verwandelt, die den Primat des Militärischen hervorkehrt und kaum noch den Unterschied zwischen Diplomatie und Appeasement erkennen kann.
<font color="#FF0000">Dass die Vereinten Nationen ("Sie haben die Macht, für die Sicherheit der Menschheit entschlossen einzutreten") das Schicksal des Völkerbundes erleiden könnten</font>, kündigte Bush schon bei seiner Rede am 12. September 2002 an, als er den"Fall Saddam" in New York vortrug. Dass der Krieg auch ohne Uno-Resolution stattfinden kann, wiederholt Bush bei jeder passenden Gelegenheit. Dass Amerika nicht einmal auf die militärische Unterstützung Großbritanniens größeren Wert legt, gab Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in schönstem Freimut zu erkennen - es war eine Ohrfeige für den britischen Busenfreund Tony Blair.
Gleichwohl führte die Rücksichtnahme auf die Schwierigkeiten des treuesten Verbündeten dazu, dass Washington die diplomatische Charade in der Uno nicht schon vorige Woche abblasen ließ. Tony Blair hat 45 000 Soldaten an den Golf geschickt. Der Briten-Premier braucht für eine Kriegsbeteiligung das Uno-Mandat einer zweiten Resolution, will er einer Meuterei in seiner Labour-Partei entgehen, die ihn sogar das Amt kosten könnte.
"Er spielt Churchill", sagt der Publizist Timothy Garton Ash über Blair, doch der legendäre Kriegspremier hätte sich nicht in eine solche Sackgasse manövriert. In überheblicher Unterschätzung von Franzosen, Russen und Chinesen, aber auch der sechs noch unentschlossenen kleineren Sicherheitsratsmitglieder glaubten Blair und Bush das oberste Uno-Gremium für einen Angriffskrieg funktionalisieren zu können.
Doch das ging schief. Mit elf zu vier stand die Verweigerungsfront gegen die gewünschte Ermächtigungsresolution erstaunlich fest, trotz aller Verlockungen und Drohungen. Um wenigstens eine"moralische Mehrheit" (Blair) für sich zu mobilisieren, hätten die USA, Großbritannien, Spanien und Bulgarien fünf der sechs Unentschlossenen auf ihre Seite ziehen müssen. Enthalten sich aber nur zwei der sechs, wäre die Resolution gescheitert, da Frankreich, Russland und China sowie Deutschland und Syrien ohnehin dagegenvotieren wollen.
Dieses Nein war unmissverständlich. Wenn Amerikaner und Briten noch eine winzige Hoffnung hegten, die Zustimmung der Uno für einen Krieg gegen den Irak zu bekommen, dann muss diese Illusion spätestens vorigen Montagabend geplatzt sein.
Fast beiläufig, ohne Dramatik in der Stimme und mit einem Lächeln, das ein reines Gewissen und ruhige Vernunft ausdrücken sollte, stellte Jacques Chirac klar, dass er bis zum Äußersten gehen würde:"Unter welchen Umständen auch immer, Frankreich wird mit Nein stimmen", verkündete Frankreichs Staatschef seine Entschlossenheit.
Und ebenso selbstgewiss machte er deutlich, dass dies kein"Non" aus Trotz und Starrköpfigkeit sei, wie Washington und London immer wieder behaupteten:"Eine große Mehrheit der Länder und Völker lehnt diesen Krieg ab. Frankreich ist nicht isoliert."
Am Ende der Woche hatte Chirac Recht behalten. Seine feste Haltung, davon ist der Präsident überzeugt, habe entscheidend dazu beigetragen, dass die unentschlossenen Mitglieder des Sicherheitsrats nicht zu den USA und Großbritannien überliefen.
Neue Vorschläge der Briten mit einem für Saddam erniedrigenden Sechs-Punkte-Forderungskatalog lehnte Außenminister Dominique de Villepin sofort ab -"noch vor den Irakern", schimpfte der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer. In London reagierte Außenminister Jack Straw voller Bitternis auf seinen"guten Freund Dominique". Er finde es unerhört, dass die französische Regierung beschlossen habe, diese Vorschläge zurückzuweisen, noch bevor sie die richtig zur Kenntnis genommen habe.
Doch Villepin hatte nur zu gut verstanden, was die Briten bezweckten: die"Logik des Ultimatums", die Automatik des Kriegs statt der von Frankreich verlangten"friedlichen Entwaffnung." Und aus Berlin sekundierte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung mit dem Postulat, dass"die Abrüstung des Irak von Massenvernichtungswaffen mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden kann und muss".
Voller Wut erklärten die Minister Ihrer Majestät"die Jagdsaison auf die Franzosen für eröffnet", wie der"Guardian" titelte. Chiracs"Unnachgiebigkeit" habe London und Washington um einen"moralischen Sieg" im Sicherheitsrat gebracht, tobte Premier Tony Blair. Frankreich habe den diplomatischen Prozess"vergiftet", bekräftigte sein Sprecher.
Doch Villepin blieb gelassen auf seinem von Chirac vorgezeichneten Kurs:"Der Ausweg aus der Krise besteht darin, ein glaubwürdiges Programm für die Arbeit der Uno-Inspektoren zu definieren und einen Zeitrahmen festzulegen, der es rasch ermöglicht, die Inspektionen zum Abschluss zu bringen."
Vier Monate hatte Frankreich dafür in seinem letzten Memorandum vorgeschlagen; man könne sich aber auch mit zwei oder sogar noch weniger zufrieden geben, deutete Villepin an, wenn die Inspektoren das für realistisch hielten - <font color="#FF0000">ganz gewiss aber nicht mit wenigen Tagen oder Wochen</font>.
Und auch dann gilt weiterhin das Prinzip: kein automatischer Kriegsbeginn, keine einseitige Entscheidung von Bush und Blair, sondern neue Prüfung der Abrüstungsergebnisse durch den Sicherheitsrat.
Franzosen und Deutsche hatte Bush längst abgeschrieben, doch die größte Enttäuschung für ihn kam unerwartet aus Moskau. Vorvergangenes Wochenende hatte der US-Präsident noch mit"Wolodja" telefoniert -"einem meiner engsten Freunde" und"echten Anti-Terror-Kämpfer", so der Texaner über den Kollegen Putin beim letzten Gipfel in St. Petersburg.
Nach dem Telefonat ließ er streuen, der Kreml-Chef werde bei einer Abstimmung über das Irak-Ultimatum auf ein Veto verzichten. Russland-Auguren bestärkten ihn darin: <font color="#FF0000">Moskau habe aus seiner Isolierung während des Kosovo-Konflikts gelernt und sich nach dem 11. September mit der amerikanischen Vormachtstellung abgefunden</font>.
Doch dann die Ernüchterung: Montag früh, kurz vor seinem Abflug zu Gesprächen in Iran, wischte Putins Außenminister Igor Iwanow mit einem Satz alle Hoffnungen vom Tisch: <font color="#FF0000">"Sollte die Resolution in den Rat eingebracht werden, wird Russland dagegenstimmen."</font>
Ein Alleingang der Amerikaner werde die Spannungen in der Region nur noch weiter verschärfen, erläuterte Iwanow die Veto-Ankündigung. Und: Weder die USA noch Großbritannien hätten das Recht, das Regime im Irak zu ändern.
Offenbar hatten Bushs Moskau-Experten die Zeichen nicht richtig zu deuten gewusst. Die Russen waren schon länger durch Washingtons Großmachtrhetorik irritiert - zumal die USA fast täglich ihre Spielregeln gegenüber dem Irak änderten und Russlands Streben, mittels fieberhafter Reisediplomatie auf die Bühne der Weltpolitik zurückzukehren, einfach übergingen.
Nun musste Amerikas Moskau-Botschafter Alexander Vershbow an die Front. Der hatte den Russen schon in der Woche zuvor zu verstehen gegeben,"dass das Maß ihrer Einbeziehung in ein Post-Saddam-Arrangement entscheidend davon beeinflusst wird, in welchem Maße sie die Lösung der Krise unterstützen".
Der studierte Osteuropa-Experte ließ alle diplomatischen Hemmungen fallen: <font color="#FF0000">Russlands Einknicken werde"Folgen haben", dräute er in der Moskauer"Iswestija" - und deutete sie auch gleich an: keine amerikanischen Investitionen im russischen Energiesektor, keine Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr, keine Aufträge für die Raumfahrtindustrie, wie den Russen nach der"Columbia"-Katastrophe in Aussicht gestellt</font>.
Russlands Elite allerdings, vorneweg das Militär, frohlockt. Ein Krieg gegen den Irak scheint ihr schon deswegen riskant, weil er die islamische Welt weiter radikalisieren würde - mit schlimmsten Auswirkungen auf Tschetschenien.
Und den vagen Lockungen der Amerikaner glaubt sie nicht. Washington habe schon früher bei kardinalen Fragen wie ABM-Vertrag oder Nato-Osterweiterung nie auf Moskau Rücksicht genommen. Selbst die avisierten Ã-lgeschäfte im Nachkriegs-Irak seien wohl ein Bluff, vermutet ein Moskauer Experte - nachdem die Bush-Administration bereits begonnen hat, Ã-lfirmen für die spätere Wiederherstellung der Infrastruktur rund um Bagdad zu benennen. Freilich ausschließlich amerikanische.
<font color="#FF0000">Das Hardliner-Trio USA, Großbritannien und Spanien wird die umstrittene Resolution womöglich gar nicht zur Abstimmung stellen, um einer politischen Schlappe zu entgehen</font>. Denn bei einer Ablehnung des Militäreinsatzes, das hatte Uno-Generalsekretär Kofi Annan bereits öffentlich erklärt, können sich die Kriegsbefürworter kaum auf frühere Resolutionen berufen.
Derweil setzt die"Koalition der Willigen" ihren Aufmarsch unvermindert fort. Rund eine viertel Million alliierter Soldaten warten inzwischen rund um das Zweistromland auf den D-Day. Über 500 Kampfflugzeuge können binnen Minuten zum Feindflug starten. Sie stehen an den Rollbahnen zahlreicher Luftstützpunkte der Region und in den Hangars von sechs Flugzeugträgern der Briten und Amerikaner, die im Mittelmeer und im Persischen Golf aufgefahren sind. <font color="#FF0000">Ein Hagel von 3000 präzisionsgesteuerten Bomben und Sprengköpfen soll binnen 48 Stunden auf den Irak niedergehen</font>.
Letztes Signal für den unmittelbar bevorstehenden Kriegsausbruch wird die Evakuierung der über 200 Uno-Inspektoren sein. Bush hat Chefwaffeninspektor Hans Blix ausreichende Zeit für den Abzug zugesichert, maximal wohl 72 Stunden.
Deprimiert verfolgen die Iraker den Exodus der Ausländer. Das sei"seelisch ein schwerer Brocken", beschreibt der deutsche Arzt Michael Paulus den Abschied der Uno-Beobachtermission Unikom in der demilitarisierten Zone an der irakischkuweitischen Grenze.
Ungewöhnlich scharf lehnte allerdings auch Bagdads Außenminister Nadschi Sabri den Forderungskatalog ab, mit dem die Briten den Irak unter Druck setzen wollen. Niemand werde"den Holocaust" überleben, der den Feinden des Irak im Krieg drohe. Eine Delegation arabischer Außenminister, die am Wochenende nach Bagdad kommen wollte, um - wie spekuliert wurde - Saddam den Rücktritt nahe zu legen, sah sich brüsk ausgeladen.
Markig und gelassen gibt sich der Despot. Saddam beschwört das Schicksal des Märtyrers Hussein und verteilt Geschenke - Lebensmittel, kostenlose Klimaanlagen, erhöhte Renten und Apothekenzulagen.
Feierlich beging der Irak am vergangenen Donnerstag den 10. des islamischen Monats Muharram - den Tag, an dem vor mehr als 1300 Jahren der Schiiten-Führer Hussein einer überlegenen Armee von Feinden unterlag."Auch Hussein hat Nein gesagt", titelten trotzig Bagdads gleichgeschaltete Tageszeitungen:"Sei gewiss, Irak, wie einst der Märtyrer Hussein, so tritt heute Saddam ein für das Land und das Volk."
OLAF IHLAU, SIEGESMUND VON ILSEMANN, ROMAIN LEICK, CHRISTIAN NEEF, MICHAEL SONTHEIMER, GERHARD SPÃ-RL, BERNHARD ZAND
Quelle: Spiegel
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Sascha
16.03.2003, 05:16
@ steve
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D-Day bei Vollmond |
--><font size=5>D-Day bei Vollmond</font>
Nachts zerrt der Wind an den Zelten. Gnadenlos schlägt er auf die Planen, als hagelte es Fausthiebe vom Himmel. Die Böen rasen durch Camp Virginia. Der Orkan drückt literweise Sand in die Unterkünfte und verwandelt die qualvoll engen Mannschaftszelte in qualmende Staubsaugerbeutel.
Dazu das gleichmütige Rattern der Dieselgeneratoren, welche die Zelte mit Strom versorgen. Zuweilen übertönen sie das Heulen und Klappern des Wüstensturms. An Schlaf ist nicht zu denken.
Camp Virginia liegt mitten in der kuweitischen Sandöde, nicht weit von der irakischen Grenze entfernt. Mehr als 8000 US-Soldaten - vom Fallschirmspringer bis zum Panzerpionier - warten hier an heißen Tagen und in kalten Nächten auf den Angriffsbefehl ihres Präsidenten.
<font color="#FF0000">Kaum jemand zweifelt daran, dass George W. Bush den schon bald erteilen wird</font>. Dann wäre auch das nervtötende Warten beendet."Niemand ist hier scharf auf den Krieg", sagt eine Soldatin,"aber wenn jetzt nicht bald eine Entscheidung gefällt wird, geht das auf die Stimmung der Truppe."
Ein ganzes Kantinenzelt samt Sitzbänken für ein paar hundert Soldaten hat der Sturm in der vergangenen Nacht aus der Verankerung gerissen. Nur ein paar Fetzen Stoff und zertrümmerte Holzbohlen sind am nächsten Morgen zurückgeblieben.
Die Schlangen vor dem anderen, vom Unwetter verschonten Essenszelt sind deshalb schon beim Frühstück 300 Meter lang. Es gibt Rührei mit gebratenem Speck und Kaffee, dazu Orangensaft aus Pappkartons - einstweilen noch alles wie zu Hause.
Die Kost wird sich ändern, wenn die Einheiten gen Nordwesten marschieren."Das ist dann so wie Camping unter sehr schlechten Bedingungen", beschreibt ein Major den bevorstehenden Einmarsch in den Irak. Doch solche witzig gemeinten Sprüche sind selten. Den Krieg gegen Saddam Husseins Armee nehmen die Soldaten ziemlich ernst. Selten kommt Gelächter auf.
Während die US-Armee etwa in Afghanistan oder im Kosovo-Krieg zuweilen gar nicht abwarten konnte loszuschlagen, um dem Gegner den Garaus zu machen, beginnen Ansprachen von Offizieren in Camp Virginia eher verhalten: <font color="#FF0000">"Unser Kommandeur will, dass wir alle nach Hause kommen!"</font>, sagt ein Oberst im Briefing für Offiziere."Aber der Weg nach Hause führt uns möglicherweise über diese große Stadt nördlich von uns. Lasst uns einfach den Job erledigen." Kein Hurra-Patriotismus, nur ein unsentimentaler Verweis auf das gelernte Handwerk.
Selbst auf den Chemietoiletten fehlen die obligatorischen forschen Sprüche oder Zoten an der Wand. Irgendjemand hat an diesem Ort aus den Psalmen zitiert:"Und wanderte ich auch im finsteren Tal, mir wird nichts mangeln. Der Herr ist mein Hirte."
Hat da jemand mit schwarzem Filzstift seine Angst bekämpft? Gibt es gegen die Furcht, Saddam könne womöglich doch Chemiewaffen einsetzen, überhaupt ein Rezept?
Gregg Martin, Kommandeur der 130. Pionier-Brigade, ist ein erfahrener Soldat. Doch diese Frage irritiert ihn."Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht", sagt er. Falls einer seiner Untergebenen Angst bekennen würde,"müsste ich wohl mit ihm reden", aber dazu hätte Martin wahrscheinlich gar keine Zeit.
In Camp Virginia herrscht hohe Betriebsamkeit. Seit ein paar Tagen gilt die Sicherheitsstufe, die für einen Einsatz von Chemiewaffen vorgesehen ist. Jeder Soldat muss seine Gasmaske am Körper tragen. Wenn Saddam Hussein seine Raketen schicken sollte, muss die Maske nach einem Gasalarm binnen sieben Sekunden fest im Gesicht sitzen. Unter Umständen kommt dann noch ein spezieller Schutzanzug hinzu, den die Soldaten in grünen Leinensäcken bei sich tragen - auch das ist seit einigen Tagen Pflicht.
Scharfe Munition wird ebenfalls seit kurzem ausgegeben, obwohl das immer wieder zu Unfällen beim Entsichern, Laden und Putzen der Waffen führen kann. Zwischen Washington, London, Paris und Berlin mögen Politiker noch am Termin für den D-Day herumzerren, hier, in Camp Virginia, galt vorige Woche das Datum, das der Präsident genannt hatte: <font color="#FF0000">Montag, 17. März, ausgerechnet eine Vollmondnacht</font>.
Ein Planungsoffizier eröffnet eine Besprechung im Kommandozelt mit einem zackigen Ruf, der offenbar der Wehrertüchtigung dient. Die Offiziere erwidern ihn etwas matt. Der Rest der Sitzung läuft dann ganz geschäftsmäßig mit Hilfe eines computergesteuerten Overhead-Projektors ab: Aufmarschpläne, Frontverläufe, Truppendiagramme. Was der Redner darlegt, wird von der Armeeführung"klassifiziert", das bedeutet:"Darüber dürft ihr nicht mal in der Kantine reden."
Denn seine Erläuterung zur Stabskarte ist gespickt mit"taktischen Informationen, die dem Feind sehr nützlich sein könnten". Zitierfähig sind allerhöchstens Sätze wie:"Die Aufgabe der Pioniere ist es, den Weg über die Grenze frei zu machen für das V. Korps." Erst wenn der Einmarsch Geschichte ist und die ersten irakischen Städte eingenommen sind, darf detailliert berichtet werden.
Noch Fragen? Die Offiziere bleiben stumm. Die Pläne kennen sie längst, mancher Teilnehmer ist schon seit September in Kuweit."Damals hieß es, wir rotieren nach einem Manöver wieder nach Hause", sagt eine Soldatin, und es klingt etwas vorwurfsvoll.
Die meisten Soldaten aus Camp Virginia sind normalerweise in Deutschland stationiert. Sie leben in Hanau, Bamberg oder Kaiserslautern. Das Hauptquartier des V. Korps liegt in Heidelberg. Hat das in der Bundesrepublik grassierende Pazifismus-Virus die Truppe etwa infiziert?"Ich weiß zwar nicht, was unsere Politiker da machen", bekennt ein Offizier,"aber ich weiß, was ich als Soldat zu tun habe, und das werde ich auch machen."
Am Abend fliegen F-16-Kampfjets über die Wüste und ziehen Kondensstreifen über den glühenden Sonnenuntergang. Doch für die Schönheit der Wüste hat hier kaum noch jemand einen Blick. Für die Einwohner von Camp Virginia war heute einfach ein Tag ganz kurz vor jenem, an dem der Krieg beginnt.
CLAUS CHRISTIAN MALZAHN
Quelle: Spiegel
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Sascha
16.03.2003, 05:21
@ steve
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"Kriegsgrund dringend gesucht" |
--><font size=5>"Kriegsgrund dringend gesucht"</font>
Fälschungen und Halbwahrheiten sollen die Angst vor Saddams Waffenarsenal verstärken.
Die Dokumente waren so jämmerlich gefälscht, dass kein Kriminalbeamter sie als Beweisstücke weitergereicht hätte: <font color="#FF0000">Eines hatte angeblich sogar der Außenminister der Republik Niger unterschrieben, obwohl er schon gar nicht mehr im Amt war</font>. Es ging um Uranlieferungen an Saddam Hussein und geheimnisvolle Besuche von Irakern in Afrika. Sonderbarerweise trug das Schriftstück vom Oktober 2000 einen Eingangsstempel vom September. Immerhin: Der Briefkopf war einmal korrekt gewesen, aber dem Fälscher war entgangen, dass das Ministerium zwischendurch seinen Namen leicht verändert hatte.
"Krude Fälschungen", beschwerte sich denn auch der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed al-Baradei, und nicht einmal die britische und die amerikanische Regierung, welche das vermeintliche Urangeschäft als Kriegsgrund gegen Saddam angeführt hatten, protestierten.
Dabei waren US-Präsident George W. Bush und Briten-Premier Tony Blair ganz verliebt in den Fund. Außenminister Colin Powell bezichtigte die Iraker sogar der Lüge, weil sie ihre Niger-Kontakte nicht gegenüber der Uno zugegeben hätten:"Warum verheimlicht das irakische Regime seine Uranbeschaffung?"
<font color="#FF0000">Das Aufbauschen und Fälschen hat Methode. Bush und Blair lassen seit Monaten Geheimdienstinformationen und Gerüchte anfetten, verschärfen und gezielt überinterpretieren</font>, um den Krieg gegen den Irak zu legitimieren. Dutzende der"sicheren Hinweise" aus London und Washington auf angebliche Giftküchen und unterirdische Waffenverstecke Bagdads sind inzwischen überprüft worden."Es war sinnvoll, auch solchen Informationen nachzugehen, um zu belegen, dass sich dort nichts befindet", spottete Baradeis Kollege Hans Blix. Seine Inspektoren nennen die Tipps schlicht"Müll". Bei deren Überprüfung sei"nichts, absolut nichts" herausgekommen. Das alles sähe aus, als würde ein"Kriegsgrund dringend gesucht".
Das Debakel kommt nicht unerwartet. Jahrelang hatten westliche Geheimdienste regelmäßig ihre Erkenntnisse über Iraks Waffenarsenal ausgetauscht.
Das Bild, das die amerikanische CIA, der britische MI6 und der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) zusammentrugen, war keineswegs entlastend, aber weit entfernt von den Schreckensmeldungen, die jetzt den Krieg legitimieren sollen.
Trotz des geltenden Embargos gingen die Iraker noch immer auf Einkaufstour: Nach Chemikalien, die sich auch für die Produktion von Kampfstoffen eignen, fragten sie in Indien; in Bulgarien orderten sie eine Impfstofffabrik, die ebenso gut für die Herstellung von Biowaffen taugt. Die Menge bestellter Nährlösungen für die Kultivierung von Bakterien überstieg deutlich den üblichen Krankenhausbedarf - ein weiteres Indiz für illegale Absichten.
Hinzu kamen Tausende Satellitenfotos, auf denen zu sehen war, dass viele der von den Amerikanern 1991 zerbombten Fabriken wieder aufgebaut worden waren."Der Irak wird alles tun, sein ABC-Waffenpotenzial, so weit es nur geht, zu erhalten", berichtete daraufhin der BND der Bundesregierung. Aber einen"rauchenden Colt", den untrüglichen Beweis für die Existenz der illegalen Waffen, fand niemand.
Ob Saddam tatsächlich neue Massenvernichtungswaffen produziert oder nur noch Restbestände versteckt, galt fortan auch unter Geheimdienstlern als Glaubensfrage. Es gäbe nicht einmal"konkrete Beweise, dass Saddam VX-Gas, Anthrax oder so etwas hat", behauptet Ex-CIA-Agent Robert Baer.
Der Erste, der Indizien zu angeblich unumstößlichen Beweisen aufpumpen ließ, war Tony Blair. Gegen die inständigen Bitten seines eigenen Geheimdienstes legte er im September ein 50seitiges Dossier vor, das bei der Unmovic inzwischen einen ähnlichen Ruf genießt wie das wenig später zum Teil aus einer Studentenarbeit abgepinnte Werk über Saddams Machtapparat.
Aus renovierten Fabriken wurden in dem Briten-Papier kurzerhand verbotene Produktionsstätten und aus möglichen Restbeständen biologischer oder chemischer Kampfstoffe ein Schreckensarsenal, das"binnen 45 Minuten" einsatzbereit sei. Auch die zuvor von allen Diensten geteilte Auffassung, Saddam arbeite derzeit nicht an Atomwaffen, wurde verworfen: Schließlich gab es doch den phantastischen Niger- Beweis.
Mehr als 550 Unmovic-Kontrollen haben bislang kaum Belastungsmaterial gegen Saddam liefern können. Tausende fälschungssichere Siegel haben die Inspektoren bereits in irakischen Fabriken angebracht. Mehr als 300 Proben auf Rückstände von Kampfstoffen wurden geprüft - ohne positiven Befund. <font color="#FF0000">Außenminister Powell ficht das alles nicht an:"Ich denke, wir haben bessere Informationen als die Inspektoren"</font>, sagte er.
<font color="#FF0000">Stimmt das, verstoßen auch die USA gegen die Uno-Resolution 1441. Die fordert nämlich alle Mitgliedstaaten auf, ihre Erkenntnisse über den Irak umgehend zugänglich zu machen</font>.
GEORG MASCOLO
Quelle: Spiegel
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Sascha
16.03.2003, 05:24
@ steve
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Griff nach dem Ã-l von Mossul |
--><font size=5>Griff nach dem Ã-l von Mossul</font>
Irakische Kurden fürchten die Türken mehr als den angeschlagenen Diktator von Bagdad. Ihre Kämpfer bereiten sich auf einen Zweifrontenkrieg vor.
Noch ist die Kälte ihr größter Feind. Nachts zieht sie in die Hütten des Flüchtlingslagers Banslawa ein. Die Fetzen alter Bananenkartons, die unter die Bast- und Wellblechdächer gestopft sind, dämmen kaum. Decken gibt es nicht. Nur ein, zwei alte Teppiche liegen auf dem feuchten Boden. Jeder wärmt sich am Körper des andern. Tagelang hat es geregnet.
Mit den ersten Sonnenstrahlen am Morgen suchen die Bewohner des Lagers die Wärme im Freien. Zwei alte Männer spielen Domino. Alle warten: auf etwas zu essen, auf Nachrichten aus dem Transistorradio - und auf die Amerikaner. Schon der nächste Tag, hoffen die Flüchtlinge, möge sie dem Ende des Regimes von Saddam Hussein wieder ein wenig näher bringen.
Nawal Ali, 36, zählt die Tage. Seit drei Jahren, fünf Monaten und knapp einer Woche lebt die Mutter von acht Kindern aus Kirkuk schon in diesem Lager in der Nähe von Arbil. Hundert Kilometer sind es von hier bis zu ihrem Haus, aber nur 30 Kilometer bis zur Frontlinie zwischen den selbst verwalteten Kurdengebieten im Nordirak und dem Reich Saddams.
<font color="#FF0000">Sollte der Krieg kommen, gibt es nirgendwo Schutz vor den Raketen des Diktators</font>. Doch Nawal Ali fürchtet sich nicht vor Saddam, dessen Schergen nicht nur ihre Familie malträtiert und vertrieben, sondern auch Tausende Landsleute mit Giftgasangriffen getötet haben. Dass zusammen mit den Amerikanern auch die Türken kommen könnten, macht ihr mehr Angst als jede irakische Unterdrückung."Das irakische Regime wird ohnehin gestürzt", sagt sie."Aber wir bringen doch nicht die Hunde von Saddam um, nur um sie dann durch türkische Schakale zu ersetzen."
Im Nordirak sehnen die Kurden den Krieg der Amerikaner und Briten gegen Saddam Hussein herbei. Die amerikanischen Pläne zur Neuordnung des Irak versprechen den vier Millionen Kurden ein Ende der Unterdrückung. Gleichwohl: Dem Traum eines unabhängigen kurdischen Staats haben sie selbst längst abgeschworen - jedenfalls offiziell.
Die Kurdenführer Dschalal Talabani und Massud Barsani fordern einen föderalen demokratischen Irak, in dem ihre Landsleute regionale Autonomie erhalten. Doch seit Ankaras Außenminister von türkischen Rechten an den Erdölvorkommen der irakischen Städte Mossul und Kirkuk sprach, fürchten die Kurden neue Fremdherrschaft. Seither bereiten sich die Zivilisten und Soldaten auf einen Zweifrontenkrieg vor.
Hinter den Aufmarschplänen der Türken, die im Nordirak einen etwa 200 Kilometer tiefen Sicherheitsstreifen besetzen wollen, wittern die Kurden Verrat."Als die Türken nach Zypern gegangen sind, haben sie auch behauptet, es diene dem Frieden und würde höchstens eine Woche dauern", sagt Saadi Pira, Fraktionsvorsitzender der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) im Parlament in Arbil,"und nun sind sie schon 30 Jahre dort."
Mit ihren angeblichen Ansprüchen auf irakisches Gebiet schüren die Türken täglich neue Angst. Dabei ist der völkerrechtliche Status der Provinz Mossul seit 1926 geklärt. Der Friedensvertrag zwischen der Türkei, dem Irak und Großbritannien legte die Grenzen des Nordirak fest und sicherte den Türken für 25 Jahre zehn Prozent der Einnahmen aus der Erdölförderung von Mossul zu.
Auch das Schicksal der turkmenischen Minderheit im kurdischen Nordirak wird gern angeführt als Rechtfertigung für ein mögliches Eingreifen Ankaras. Die Mitglieder der Turkmenischen Front in Arbil fühlten sich von den Kurden verfolgt, klagt ihr Sprecher Ibrahim Kasap. Wie groß die Zahl seiner unterdrückten Landsleute sei, wisse allerdings auch er nicht ganz genau. Offizielle Statistiken gebe es nicht. Aber mehr als 400 000 Turkmenen lebten allein in Arbil und Umgebung, sagt Kasap und erklärt drohend:"Wir haben die Türkei um Truppen gebeten."
Im Garten des turkmenischen Kulturzentrums in Arbil, nur ein paar Straßenzüge weiter, führt eine Folklore-Gruppe Tänze vor. Dort schätzt man die Zahl der Turkmenen sehr viel niedriger."Was die Turkmenische Front erzählt, sind einfach Lügen", sagt Ümed Halife, Vizepräsident des Vereins, dessen Zentrum vom kurdischen Regionalparlament finanziert und unterstützt wird; es gibt neun turkmenische Grundschulen in Arbil und vier weiterführende Schulen.
Diese Turkmenen fühlen sich nicht unterdrückt. Sie sehen sich zuallererst als Iraker. Eine türkische Invasion wäre für sie die gleiche Bedrohung wie für die Kurden auch."Die Türken benutzen uns doch nur als Vorwand für ihren Griff nach dem Ã-l von Mossul", glaubt ein Zuschauer der Folklore-Aufführung.
Seit die Uno am vergangenen Donnerstag mit der Evakuierung ihrer Mitarbeiter aus dem Nordirak begonnen hat, wächst die Wut der Kurden. Dass die humanitären Organisationen ausgerechnet kurz vor Beginn des Krieges die Menschen allein lassen, wird als nicht besonders humanitär empfunden. Die ersten neuen Flüchtlinge aus Saddams Herrschaftsbereich strömen bereits nach Norden über die Demarkationslinie.
Bevor sie von den irakischen Behörden unter Hausarrest gestellt oder deportiert werden können, sind sie im Morgengrauen aufgebrochen."Wir wollten nicht als Geiseln in Kirkuk bleiben", sagt die Witwe Resan Behaden.
Die Grenze zum Süden ist durchlässig. Nacht für Nacht schmuggeln kurdische Händler Waffen und Menschen herüber in den freien, kurdisch verwalteten Teil des Irak. Auf dem Waffenmarkt von Latif Awa bieten die Schmuggler stolz feil, was sie im Süden ergattern konnten. <font color="#FF0000">Hier gibt es alles - von der Kalaschnikow über Handgranaten bis hin zu Panzerfäusten</font>.
Die blitzblanke Neun-Millimeter-Beretta, die Ibrahim Lokman auf seinem kleinen Ladentisch präsentiert, stammt von einem Leutnant Saddams."Vor den Irakern müssen wir uns nicht fürchten", sagt er,"die stehlen Waffen aus den eigenen Lagern und verschachern sie an ihre Feinde."
Die Waffen verkauft er an jeden, der damit die Freiheit der Kurden verteidigen will - vor allem gegen die Türken. Er sagt:"Wir haben die irakische Diktatur nicht ertragen, wir werden auch die türkische nicht ertragen. Wir sind bereit."
CAROLIN EMCKE
Quelle: Spiegel
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Sascha
16.03.2003, 05:35
@ steve
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"Amerikas Macht wird gebrochen" (sehr interessant, viel Text, aus dem Spiegel) |
--><font size=5>"Amerikas Macht wird gebrochen"</font>
Der französische Historiker und Demograf Emmanuel Todd über die Auswirkungen eines Irak-Kriegs, den Niedergang der USA als alleiniger Supermacht und die Emanzipation Europas
SPIEGEL: Monsieur Todd, die USA scheinen fest entschlossen, sich notfalls über den Sicherheitsrat der Uno hinwegzusetzen. Zeigt das nicht, dass die Supermacht Amerika tun kann, was sie will?
Todd: Für mich beweist eine solche <font color="#FF0000">Rücksichtslosigkeit </font>eher, <font color="#FF0000">dass die USA am Verzweifeln sind, weil sie ihren Willen eben nicht mehr ohne weiteres durchsetzen können</font>. Es ist keine Heldentat, wenn ein hochgerüstetes Land mit 290 Millionen Einwohnern einen 23-Millionen-Staat angreift, der total ausgezehrt ist, kaum noch über schlagkräftige Streitkräfte verfügt und dessen Bevölkerung zur Hälfte aus Kindern und Jugendlichen besteht.
SPIEGEL: Warum können Chirac, Schröder und Putin den Mann im Weißen Haus dann nicht aufhalten?
Todd: <font color="#FF0000">Die amerikanische Diplomatie hat eine verheerende Niederlage erlitten</font>. <font color="#FF0000">Bush fürchtet die Lächerlichkeit, wenn er zurückweicht. Aber die Welt ist dabei, sich neu zu organisieren, an den USA vorbei. Ein Krieg gegen den Irak wird diesen Prozess nur noch schneller vorantreiben - für mich eine ziemlich atemberaubende Entwicklung, eine ungeheure Beschleunigung der Geschichte</font>.
SPIEGEL: Läutet die Irak-Krise das Ende der unipolaren Welt ein?
Todd:<font color="#FF0000"> Die uneingeschränkte Vorherrschaft Amerikas ist schon zerbrochen, und Bush kann sie nicht wiederherstellen</font>, auch wenn er in Bagdad einen Pyrrhussieg erringt. Ich muss Ihnen übrigens ein Kompliment machen. <font color="#FF0000">Deutschland hat daran einen ganz beachtlichen Anteil</font>.
SPIEGEL: Wie bitte? Bundeskanzler Schröder wurde im Wahlkampf wohl kaum von einer geostrategischen Vision getrieben.
Todd: Aber von der öffentlichen Meinung, und das Ergebnis ist eine strategische Veränderung. <font color="#FF0000">Wer hätte gedacht, dass Deutschland - ein halbes Jahrhundert lang ein Verbündeter ohne eigenen Willen - jetzt Nein zu Amerika sagen könnte? </font>Washington hat es am wenigsten geglaubt. <font color="#FF0000">Das deutsche Nein hat auch Frankreich in seinem Verhältnis zu Amerika befreit. Chiracs Veto wäre ohne Schröders frühzeitige Festlegung nicht möglich gewesen</font>. Für sich allein sind Frankreich und Deutschland mittlere europäische Mächte, <font color="#FF0000">zusammengenommen bilden sie eine Weltmacht</font>.
SPIEGEL: Übertreiben Sie da nicht gewaltig? Neben der Uno ist doch die Europäische Union das Hauptopfer der Krise. Beide präsentieren sich gelähmt und gespalten.
Todd: Das geht vorüber. Viel entscheidender ist, dass Bushs außenpolitische Brutalität das müde deutsch-französische Paar richtig auf Trab gebracht hat. <font color="#FF0000">Hier entsteht ein neuer Pol in der Welt, der schon genug Dynamik entfaltet hat, um auch Russland an sich zu binden</font>.
SPIEGEL: Handelt es sich nicht vielmehr um eine Zweckallianz, in der jeder der drei aus unterschiedlichen Motiven handelt und eigene Interessen verfolgt?
Todd: Diese Allianz mutet nur dann unwahrscheinlich an, wenn man noch in den ideologischen Kategorien des Kalten Kriegs denkt. Aber Russland ist kein gefährlicher Staat mehr, trotz seiner Gräuel in Tschetschenien. Es schreitet unverkennbar auf dem Weg der Demokratisierung fort. Hält man den alten Ost-West-Gegensatz für überwunden, erscheint es als völlig natürlich und normal, dass Frankreich, Deutschland und Russland sich zusammenfinden, um die hegemonialen USA im Nahen Osten einzudämmen.
SPIEGEL: Geht also der Streit um Krieg oder Frieden weit über den Irak hinaus? <font color="#FF0000">Steht Amerikas Macht in der Welt auf dem Spiel? </font>
Todd: Saddam Hussein ist in dieser Kraftprobe kein autonomer Gegenspieler, sondern nur eine Bauernfigur, ein idealtypischer Finsterling. Er soll in einem symbolischen Kriegsakt weggeräumt werden, damit das verunsicherte Amerika sich seiner Macht vergewissern kann. Das macht diesen Krieg zu einer Ersatzhandlung. Sie soll das wahre Ereignis, den 11. September 2001 und die Erfahrung der amerikanischen Verletzlichkeit, mit einem Schlag auslöschen. Nur kann dieser Exorzismus nicht funktionieren.
SPIEGEL: Will Bush Amerikas verwundete Seele heilen?
Todd: Am Tag, an dem der Krieg beginnt, wird Amerikas Macht gebrochen sein. Die USA erfinden sich unbedeutende Feinde wie den Irak, <font color="#FF0000">weil sie mit aller Gewalt den Eindruck erhalten wollen, das Zentrum der Welt zu sein</font>. <font color="#FF0000">Das weckt Angst, und die Angst schafft diplomatische und politische Gegengewichte</font>. Insofern ist es ganz bezeichnend, dass im Uno-Sicherheitsrat nicht alle einfach gekuscht haben Die Uno hat sich behauptet, keinesfalls selbst lahm gelegt.
SPIEGEL: Bricht Ihre ganze Theorie nicht in sich zusammen, wenn der Feldzug schnell und glatt verläuft und die Iraker die US-Soldaten wie Befreier bejubeln?
Todd: Oh, ich halte ein solches Szenario durchaus für vorstellbar. Aber es ändert nichts an meiner Analyse. Ein Befreier kann nach einer gewissen Zeit sehr wohl als Besatzer empfunden werden, gegen den sich Widerstand regt. <font color="#FF0000">Die USA können den Irak besiegen, aber nicht auf Dauer unter Kontrolle bringen</font>.
SPIEGEL: Weil eine Neuauflage des Kolonialismus heute nicht mehr möglich ist?
Todd: Auch die Kolonialherren glaubten an ihre zivilisatorische Mission, so wie Bush die Verbreitung der Demokratie predigt. Er verkennt dabei den inneren Widerspruch seiner Politik, die vorgibt, Demokratie und Freiheit in die arabische Welt zu bringen, im selben Atemzug sich aber bedenkenlos die Freiheit nimmt, notfalls gegen die Charta der Vereinten Nationen und gegen den Willen der internationalen Gemeinschaft zu verstoßen. <font color="#FF0000">Ich glaube, dass diese US-Regierung ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie hat</font>.
SPIEGEL: Im Umgang mit ihren Partnern vielleicht, da sie nach der unglückseligen Maxime handelt, wer nicht für sie sei, sei gegen sie. Aber im Innern ist doch die amerikanische Demokratie nicht ernsthaft gefährdet.
Todd: Da wäre ich mir nicht so sicher. Die US-Gesellschaft ist von vielfältigen sozialen und kulturellen Brüchen durchzogen. <font color="#FF0000">Der Zusammenhalt schwindet. Ein großer Teil der Bevölkerung geht nicht mehr zur Wahl. Die Elite befindet sich in einer Krise</font>. Neben die alten demokratischen Prinzipien ist etwas Neues getreten - ein oligarchisches, plutokratisches, militaristisches System, das um sich schlägt, wenn es sich in Bedrängnis wähnt.
SPIEGEL: Und was soll diese Verwandlung von einer wohlwollenden zu einer repressiven Hegemonialmacht ausgelöst haben?
Todd: Das allmähliche Bewusstwerden ihrer eigenen Schwäche und ihres Niedergangs. <font color="#FF0000">Die USA hatten die neunziger Jahre wie in einem realitätsblinden Rausch erlebt. Der Kommunismus war besiegt, totgerüstet, wie man sich gern einredete, die neoliberale Globalisierung triumphierte. Jetzt werden die Amerikaner in einem schmerzhaften Prozess mit der Wirklichkeit konfrontiert</font>. <font color="#FF0000">Das theatralische militaristische Gestikulieren dient dazu, diesen Prozess zu verdrängen und zu verschleiern. Das ist das klassische Symptom einer Großmacht im Abstieg</font>.
SPIEGEL: Die absolute militärische Macht der USA ist doch eine Realität.
Todd: Sie werden sehen, dass sich die Welt mit militärischen Mitteln nicht mehr beherrschen lässt. Die Amerikaner werden irgendwann aus dem Persischen Golf verschwinden müssen. Der wahre, fundamentale Antagonismus, der dahinter zum Vorschein kommt, <font color="#FF0000">ist der heraufziehende Konflikt zwischen der Wirtschaftsmacht Europa und der Militärmacht Amerika</font>.
SPIEGEL: Da kann es doch kaum Zweifel geben, wer daraus als Sieger hervorgehen wird. Ist der von Ihnen behauptete Niedergang Amerikas nicht höchst relativ?
Todd: Natürlich sind die USA immer noch die stärkste Macht der Welt, <font color="#FF0000">aber sie werden ihre Position als alleinige Supermacht verlieren</font>.<font color="#FF0000"> Es kann gut sein, dass schon die Expedition gegen den Irak die finanziellen Ressourcen der USA überfordert. Washington kann sich seinen gigantischen Militärapparat auf Dauer nicht mehr leisten</font>.
SPIEGEL: Präsident Bush will den Verteidigungshaushalt für 2004 wieder erhöhen, um 4,1 Prozent...
Todd: <font color="#FF0000">... und die Defizite explodieren</font>. Wenn dieser Krieg ohne Ermächtigung der Uno stattfindet, werden die Europäer sich nicht an den Kosten beteiligen. Der Golfkrieg 1991 wurde bezahlt, zu einem guten Teil von Deutschland und Japan. Diesmal werden die USA die Zeche allein zu tragen haben.
SPIEGEL: Den Krieg können die Amerikaner allein gewinnen. Brauchen sie für den Frieden und den Wiederaufbau Hilfe?
Todd: <font color="#FF0000">Sie können keine Besatzungsmacht von 200 000 Soldaten jahrelang im Irak belassen. Das US-Militär scheut die Präsenz am Boden</font>. Das hat sich im Kosovo genauso wie in Afghanistan erwiesen. Wenn Washington aber nach seinem Sieg die Uno, die Nato und die EU zu Hilfe ruft, ist es nicht mehr alleiniger Herr im Land. Die USA brauchen die Welt, von der sie abhängig geworden sind, sie haben nicht genug Geld, sie produzieren nicht genug Güter, <font color="#FF0000">ihre industrielle Schwäche ist eklatant, aber sie wollen in der Illusion weiterleben, dass sie unersetzlich für die Welt sind</font>.
SPIEGEL: Das ist doch keine Illusion. Die USA sind nach wie vor eine unverzichtbare Lokomotive der Weltwirtschaft. Ihre Wirtschaft ist robuster, wächst schneller, schafft mehr Jobs als die europäische.
Todd: Das täuscht. Das Problem der USA ist die schleichende Entindustrialisierung. Die europäische Industrieproduktion übertrifft die der USA bei weitem, auch in der Spitzentechnik. Airbus ist dabei, Boeing zu überholen. <font color="#FF0000">Die amerikanische Gesellschaft konsumiert mehr, als sie produzieren kann</font>.
SPIEGEL: Das heißt, sie lebt auf Kredit?
Todd: <font color="#FF0000">Das Defizit in der Handelsbilanz ist dramatisch angestiegen - von 100 Milliarden Dollar 1990 auf fast 500 Milliarden heute. Vom Volumen her ist das ohne Beispiel in der Geschichte. Die USA sind abhängig geworden vom internationalen Finanzzustrom. Der Rest der Welt schießt ihnen Geld vor, damit sie weiter importieren und konsumieren. Aber das kann nicht ewig gut gehen. Bald platzt auch diese Blase</font>.
SPIEGEL: Gilt Amerika den internationalen Anlegern nicht immer noch als sicherster Hafen für ihr Kapital?
Todd: <font color="#FF0000">Die Dollar-Schwäche ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieses Vertrauen schwindet</font>. Die Bilanzskandale großer Unternehmen, eine fragwürdige Wirtschafts- und eine <font color="#FF0000">unverantwortliche Haushaltspolitik </font>beginnen die Investoren zu verschrecken. Selbst US-Experten sagen der Regierung Bush eine <font color="#FF0000">fiskalische Krise größten Ausmaßes voraus</font>.
SPIEGEL: Nur ist das kein Grund zur Schadenfreude, Europa und der Rest der Welt würden davon nicht unberührt bleiben.
Todd: Ja, es ist absolut beängstigend, dieses Umkippen der USA vom Ordnungs- zum Unordnungsfaktor mitansehen zu müssen. Amerika war über ein halbes Jahrhundert die Lösung für die Welt, jetzt ist es zum Problem geworden. <font color="#FF0000">Das 21. Jahrhundert wird, anders als das 20., nicht amerikanisch sein</font>.
SPIEGEL: Unterschätzen Sie nicht, wie so viele Europäer, die Dynamik der USA, ihre Regenerationsfähigkeit, ihre Kraft, sich nach Rückschlägen wieder voller Optimismus aufzurichten?
Todd:<font color="#FF0000"> Der Glaube an Amerikas innere Kraft könnte sich als einer der gefährlichsten Irrtümer der Gegenwart herausstellen. In Wahrheit sind es die europäischen Länder, die sich immer wieder aufgerichtet haben. Frankreich, diese alte Nation, hüpft seit über tausend Jahren wie ein Tennisball durch die Geschichte. Deutschland hat sich mehrere Male erholt, nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach den napoleonischen Feldzügen, nach 1945</font>. Russland ist dabei, seinen Kurs wiederzufinden. <font color="#FF0000">Amerika dagegen hat in den über 200 Jahren seines Bestehens im Grunde nur eine Erfahrung gemacht: dass es immer nach oben geht</font>.
SPIEGEL: Und jetzt zweifelt es an sich selbst?
Todd: Bush und sein Team sind gefährlich, weil sie sich der Realität widersetzen. <font color="#FF0000">Sie spüren, sie sehen die Anzeichen des Niedergangs, aber sie wollen sie nicht wahrhaben. Das treibt sie paradoxerweise zu einer Politik, die Amerikas Vorherrschaft zerstören wird. Der Irak wird dafür die erste große Etappe sein</font>.
SPIEGEL: Sie haben 1976 in Ihrem ersten Buch die Auflösung des Sowjetsystems vorausgesagt. Sind Sie jetzt nicht dabei, am Beispiel Amerika einem schwarzen Geschichtsfatalismus zu erliegen?
Todd: Sie haben Recht, es gibt keine Fatalität in der Geschichte. Vielleicht beruhigen sich die Regierenden in den USA wieder, vielleicht bleibt Bush eine Episode, vielleicht findet Amerika zu sich selbst zurück, zu seiner Demokratie und seiner wirtschaftlichen Umstrukturierung...
SPIEGEL: ... und wenn nicht?
Todd: Dann bekommen wir es mit einer Nation zu tun, die ihr Gleichgewicht verloren hat, ihre Ressourcen erschöpft hat, fundamental unproduktiv bleibt, sich deswegen immer räuberischer benimmt - und die Welt mit ins Desaster reißen kann.
SPIEGEL: Monsieur Todd, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Quelle: Spiegel
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stocksorcerer
16.03.2003, 10:18
@ Sascha
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Richtig spannendes Interview |
-->Ziemlich selten, dass ich jemanden lese, bei dem ich eine so große Überschneidung bei der Einschätzung und Bewertung zu diesem Thema feststellen kann."Weltmacht Amerika - Ein Nachruf" werde ich mir ganz sicher noch besorgen. Hat es schon jemand gelesen?
winkäää
stocksorcerer
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stocksorcerer
16.03.2003, 11:16
@ Sascha
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Danke für´s reinstellen:-) (owT) |
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mira
16.03.2003, 12:18
@ stocksorcerer
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Re: Richtig spannendes Interview |
-->nicht nur gelesen, sondern auch bereits hier zitier:
Lies mal meinen Beitrag im thread unten zu"cross border leasing" Geschäften.
Im übrigen ist dieses Buch sehr interessant, da es ungewöhnliche und auch originelle Sichtweisen auf die uns seit jahrzehnten bekannte Welt bringt, über die diskutiert werden kann. Kann ich nur empfehlen. Viel Spaß damit
Grüße
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stocksorcerer
16.03.2003, 13:01
@ mira
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Re: Richtig spannendes Interview |
-->Danke Mira,
diese Passage habe ich bereits in dem von Dir angesprochenen Thread gelesen, zumal ich auch zu den ersten gehörte, die sich über das Cross-Border-Leasing aufgeregt haben. Bei mir in Bochum gibt´s auch Querelen wg. des Kanalnetzes.
Ich danke für Deine Meinung. Mich interessierte natürlich ganz allgemein das Buch. [img][/img]
winkääää
stocksorcerer
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Frank
16.03.2003, 14:39
@ stocksorcerer
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Danke auch fürs Reinstellen (Drucker druckt gerade...) (owT) |
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Kallewirsch
16.03.2003, 20:51
@ stocksorcerer
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Hier noch ein Interview mit Todd |
-->Falls Fehler auftauchen: Der Text ist eingescannt (NZZ am Sonntag vor ca. 2 Wochen)
Beeindruckend der Mann!
Hier der Text:
Das eingebildete Imperium
Macht und Einfluss der USA werden kolossal überschätzt, sagt der französische Historiker und Demograph Emmanuel Todd. Ein amerikanisches Imperium werde es nicht geben. Die Welt sei zu gross und zu dynamisch, um sich von einer einzigen Macht beherrschen zu lassen. Für Todd, der 1976 in einem Buch den Zerfall der Sowjetunion vorausgesagt hat, steht ausser Frage: Der Niedergang Amerikas als Supermacht hat schon begonnen. Von Martin A. Senn und Felix Lautenschlager
NZZ am Sonntag: Herr Todd, Amerika sei wirtschaftlich, militärisch und ideologisch zu schwach, um die Welt wirklich zu beherrschen, schreiben Sie. Das werden viele Antiamerikaner gerne lesen. Aber wieso soll das mehr sein als Wunschdenken eines Intellektuellen aus dem traditionell sehr USA-kritischen Frankreich?
Emmanuel Todd: Das hat weder mit Wunschdenken noch mit Antiameri-kanismus zu tun. Wieso würde ich sonst vor allem von links kritisiert? Die Zeitung der französischen Berufs-Antiamerikaner, «Le Monde diplomatique», hat als einziges grosses Blatt mein Buch totgeschwiegen. We Überschätzung Amerikas ist für diese Leute eine Lebensgrundlage. In diesem Punkt treffen sie sich mit den amerikanischen Ultrakonservativen- Die einen machen Amerika mächtiger, als es ist, um es zu verteufeln, die ändern, um es zu verherrlichen.
Sie hingegen müssen sich vorwerfen lassen, Amerika zu unterschätzen.
Das tue ich nicht. Die USA sind immer noch die stärkste Macht der Welt, aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass sie daran sind, ihre Position als alleinige Supermacht einzubüssen.
1976 habe ich in meinem Buch «La chute finale» («Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft») aufgrund der damaligen Indikatoren den Fall der Sowjetunion vorausgesagt Jetzt komme ich aufgrund demographischer, kultureller, militärischer, monetärer und ideologischer Analysen zum Schluss, dass der zweite Pol der damaligen bipolaren Weltordnung nicht die einzige Supermacht bleiben wird Die Welt ist zu gross und zu vielschichtig, um die Vorherrschaft einer einzigen Macht zu akzeptieren. Das amerikanische Imperium wird es nicht geben.
Wenn man anderen glaubt, gibt es dieses amerikanische Imperium längst. «Gewöhnt euch dran!», schrieb unlängst die «New York Times» auf dem Titelbild ihres Wochenendmagazins.
Das ist interessant. Jetzt, wo der Begriff nicht mehr der Realität entspricht, wird er überall verwendet. Als er noch eine reale Grundlage hatte, brauchte ihn kaum jemand.
Dann sind Sie also doch der Meinung, es habe ein amerikanisches Imperium einmal gegeben?
Die amerikanische Hegemonie ab Ende des Zweiten Weltkrieges bis indie späten achtziger Jahre hatte in den entscheidenden Bereichen - Militär, Wirtschaft, Ideologie - eindeutig im-periale Qualität. 1945 wurde die Hälfte aller Güter der Welt in den USA hergestellt Es gab zwar einen kommunistischen Block in Eurasien, Ostdeutschland und Nordkorea. Aber die starken amerikanischen Streitkräfte, die Marine und die Luftwaffe, übten die strategische Kontrolle über den Rest des Planeten aus - mit der Unterstützung oder zumindest dem Einverständnis vieler Alliierter, deren Hauptziel der Kampf gegen den Kommunismus war. Dieser Kommunismus hatte zwar hier und dort Zulauf unter Intellektuellen, Arbeitern und Bauern. Aber insgesamt installierten die USA ihre Hegemonie mit dem Einverständnis eines grossen Teils der Welt Es war ein heilvolles Imperium. Der Marshall-Plan war ein vorbildlicher politischer und wirtschaftlicher Akt. Amerika war über Jahrzehnte eine «gute» Supermacht.
Jetzt ist es eine schlechte?
Sie ist vor allem viel schwächer geworden. Amerika hat nicht mehr die Stärke, um die grossen strategischen Akteure - allen voran Deutschland und Japan - kontrollieren zu können.
Die industrielle Basis ist deutlich kleiner als jene Europas und etwa gleich gross wie jene Japans. Bei doppelt so vielen Einwohnern ist das kein besonderer Leistungsausweis. Das Handelsdefizit beträgt inzwischen 500 Milliarden Dollar - pro Jahr. Das militärische Potenzial ist zwar immer noch das weitaus grösste der Welt, aber es ist rückläufig und wird überschätzt Bei der Benützung von Militärbasen sind die USA auf den guten Willen der Alliierten angewiesen, und diese sind nicht mehr so wohlwollend wie auch schon. Vor diesem Hintergrund ist der theatralische militärische Aktivismus gegen unbedeutende Schurkenstaaten zu sehen. Er ist ein Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke. Schwäche aber macht unberechenbar. Die USA sind daran, für die Welt zu einem Problem zu werden, wo wir uns daran gewöhnt hatten, in ihnen eine Lösung zu sehen.
Angenommen, Sie hätten Recht: Me soll das blühende Imperium so rasch in den Untergang schlittern?
Zwischen den USA und ihren geo-polit i sehen Interessensphären hat sich - zunächst langsam und kaum merklich, dann immer rascher - eine Schere aufgetan. Ab Beginn der siebziger Jahre öffnete sich ein Handelsdefizit. In diesem zunehmend asymmetrichen globalen Prozess spielten die USA die Rolfe der Konsumenten und die übrige Welt jene der Produzenten. Von 1990 bis heute ist das Handelsdefizit von 100 auf 500 Milliarden Dollar geschnellt. Finanziert wurde dies mit Geldern und Kapitalien, die in die USA flössen. Allmählich ging es den Amerikanern wie den Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert, als sie vom Gold aus der Neuen Welt überschwemmt und in die Unproduktivität getrieben wurden. Man schlemmte und prasste und geriet wirtschaftlich und technologisch immer mehr in Rückstand.
Amerika ist doch immer noch der Inbegriffför wirtschaftliche und technologische Kompetenz.
Wenn ich von Wirtschaft spreche, dann meine ich nicht die inzwischen verblasste Neue Ã-konomie, sondern den industriellen Kern mit seinen Spitzentechnologien. Da fallen die USA dramatisch zurück. Europäische Anleger haben in den neunziger Jahren zwar in den USA viele Milliarden verloren, die amerikanische Wirtschaft aber ein ganzes Jahrzehnt. Das Handelsdefizit resultiert inzwischen nicht mehr aus dem Import von Guem niedriger und mittlerer Technologie. 1990 noch hatten die USA für 35 Milliarden mehr Spitzentechnologie exportiert als importiert. Inzwischen ist ihre Handelsbilanz sogar bei diesen Topgütern negativ. Bei der Mobilkommunikation hinken die Amerikaner weit hinterher. Die finnische Nokia ist viermal so gross wie die amerikanische Motorola. Mehr als die Hälfte der Satelliten werden inzwischen mit europäischen Ariane-Raketen ins All geschossen. Airbus ist daran, Boeing zu überholen: Das wichtigste Transportmittel für den Personenverkehr in der globalisierten Welt wird also künftig in Europa hergestellt. Das sind die Dinge, auf die es wirklich ankommt Das ist weit entscheidender als ein Krieg gegen den Irak.
Sie wollen sagen: Die USAßihren die falsche Schlacht am falschen Ort?
Die Führung der USA weiss nicht mehr, wohin sie will. Sie weiss, dass sie auf das Geld der übrigen Welt angewiesen ist, und verspürt Angst, zu nichts mehr zu taugen. Es gibt keine Nazis und Kommunisten mehr. Während eine sich demographisch, demokratisch und bildungspolitisch stabilisierende Welt begreift, dass sie immer weniger auf Amerika angewiesen ist, entdeckt Amerika, wie sehr es auf die Welt angewiesen ist. Deshalb stürzt es sich in militärische Aktionen und Abenteuer. Das ist klassisch.
Klassisch?
Ja. Die letzte Überlegenheit, welche den USA noch bleibt, ist ihr Militär. Das ist klassisch für ein System, welches zerfallt Den krönenden Abschluss bildet jeweils der Militarismus. Beim Zerfall des sowjetischen Imperiums war der Kontext genau derselbe. Mit der Wirtschaft ging es bachab, und in der Führung kam Angst auf. Der militärische Apparat gewann massiv an Gewicht, und die Russen zogen ins Abenteuer, um ihre wirtschaftlichen Defizite zu vergessen. Die Parallelen zur aktuellen Situation (kr USA sind offenkundig. Der Prozess hat sich in den letzten Monaten rasant beschleunigt.
Wo sehen Sie Indikatoren ßir diese Entwicklung?
In der europäischen Politik und der Dollarschwäche. In meinem Buch suggeriere ich, dass eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland wahrscheinlich sei. Inzwischen haben der deutsche Kanzler Schröder und Frankreichs Präsident Chirac meine «Historiker-These» mit ihrer gemeinsamen Haltung gegen Bush bekräftigt. Die über Erwarten prompte und hefige Reaktion von U S-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld richtet sich nach seinen Worten zwar gegen das «alte Europa». In Tat und Wahrheit hat er Angst vor dem neuen Europa, und zwar sehr grosse Angst.
Inzwischen haben sich allerdings acht andere europäische Staaten verlauten lassen, nicht im Sinne der deutsch-französischen Achse.
Das wirklich Entscheidende ist in Deutschland passiert. Amerika kann sich als alleinige Supermacht nur halten, solange es die Kontrolle über Deutschland und Japan behält, beides sind riesige Kreditoren der USA. Deshalb kann man die historische Bedeutung dessen gar nicht überschätzen, dass ein deutscher Kanzler die Wahlen mit einem Nein zum Irak-Krieg, also mit einem Nein gegen die USA, gewonnen hat
Und die Dollarschwäche?
Für mich als Historiker ist der Dollarkurs ein Mentalitätsindikator. Er reflektiert das Bewusstsein der internationalen Wirtschaftsführer über die Wirklichkeit der US-Wirtschaft. Dass der Dollar derart schwach ist, lässt darauf schliessen, dass sie die Lage als weit schlimmer einstufen, als sie öffentlich dargestellt wird. Fakt ist ja: Die Truppen für den Irak-Krieg, der als so einfach dargestellt worden ist, sind immer noch nicht bereit. Nach einem Jahr Hin und Her versuchen die diplomatisch schwergewichtigen Deutschland und Frankreich, diesen Krieg zu verhindern, und die meisten ändern Alliierten beteiligen sich daran nur verbal, nicht finanziell. Sich auf einen Krieg am ändern Ende 6er Welt einzulassen, mit einem Handelsdefizit von 500 Milliarden Dollar pro Jahr, mit Freunden, die nicht bezahlen wollen, und einem derart schwachen Dollar, das ist ein ganz schönes Risiko.
In Zukunft, schreiben Sie, werde es drei oder vier starke Pole geben, wovon der einflussreichste Europa sein werde. Rechnen Sie mit einer künftigen SuperÂmacht Europa?
Eine Arbeitsthese meines Buches «Apres rempire» ist, dass der Begriff der militärischen Kontrolle der Welt keinen Sinn mehr machen wird. Was das Militärische angeht, kann künftig von einem Gleichgewicht auf der Weh ausgegangen werden. Ein nukleares Gleichgewicht gibt es ja nach wie vor zwischen den USA und Russland. Die Idee, man könne Teile der Welt durch militärische Operationen kontrollieren, ist passe, weil unrealistisch. Man kann Regime zerstören und ihre An
lagen bombardieren, wie es die Amerikaner in Afghanistan getan haben. Die Bevölkerungen, einschliesslich jener in der Dritten Welt, sind heute so weit alphabetisiert und gebildet, dass man sie nie wird rekolonialisie-ren können. Die einzige Macht, die heute noch wirklich entscheidend ist, liegt in der Wirtschaft.
Und wirtschaftlich trauen Sie Europa dasZeiigzur Weltmacht zu?
Warum nicht? Man sagt zwar oft und gerne, die Europäer seien etwas naiv und passiv. Man wirft ihnen vor, die militärische Rüstung vernachlässigt zu haben. Wenn man aber sieht, dass militärische Macht nicht mehr die wahre Macht ist, und wenn man sieht, dass die Amerikaner mittelfristig meht mehr die wirtschaftlichen Mittel haben werden, um ihren Militärapparat zu bezahlen, dann kommt man zum Schluss: Die Europäer haben das Richtige gemacht. Sie haben auf die Wirtschaft gesetzt. Sie haben den Euro eingeführt. Ihre Industriepotitik ist insgesamt recht kohärent und beständig. Der Airbus ist nur ein Beispiel. Europa ist gut gerüstet.
Woför ist Europa «gerüstet»?
Für den Konflikt, der eben beginnt zwischen den Amerikanern, die den Krieg gegen den Irak wollen, und den Europäern, die ihn letztlich nicht wollen. Der Irak, der nahe bei Europa liegt, ist auch für die Europäer und Japaner der Lieferant von Ã-l. Aber sie können sich dieses kaufen, mit dem Geld, das sie hei ihren
Exporten verdienen. Sie sind wirtschaftlich stark genug, sie müssen den Irak nicht militärisch zu beherrschen suchen. Die Amerikaner hingegen haben mit ihrem gigantischen Handelsdefizit kaum mehr die Mittel, um für ihren Ã-lverbrauch zu bezahlen. Deshalb ist für sie die militärische Kontrolle dieser Region auf der ändern Seite der Welt vital Vordergründig geht es um Krieg oder nicht Krieg. In Wahrheit geht es wahrscheinlich schon um die Frage, ob der Irak in die Interessenzone Europas oder Amerikas gehört.
Wer wird in diesem Kampf um Einflusssphären gewinnen?
Auffällig ist, wie ungeschickt die USA vorgehen und wie weit sie vom Universalismus abgerückt sind. Sie sehen die Welt nicht mehr, wie sie wirklich ist, Es gelingt ihnen nicht mehr, ihre Alliierten fair und ausgeÂwogen zu behandeln. All das erinnert mich an das Deutschland Wilhelms 1L Die USA verlieren laufend Alliierte. Man hat den Eindruck, es gebe in einem Washingtoner Büro einen Beamten, der den Auftrag habe, jeden Tag eine Idee auszubrüten, um den USA einen neuen Feind zu schaiTen.
Wäre es denkbar, dass Europa eines Tages die Stelle von Amerika einnimmt?
Es wird nie mehr eine alleinige Weltmacht geben. Neben den USA, Europa und Japan wird auch Russland wieder aufkommen. China, mit seiner heute noch schwachen Technologie, wird bald dazustossen. Insgesamt aber stagnieren die traditionellen Gross-mächte alle. Dafür holt die Dritte Welt auf. Und das gibt doch eigentlich Anlass zu Hoffnung.
«Apres lf empire»
Emmanuel Todd, 52-jährig, ist Historiker und Politologe am nationalen Institut für Demographic in Paris. In seinen Forschungen untersucht er den Aufstieg und den Niedergang von Völkern und Kulturen über Tausende Jahre,
In seiner neuesten Publikation prognostiziert Todd den Niedergang der USA als alleinige Supermacht: «Apres I'em-pire. Essai sur la decomposition du sys-teme am&kam» (Editions GaHimard 2002). Mit einer ähnlichen Arbeit hatte Todd bereits 1976 Aufsehen erregt. Damals kündigte er aufgrund von Indikatoren wie der zunehmenden Kindersterblichkeit den bevorstehenden Zusammenbrach der Sowjetunion an. («La chute finale. Essais sur la decomposition de la sphere sovietique», Edition Robert Laf-font; Deutsch: «Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft», Ullstein 1982.)
1995 fand der Gaullist Jacques Chirac in den Schriften Todds die Inspiration für seine Wahlkampagne zum Thema der sozialen Ungleichheit. Er gewann die Wahl und wunde Präsident.
Todd studierte Politikwissenschaften am Institut des Etudes Politiques in Paris und doktorierte in GeschichtswissenÂschaften an der Universität Cambridge.
«Den Amerikanern geht es wie den Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert, die aus Goldüberfluss unproduktiv wurden.»
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