Sascha
24.03.2003, 02:59 |
Aus dem Spiegel 13/2003 -owT- Thread gesperrt |
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Praxedis
24.03.2003, 03:18
@ Sascha
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Die Amerikaner hatten kein Verdun |
-->Ziehen die Amerikaner nach dem Irak-Krieg gegen andere Nationen los? Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hielte eine solche Serie neuer"Abrüstungskriege" für verhängnisvoll. Im SPIEGEL-Gespräch kritisiert er den amerikanischen Umgang mit der Uno - und ruft Europas Politiker auf, endlich ein Gegengewicht zu bilden.
Hamburg/Berlin - Unter dem Eindruck des Krieges im Irak warnte Fischer davor, Demokratie und Abrüstung auch künftig mittels militärischer Gewalt durchzusetzen."Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass wir vor einer Serie von Abrüstungskriegen stehen", sagte Fischer in einem SPIEGEL-Gespräch. Er forderte, Instrumente für friedliche Lösungen den Vorzug zu geben und Möglichkeiten der Uno fortzuentwickeln.
"Es darf nicht sein, dass wir am Ende nur noch die Alternative haben, entweder eine furchtbare Gefahr bestehen zu lassen oder aber in einen Abrüstungskrieg getrieben zu werden." Der Außenminister kritisierte, dass Amerika sich nicht den Regelwerken der internationalen Ordnung unterwerfe.
"Einsatz der militärischen Potenz"
Zwar sei die"Macht der USA für Frieden und Stabilität in der Welt ein ganz entscheidender Faktor", räumte Fischer ein."Doch eine Weltordnung kann nicht funktionieren, in der das nationale Interesse der mächtigsten Macht das Definitionskriterium für den Einsatz der militärischen Potenz dieses Landes ist." In der Welt müssten"die gleichen Regeln für die Großen, die Mittleren und die Kleinen gelten".
Eine Alternative zu den Vereinten Nationen und dem Weltsicherheitsrat sieht Fischer derzeit nicht, eine Rolle Amerikas als alleiniger Weltpolizist lehnte er ab. Zwar sei die militärische Macht der Amerikaner unerreicht. Politisch aber würden sie schnell an ihre Grenzen kommen, wenn sie die Interessen der anderen Mitglieder der Staatengemeinschaft nicht beachteten.
"Hat nichts mit Feigheit und Schwärmerei zu tun"
Es habe in der Irak-Frage keinen"echten transatlantischen Dialog" gegeben, bedauerte Fischer. Dies sei indes nicht allein Schuld der Amerikaner, sondern auch dadurch begründet, dass die Europäer zu spät in die strategische Diskussion eingeschaltet hätten. Die Europäische Union müsse die Konsequenzen daraus ziehen, stärkere Institutionen aufbauen und einen starken europäischen Außenminister bestimmen.
Scharfe Kritik übte Fischer an den Ideen führender Neokonservativer aus den USA. So sei die Theorie des Politologen Robert Kagan"bizarr", wonach Europäer von der Venus stammen - Träumereien vom ewigen Frieden anhängen, während Amerikaner vom Mars kämen und die harten Realitäten der Weltpolitik akzeptierten. Wer Europa kenne, wisse, dass der Kontinent im Gegenteil Jahrhunderte lang Metzeleien erlitten habe.
"Zeichen demokratischer Reife"
Wenn man nun den Anspruch vertrete, Konflikte friedlich zu lösen, habe das nichts mit Feigheit oder Schwärmerei zu tun." Amerika hingegen habe viel weniger katastrophale Krieg erlitten als Europa."Die Amerikaner hatten kein Verdun auf ihrem Kontinent. In den USA gibt es nichts mit Auschwitz oder Stalingrad Vergleichbares".
Fischer rechtfertigte die frühe Festlegung der Bundesregierung gegen einen Irak- Krieg. Regierungen wie die Großbritanniens und Spaniens, die eng an der Seite der USA stehen, hätten heute wegen der Gegnerschaft in der Bevölkerung"so große Probleme, dass es teilweise an die Grenze der demokratischen Destabilisierung" gehe. Die Bereitschaft,"in existenziellen Grundsatzfragen durchaus auch gegenüber befreundeten Regierungen" anderer Meinung zu sein, nannte er dagegen ein"Zeichen demokratischer Reife".
<ul> ~ Q: SPIEGEL-Online</ul>
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Sascha
24.03.2003, 03:25
@ Sascha
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Titelartikel: Höllenfeuer in Bagdad |
--><font size=5>Höllenfeuer in Bagdad</font>
Mit verheerenden Luftschlägen auf die Hauptstadt versuchte Washington, Saddam Husseins Militärs zur frühzeitigen Kapitulation zu zwingen. Setzen die Iraker jedoch ihren Widerstand fort, droht womöglich ein blutiger Endkampf in der Fünf-Millionen-Metropole.
Die Stadt am Tigris lag wie erstarrt, schockgefroren angesichts der nahenden Verheerung. Alles Leben schien erstorben in Bagdad, seit Fernsehstationen weltweit verbreitet hatten,"A-Day" sei angebrochen, die Zeit von"Schock und Schrecken".
<font color="#FF0000">Die alten B-52-Bomber aus den Zeiten des Kalten Kriegs und ihre moderneren Varianten vom Typ B-2 mit ihrer tonnenschweren Bombenlast schwebten längst in der Luft, nur noch wenige Stunden entfernt von ihren irakischen Zielen</font>. Hunderte Marschflugkörper steckten abschussbereit in den Startcontainern der alliierten Flottenverbände im Mittelmeer und im Persischen Golf. Die Koordinaten der Paläste, Kommando-Bunker und Nachrichtenzentralen längst einprogrammiert in ihren Steuerungscomputern.
<font color="#FF0000">Es war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm</font>. Dann plötzlich, gegen 20 Uhr Ortszeit, zerriss das nervenzehrende Geheul von Luftschutzsirenen die gespenstische Stille. Leuchtspurgranaten aus Hunderten Flugabwehrkanonen und der Feuerschweif gen Himmel jagender Raketen zeichneten glühende Spuren in den nachtschwarzen Himmel über der gelähmten Metropole. Angesichts des scheinbar Unvermeidlichen hatte Bagdad nicht einmal sein Heil in Verdunklung gesucht.
Ängstlich dachten viele Hauptstadtbewohner an das Gewitter aus Bomben und Raketen, das vor kaum mehr als zwölf Jahren über die Fünf-Millionen-Metropole hereingebrochen war. Doch nur der Auftakt ähnelte dem des Golfkriegs von 1991.
Sekunden später brach ein nie zuvor erlebter Furor mit unheimlicher Präzision herein: In rascher Folge tauchten Explosionsblitze die Stadt in grelles Licht, als immer neue Marschflugkörper mit schrillem Jaulen in ihre Ziele flogen.
<font color="#FF0000">Glühende Splitter, Rauch und Trümmer schienen Hunderte Meter hoch in die Luft zu wirbeln, wenn mit betäubendem Getöse amerikanische"Bunker Buster" tief vergrabene Betonburgen aus ihren unterirdischen Verstecken sprengten. Qualm und Feuerschein legte sich über das Zentrum des Zweistromlandes, an dem vor Jahrtausenden die Wiege menschlicher Zivilisation gestanden hat</font>.
Eine Bilderflut rot glühender Explosionswolken, steil in den Himmel aufschießender Flammen, gigantischer, <font color="#FF0000">dicht hintereinander gestaffelter Rauchpilze am Ufer des Tigris</font>, achteinhalb Minuten lang, die Nacht zum Tag machend, ein Kaleidoskop der Vernichtung, sofort und für immer eingebrannt in die Erinnerung Hunderter Millionen Fernsehzuschauer - der Abend, an dem Saddams Reich in Schutt und Asche versank, an dem seine Stadtpaläste barsten, Flammen aus seinen Ministerien und Polizeizentralen schlugen, machte auch dem letzten Zweifler überdeutlich: Der Mann im Weißen Haus, der nach knapp zwei Tagen eher verhaltener Kriegführung am Freitagabend seine Luftwaffe entfesselt hatte, wird sich nicht mit einem interpretierbaren Kriegsausgang zufrieden geben. Die Operation"Freiheit für den Irak" wird erst zu Ende sein, wenn der Herrscher in Bagdad seinen Thron geräumt hat -"tot oder lebendig", wie es George W. Bush in der handfesten Sprache seiner Heimat Texas so gern ausdrückt.
<font color="#FF0000">Dresden kam vielen Beobachtern in den Sinn, als die Bilder von unbändiger Sprenggewalt und gnadenloser Zerstörungskraft live rund um den Erdball gesendet wurden. Wie 1945, als in der Elbmetropole etwa 35 000 Menschen ums Leben kamen, wurde nun an den Ufern des Tigris Bombenterror für die Freiheit entfacht</font>.
Ahnungsvoll, dass die Bilder vom flammenden Inferno, von dem nicht nur Bagdad, sondern auch andere Städte Mesopotamiens heimgesucht worden waren, die nordirakischen Ã-lmetropolen Mossul und Kirkuk vor allem, das Ansehen der Supermacht noch weiter schädigen könnten, wehrte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld alle Vorwürfe prophylaktisch ab:
Völlig unzutreffend der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg. Damals seien"dumme Bomben" über große Flächen ausgestreut worden. Diesmal jedoch hätten"smart weapons" mit ungeheurer Präzision genau jene Punkte getroffen, die zuvor anvisiert worden seien. Noch Hunderte Ziele würden in den kommenden 24 Stunden ähnlich genau vernichtet, drohte Generalstabschef Richard Myers.
<font color="#FF0000">Erst nach Ende der Kämpfe wird sich herausstellen, was wirklich dran ist an der in Afghanistan, während der Balkan-Konflikte und auch schon 1991 fälschlich erhobenen Behauptung, Krieg ließe sich mittlerweile dank zielgenauer Waffen mit nur noch minimalen Schäden für die Zivilbevölkerung führen</font>. Doch die Bilder aus Bagdad von der vergangenen Freitagnacht machten ganz unzweifelhaft deutlich: Ein Mittel des blanken Entsetzens, der heillosen Einschüchterung ist auch die genaueste Bombe, wenn sie mitten unter der Zivilbevölkerung einschlägt, die zu schützen eines der vornehmsten Ziele des Völkerrechts ist.
Wie ein sicherer Sieger hatte US-Präsident Bush nicht ausgesehen, als er am Mittwochabend im Weißen Haus verkündete, dass die Zeit für Saddam Hussein abgelaufen sei. Sein Mund war noch schmallippiger als gewöhnlich erschienen; der harte Rhythmus seiner markigen Sätze hatte schlecht zu dem unsicher wirkenden Mienenspiel gepasst.
Und auch der Krieg, der Stunden vorher begonnen hatte, sah anfänglich gar nicht danach aus, dass hier"die tödlichste Kampfmaschine der Welt", wie sich das US-Militär gern selbst lobt, die einzigartige Machtposition Amerikas einmal mehr eindrucksvoll bestätigen soll. Im Gegenteil.
Nichts lief, wie es die Auguren des Pentagon angekündigt hatten. Statt eines zweitägigen Feuerzaubers verfehlten rund 40"Cruise Missiles" und zwei Tarnkappenbomber vom Typ F-117 in der Nacht zum Donnerstag das wichtigste Kriegsziel - Saddam Hussein und seine engsten Vertrauten. Wen sie stattdessen trafen, vermochten Washingtons Auswerter tagelang nicht zu beantworten.
Als kaum 15 Stunden später der Bodenkrieg begann, mussten britische und amerikanische Marineinfanteristen sowie die 3. US-Infanteriedivision vorrücken, ohne dass der Kampfeswille der Iraker zuvor durch das angedrohte gnadenlose Bombardement gebrochen worden war.
Die ersten uniformierten Opfer wurden denn auch nicht von den schlecht gerüsteten Verteidigern des Zweistromlands gemeldet. Vielmehr zerbarst ein Transporthubschrauber der Angreifer auf dem harten Wüstenboden an der Nordgrenze von Kuweit. Acht Royal Marines und die vierköpfige amerikanische Besatzung starben in den Trümmern des Helikopters, der nach US-Darstellung einem technischen Defekt, nicht feindlichem Feuer zum Opfer gefallen war.
Das jedoch wurde wenig später einem Kampfhubschrauber der US-Marines zum Verhängnis, der seiner Einheit den Weg zur strategisch wichtigen Hafenstadt Umm Kasr bahnen sollte. Die beiden Piloten konnten verletzt geborgen werden.
Angreifende amerikanische Ledernacken gerieten bereits 200 Meter jenseits des Grenzzauns unter heftigen Beschuss."Unerwartet schweres Abwehrfeuer", meldete ein atemloser Reporter per Handy seinem Heimatsender:"Wir suchen Schutz hinter allem, was Deckung bietet." Zwei amerikanische Marineinfanteristen fielen der irakischen Gegenwehr zum Opfer.
Erst am Freitagmittag wurde klar, dass diese Kette von Unglücksfällen ein falsches Bild der Lage gezeichnet hatte. <font color="#FF0000">Der Aufschub des großen Bombardements hatte in Wahrheit nur einem Ziel gedient: So schnell wie nur irgend möglich wollten die Angreifer Bagdad erreichen</font>. Dort wollte der Kriegsherr Bush die Entscheidung erzwingen - und zwar mit einem Coup, der seine Kritiker bis auf die Knochen blamiert hätte. Mit dem Eilmarsch auf Bagdad, aber auch mit allen Tricks psychologischer Kriegsführung wollte Washington die irakischen Kommandeure zur Aufgabe überreden. <font color="#FF0000">Erst als das bis zum Freitagabend nicht geklappt hatte, begann die Vernichtung von Saddams Armee in blutiger Ernsthaftigkeit</font>.
Mehr Glück als ihre amerikanischen Kameraden hatten die britischen Royal Marines zu Kriegsbeginn. Sie landeten mit ihren Hubschraubern vom Typ"Sea Stallion" auf der Halbinsel Fao und konnten bei geringer Gegenwehr wichtige Ã-lanlagen sichern. Schon Stunden später begann der Vorstoß auf Basra, Iraks zweitgrößte Stadt.
Mit Fao und dem einzigen Tiefwasserhafen des Irak Umm Kasr eroberten die Schocktruppen der alliierten Marineinfanterie einen immens wichtigen Brückenkopf als Einfallstor für den Nachschub der nach Norden vorrückenden Invasionsarmee von bald 200 000 Soldaten. <font color="#FF0000">Tausende Tonnen Wasser und Verpflegung sowie über 50 Millionen Liter Treibstoff für alle Militärfahrzeuge müssen täglich an die Front geschafft werden</font>. Nur über einen Seehafen lassen sich solche Mengen verlässlich umschlagen.
Aus Jordanien und wohl auch aus dem Norden Saudi-Arabiens waren derweil Special Forces und andere Elitetruppen zu Tausenden in die westliche Wüste des Irak eingerückt, obwohl beide Länder offiziell deutliche Distanz zu Washingtons Kriegsplänen gehalten hatten. Die US-Truppen suchten auf dem Weg nach Bagdad irakische Raketenstellungen, aus denen heraus Israel angegriffen werden könnte. Zwei strategisch bedeutsame Flugstützpunkte fielen nach wenigen Stunden in ihre Hände.
Auch die 3. Infanteriedivision der U. S. Army konnte rasche Erfolge melden. Durch panzerfreundliches Wüstengelände rollte sie von Kuweit - praktisch ohne Gegenwehr - so schnell nach Norden, dass sie schon nach wenigen Stunden Gefahr lief, ohne Sprit auf den viel langsameren Nachschub warten zu müssen. Noch am Freitag hatten die schweren Kampfpanzer M1A1"Abrams" und die"Bradley"-Schützenpanzer des 7. Kavallerieregiments der Amerikaner beinahe den halben Weg nach Bagdad zurückgelegt.
<font color="#FF0000">In"drei bis vier Tagen" stünden die Alliierten in der Hauptstadt, triumphierte reichlich siegesgewiss Hauptmann Al Lockwood, der Sprecher der britischen Truppen im weit vom Kriegsgeschehen entfernten Katar</font>. Aus dem von Amerikanern eroberten Ort Safwan konnten die Fernsehsender auch jene Bilder zeigen, auf die es den Amerikanern angekommen war: Glückliche Iraker jubeln den Invasoren zu, reißen die Bilder des verhassten Diktators von den Hauswänden.
Die meisten Militärexperten waren sich bald einig: Es muss den Amerikanern möglichst schnell gelingen, jeden noch vorhandenen Widerstandswillen der Iraker zu brechen. Sonst steht den Invasoren beim Sturm auf die Fünf-Millionen-Metropole Bagdad womöglich ein blutiges Ende des Feldzugs bevor."Bislang läuft immer noch manches nach Bagdads Plan", warnte am Freitagnachmittag denn auch der US-Stratege Kenneth Pollack, unter Präsident Bill Clinton Irak-Experte im Nationalen Sicherheitsrat.
Ohne Zweifel, militärisch werden die USA letztlich obsiegen. Die Frage ist nur: <font color="#FF0000">wie schnell und zu welchem Preis?</font> Den möglichst hochzutreiben ist Saddam Husseins einzige Chance."Wir knicken nicht ein", versicherte Vizepräsident Taha Jassin Ramadan in einem SPIEGEL-Interview am Donnerstag (siehe Seite 27). Das kann dem Regime nur gelingen, wenn seine Truppen zu ihm stehen, zumindest aber die rund 100 000 Mann der Republikanischen Garde und anderer Eliteeinheiten, die in und um Bagdad Verteidigungsstellungen bezogen haben.
Bis zum Beginn der großen Bombenkampagne jedenfalls waren die Iraker noch nicht in jenen Massen geflohen, auf die Washingtons zögerlicher Kriegsbeginn gezielt hatte. Nur um die Desertation ganzer Großverbände, mit denen angeblich bereits über E-Mails und am Handy verhandelt wurde, nicht zu gefährden, hatten die Pentagon-Strategen den geplanten Gewaltschlag zum Auftakt des Kriegs verschoben."Was wir bislang gemacht haben", höhnte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld,"war offenbar nicht überzeugend genug."
Doch schon bald nach dem Schockbombardement gaben die ersten Einkeiten auf. Und während im Hauptquartier des US-Geheimdienstes CIA in Langley (Virginia) vor den Toren Washingtons die Experten noch rätselten, ob der anfängliche Enthauptungsschlag gegen das Saddam-Regime nicht doch erfolgreich war, meldete sich der Raïs höchstselbst über die Fernsehschirme. Wie zur Bestätigung des irakischen Verteidigungswillens schlugen fast gleichzeitig die ersten Raketen auf kuweitischem Boden ein.
Immer wieder heulten in Kuweit-Stadt die Sirenen, eilten die Menschen in die Bunker, mussten auch die Angreifer ihre Masken und Schutzanzüge überziehen (siehe Seite 26). Allgegenwärtig war die Furcht, der mesopotamische Despot könne versuchen, den Aufmarsch seiner Feinde mit Massenvernichtungswaffen zu zerschlagen.
Der erste irakische Flugkörper detonierte nahe dem Hauptquartier der US-Marines in Camp Commando - ohne Schaden anzurichten. Der nächste wurde erst mit der dritten"Patriot"-Abwehrrakete vom Himmel geholt. Die Bilanz der Raketenverteidigung blieb gemischt - einige anfliegende Raketen wurden getroffen, andere kamen durch, schlugen allerdings harmlos in der Wüste ein.
Wirkung erzielte Saddam hingegen auf den Ã-lfeldern: Sieben brennende Quellen zählten die Briten allein im grenznahen Rumeila-Gebiet.
Aus der ergiebigen Ã-lförderregion bei den Städten Kirkuk und Mossul im Norden des Irak kamen widersprüchliche Meldungen. Zunächst hieß es, amerikanische Special Forces hätten die offenbar weithin verminten Bohrlöcher bereits gesichert. Wenig später musste ein Kurden-Sprecher dementieren: Truppen des 1. Korps der Republikanischen Garde kontrollierten nach wie vor die Region.
Regelmäßig rief Informationsminister Mohammed Saïd al-Sahaf seine Landsleute zum Widerstand auf. Der neben ihm stehende Innenminister Mahmud Diab al-Ahmed, den Finger am Abzug einer Maschinenpistole, versprach, Bagdad werde zum"Krematorium für die Angreifer", ein Höllenfeuer, das alle vernichte.
Am Samstagmorgen trat al-Sahaf noch einmal vor die Kamera. Vor dem Hintergrund eines zerstörten Ministeriums sagte er:"Saddam lebt. Er hat alles im Griff."
WER SADDAM NICHT MIT HITLER GLEICHSETZTE, WURDE ALS APPEASEMENT- POLITIKER ABGETAN.
Und so, mit den nach Bagdad hastenden Kolonnen amerikanischer und britischer Verbände, mit brennenden Ã-lquellen und zu Trümmern gesunkenen Palästen begann der Krieg des George W. Bush. Er hat ihn gewollt, und er hat ihn bekommen. Nun belegt der Waffengang, dass Bush viel von jener Risikobereitschaft besitzt, die Amerika von seinen Präsidenten erwartet - und mindestens ebenso viel von der Arroganz einer Supermacht, die der übergroße Rest der Welt für eine Gefahr hält.
<font color="#FF0000">Seit Harry Truman, der die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki werfen ließ, habe sich kein Amtsinhaber im Weißen Haus auf ein vergleichbares"Spiel mit dem Schicksal" eingelassen</font>, schreibt die"New York Times". Die Kuba-Krise hat die Sowjetunion mit ihren Atomwaffen für Kuba ausgelöst, worauf John F. Kennedy reagieren musste. In den Vietnam-Krieg sind die Vereinigten Staaten erst nach und nach hineingeschlittert, ehe sie ihn zu ihrem größten moralischen Desaster im 20. Jahrhundert machten. Und den Krieg gegen Afghanistan hätte Amerika ohne die mörderischen Anschläge am 11. September 2001 nicht geführt.
Doch der zweite Feldzug der Amerikaner am Golf ist ein Krieg, für den ausschließlich Bush die Verantwortung trägt. Um ihn zu führen, hat er alte Verbündete abgewertet und die militärische Macht aufgewertet. Wer seinen Wünschen im Wege war, ob die Vereinten Nationen oder ein paar Vertreter des"alten" Europa, wurde der Bedeutungslosigkeit geziehen. Wer Saddam nicht mit Hitler gleichsetzte und ihn auch nicht für die größte aller Gefahren hielt, wurde in Washington zu den Appeasement-Politikern gezählt.
<font color="#FF0000">Dabei krönt der Krieg eine Phase beispiellosen Versagens der amerikanischen Außenpolitik. Dass US-Präsidenten die Welt fast immer neu entdecken, wenn sie ins Amt kommen, gehört zu den Gepflogenheiten in Washington, an die sich die Verbündeten mehr oder weniger gewöhnt haben</font>. <font color="#FF0000">Dass aber ein Präsident erst acht Monate lang mit Alleingängen so ziemlich alle Welt vor den Kopf stößt, dann - nach dem 11. September 2001 - weltweite Solidarität erfährt, sie aber binnen kurzer Zeit wieder verspielt, ist auch für amerikanische Verhältnisse ein Novum</font>.
Die Nation, die sich so gern an ihrer unvergleichlichen Machtfülle berauscht, wurde auf einmal von kleinen wie mittleren Mächten vorgeführt. Nicht einmal ein Angebot von 15 Milliarden Dollar erwies sich als ausreichend, um dem türkischen Parlament die Zustimmung abzuringen, 62 000 Soldaten des Nato-Partners USA im eigenen Land zu stationieren. Nachdem der neue Premierminister Tayyip Erdogan mühsam die Zustimmung der Abgeordneten durchsetzte, den Angreifern wenigstens die Überflugrechte einzuräumen, marschierte die türkische Armee gegen den Wunsch der Amerikaner im Nordirak ein. Nun droht ein neuer Kurden-Krieg (siehe Seite 38).
<font color="#FF0000">45 Staaten seien in der"Koalition der Willigen" vertreten, brüstete sich Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Etliche von ihnen mochte er jedoch öffentlich nicht nennen, um die Freunde nicht bloßzustellen</font>.
Und selbst unter denen, die öffentlich auf Kriegskurs gegangen waren, befanden sich erkennbar viele, deren Hauptinteresse es war, rechtzeitig auf Seiten des Siegers zu stehen: Spaniens José MarÃa Aznar, der in der Entscheidung für Bush die Rückkehr seines Landes auf die weltpolitische Bühne zu erreichen sucht, <font color="#FF0000">will allenfalls ein Lazarettschiff zu Hilfe schicken</font>. Italiens Silvio Berlusconi, ebenfalls stolz darauf, zum neuen Europa der Bush-Freunde zu gehören, nannte zwar den Krieg"legitim", beteuerte aber, <font color="#FF0000">Italien werde nicht mitkämpfen</font>.
In Bulgarien, das im Sicherheitsrat stets auf Seiten der USA stand, knöpfte sich der Präsident seine eigene Regierung vor:"Ich kann diesen Krieg nicht akzeptieren", sagte Georgi Parwanow und warnte seinen Premierminister, er gefährde die Aufnahme Bulgariens in die Europäische Union.
Andere Bush-Freundschaften nahmen Schaden: Russlands Staatspräsident Wladimir Putin nannte den Militäreinsatz gegen den Irak einen"großen politischen Fehler" und forderte ein schnelles Ende der Kampfhandlungen. Die Staatengemeinschaft könne nicht zulassen,"dass internationales Recht durch das Faustrecht ersetzt" werde, bei dem"nur der Starke immer Recht" habe.
Auch die Aussagen der anderen Kriegsgegner im Sicherheitsrat waren eindeutig: Frankreichs Präsident Jacques Chirac fürchtete, der Krieg könne in einer"humanitären Katastrophe" enden, der Sprecher des Pekinger Außenministeriums, Kong Quan, nannte ihn einen"Verstoß gegen die Normen internationaler Beziehungen".
Im Übrigen waren es die muslimischen Länder, bei denen der Unterschied zu ihrem Verhalten im Golfkrieg von 1991 am deutlichsten wurde. Saudi-Arabiens König Fahd, damals ein Waffengefährte von Bush Sr., ließ seinen Bruder Kronprinz Abdullah eine Rede verlesen, die klarstellte, dass das Königreich keinen Krieg gegen Bagdad führt:"Kein saudischer Soldat wird irakischen Boden betreten." Die indonesische Präsidentin Megawati Sukarnoputri beklagte einen"Akt der Aggression, der gegen internationales Recht verstößt".
Ägyptens Präsident Husni Mubarak, seit langem ein erbitterter Gegner des irakischen Staatschefs, ließ zwar seine Polizei aufmarschieren und Wasserwerfer auffahren, um randalierende Demonstranten in Schach zu halten, doch sogar er wandte sich gegen die Kriegspolitik seiner Washingtoner Freunde.
In den Moscheen der arabischen Welt verkündeten Prediger, ein neuer Kreuzzug habe begonnen, in dem die Krieger des Westens zum Kampf gegen die Rechtgläubigen angetreten seien. <font color="#FF0000">Nach dem Freitagsgebet lieferten sich Jugendliche in vielen arabischen Hauptstädten Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Beim Versuch, die US-Botschaft im Jemen zu stürmen, gab es vier Tote</font>."Bush ist das Kunststück gelungen", höhnte der"New York Times"-Korrespondent Thomas Fried- man angesichts weltweiter Ausschreitungen,"einen globalen Popularitätswettbewerb gegen Saddam zu verlieren."
Natürlich stellten sich auch Amerikaner die Frage, weshalb das Land nun"auf den Ruinen der Diplomatie" ("New York Times") die Invasion beginnen müsse. Denn in Wahrheit war Präsident Bush schon zum Krieg entschlossen, als er im September vor die Vereinten Nationen trat, um den Fall Saddam zur Anklage vor der Weltöffentlichkeit zu bringen. Vielleicht wäre die Kalkulation sogar aufgegangen, <font color="#FF0000">doch Bush hielt es für ratsam, mit Nötigung und Druck zu operieren, anstatt für seine Sache zu werben</font>.
<font color="#FF0000">Am Ende führte die Ungeduld des Präsidenten mit dem langsamen Verfahren, mit den Inspektoren und den obstinaten Mitgliedern des Sicherheitsrats zur diplomatischen Katastrophe</font>. Plötzlich ging es ums Ganze: Unilateralismus gegen Multilateralismus, Krieg gegen Frieden, Europa gegen Amerika - und darum, ob sich die Vereinten Nationen durch Unterwerfung unter die Vormacht irrelevant machen oder durch Resistenz gegen sie. Jetzt ging es mehr um Amerika als um den Irak.
An Überzeugungskraft fehlte es dem US-Präsidenten aber auch, weil er für den Krieg gegen den Irak wechselnde Gründe genannt hatte. Ein Leitmotiv für den Sturm nach Bagdad wurde einmal mehr in der Präsidentenrede vom vorigen Montag deutlich. Da schwang Angst mit vor einer Wiederholung der Anschläge vom 11. September."Anstatt einer Tragödie entgegenzutreiben", lautete der Kernsatz des Präsidenten,"nehmen wir Kurs auf unsere Sicherheit." Mit der Gegenwehr zu warten sei"Selbstmord".
Zwei Tage darauf, als er den Beginn des Kriegs erklärte, spitzte er diesen Gedanken weiter zu:"Wir werden dieser Bedrohung jetzt mit unserem Heer, unserer Luftwaffe, der Flotte, der Küstenwache und den Marines begegnen, damit wir ihr nicht später mit Armeen von Feuerwehrleuten, Polizisten und Ärzten auf den Straßen unserer Städte begegnen müssen."
Sechs eindeutig definierte Ziele will Washington mit dem Feldzug gegen Bagdad erreichen:
<ul type=disc>
~ die Entmachtung Saddam Husseins ("regime change")
~ den fortdauernd territorialen Zusammenhalt des Irak
~ die Beseitigung von Massenvernichtungswaffen
~ eine Demonstration der Durchsetzungsfähigkeit der Vereinigten Staaten gegenüber der islamischen Welt;
~ die Zerstörung jeder Verbindung des Irak mit dem internationalen Terrorismus sowie
~ eine möglichst geringe Anzahl amerikanischer Verluste und ziviler Opfer.
</ul>
Das Ziel des Despoten aus Bagdad hingegen ist denkbar einfach: Es geht um das Überleben seines Regimes an der Macht. Gelingt ihm das selbst für wenige Wochen, geraten die Angreifer in Verlegenheit.
Ein solches Hinauszögern des angeblich unvermeidlichen Sieges ist der düsterste Alptraum von General Tommy Franks. Der Feldherr, der zeitgleich mit dem Beginn des Angriffs auf Bagdad in Afghanistan erneut 1000 Soldaten in einer Großoffensive nach versprengten Qaida-Terroristen, vor allem aber nach deren Chef Osama Bin Laden suchen ließ, führt auch den Krieg gegen Saddam."Er ist intelligent und schnell, vor allem aber kennt er seine Materie", rühmt Rumsfeld den Vier-Sterne-General.
Viele Beobachter in Washington sehen in dem zurückhaltenden Soldaten allerdings auch das Alter Ego des flamboyanten Pentagon-Chefs. Die beiden haben sich zusammengerauft: Rumsfeld war stets der risikobereite Antreiber, Franks der Bremser, der sich eher an erprobte Rezepte hält.
Vor allem dank der gewaltigen technologischen Überlegenheit der Koalitionstruppen glaubt Franks allerdings nicht, dass sich Saddam an der Macht halten kann. Die meisten Experten geben ihm Recht."Wir werden schnell gewinnen", prophezeite vergangenen Freitag der amerikanische Konteradmiral John Kelly.
Saddam Husseins Kalkül sieht naturgemäß genau das Gegenteil vor. Er hat schon einmal eine vernichtende Niederlage durch die USA im Amt überlebt und weiß daher, dass er den Amerikanern an Kampfkraft hoffnungslos unterlegen ist. Gelänge es seinen Streitkräften, den Feind in einen Abnützungskrieg in den Städten zu verwickeln, sähe sich Saddam womöglich auf der Gewinnerstraße. <font color="#FF0000">Einen Monate dauernden, verlustreichen Häuserkampf werde Bush politisch nicht durchhalten, hofft der Gewaltherrscher</font>.
In diese Falle will Washington auf keinen Fall geraten. Die Isolierung des Despoten und die Zerschlagung seines Regimes so schnell wie möglich ist daher erste und wichtigste Aufgabe des Pentagon.
Diesem Ziel galt schon der Eröffnungsschlag des Kriegs - der nachts um 5.34 Uhr Ortszeit im Süden der irakischen Hauptstadt niederging. Sechs amerikanische Kriegsschiffe im Roten Meer und im Persischen Golf hatten rund 40"Cruise Missiles" gestartet. Mit ihnen tauchten, kaum zu erkennen für die irakische Luftverteidigung, zwei Tarnkappenbomber vom Typ F-117 über Bagdad auf.
Sie alle hatten ein Ziel - ein Privathaus, in dem sich nach Geheimdienstinformationen Saddam mit seinem engsten Führungszirkel zum Kriegsrat treffen wollte. Senkrecht durchs Dach und zeitgleich durch die Seitenwände sollten die Flugkörper einschlagen. Kein Entkommen sollte es geben aus dem Inferno.
Tonnenschwere Bomben vom Typ"Bunker Buster" sollten zudem garantieren, dass auch eine unterirdische Festung unter dem Wohngebäude keinen Schutz bot. Die satellitengesteuerten Sprengsätze können bis zu sechs Meter Beton durchschlagen, ehe sie mit einer gewaltigen Explosion im Bunkerinneren alles Leben auslöschen.
<font color="#FF0000">Das Ziel wurde getroffen und zugleich verfehlt: Saddam Hussein, dessen Tod den Krieg womöglich beendet hätte, noch ehe er begann, blieb offensichtlich unversehrt</font>.
Wäre Saddam selbst oder wenigstens seine wichtigsten Getreuen gleich zu Anfang des Krieges ausgeschaltet worden, so die Hoffnung im Pentagon, wäre es den Kommandeuren seines Heeres und allen überlebenden Politikern seines Regimes leichter gefallen, die Seiten zu wechseln.
Doch auch ohne einen solchen Erfolg zu Kriegsbeginn bleibt der Faktor Geschwindigkeit kriegsentscheidend. Franks will möglichst früh Erfolge vorweisen können, um immer mehr irakische Offiziere zum Aufgeben zu bewegen."Angelpunkt dieses Kriegs ist die Zeit", sagt John Pike, Chef des Washingtoner Think Tanks"Globalsecurity.org"."Die USA müssen die Iraker dazu bewegen, schnell die Kämpfe zu beenden.<font color="#FF0000"> Saddam dagegen will den Krieg verlängern, um möglichst viele Opfer und möglichst viele Bilder der Zerstörung vorweisen zu können</font>."
Während Bush in seiner Kriegsansprache vor allzu großen Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende warnte, geben Pentagon-Strategen - wie immer anonym - zu, dass ihre Truppen die Hauptstadt des Gegners gar nicht zügig genug erreichen können. <font color="#FF0000">"Jeden Tag werden die Verluste größer, die im Irak, bei den übrigen Arabern und bei Muslimen anti-amerikanische Ressentiments verstärken können."</font>
STUNDENLANG ÜBERTRUG CNN LIVE DIE BILDER DES SCHEINBAR UNAUFHALTSAMEN VORMARSCHES.
Doch schon bei den unerwarteten Kämpfen vor Basra wurde deutlich, was einen raschen Vormarsch verlangsamen kann. Bagdads Artillerie - über 2000 Geschütze und Raketenwerfer sowie rund 2500 Granatwerfer unterschiedlichster Kaliber - ist die einzige konventionelle Waffe, die den Amerikanern Sorgen bereitet. Ihr widmen die Angreifer denn auch besondere Aufmerksamkeit: Kampfhubschrauber vom Typ"Apache Longbow" und A-10-Jets, die als Panzerknacker gefürchteten"Warzenschweine", werden versuchen, irakische Artilleriebatterien auszuschalten, noch ehe die US-Angriffstruppen in ihre Reichweite geraten.
Auf vielen Wegen intensivierte Washington auch die Propagandakampagne, welche die irakische Armee von der Sinnlosigkeit des Widerstands überzeugen und zur Aufgabe bewegen soll. Flugblätter kündigten den baldigen Sturz Saddams an und warnten vor Gegenwehr. Vor allem mögliche Befehle zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen sollten die Soldaten unbedingt verweigern, um der sonst sicheren Vernichtung auf dem Schlachtfeld oder der schweren Bestrafung durch Siegergerichte zu entgehen.
Selbst E-Mail und private Telefonanschlüsse nutzten Washingtons Propagandakrieger, um den Gegner zu entnerven. Die Regierung in Bagdad ließ kürzlich sämtliche Telefonnummern ihres Führungspersonals austauschen, nachdem immer häufiger anonyme Anrufe eingingen, die vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen warnten.
Vor allem die Entscheidung, im Gegensatz zum Golfkrieg von 1991, diesmal Reporter an die Front zu lassen, zahlte sich für die Amerikaner aus. <font color="#FF0000">Stundenlang übertrug CNN live die Bilder des scheinbar unaufhaltsamen Vorstoßes nach Bagdad - für die irakische Militärführung eine einzige Katastrophe, die sie mit der Ausweisung des TV-Teams aus Bagdad ahndete</font>."Selten zuvor ist eine Armee mit so großer Hoffnung in die Schlacht gegangen, dass die andere Seite einfach die Seiten wechseln wird", sagt James Steinberg, Forschungsdirektor bei der Washingtoner Brookings Institution.
Doch die Blitzkriegsstrategie des Pentagon birgt auch ein hohes Risiko. Vor allem der Verzicht darauf, Saddam im Vorweg durch einen Luftkrieg zu entwaffnen, setzt die Angreifer erhöhten Gefahren aus. Wie schnell also treibt dieser Krieg der Entscheidung zu? Wenn der Maßstab der berühmte amerikanische Weltkriegsgeneral George Patton wäre, müssten die ersten Panzer der Amerikaner"nach zwei Tagen vor Bagdad stehen", glaubt Patrick Garrett von Globalsecurity.org. Konservativere Kommandeure würden allenfalls vier Tage benötigen.
Genau diese Differenz, berichten Insider, mache auch einen anhaltenden Konflikt im Pentagon aus: Minister Rumsfeld, dem schon der Afghanistan-Krieg viel zu lange gedauert hatte, drängte aufs Tempo. General Tommy Franks, der methodische, eher vorsichtige Kommandeur, nahm sich mehr Zeit.
Doch mit dem Eintreffen vor der Hauptstadt wäre nur die erste Aufgabe gelöst: <font color="#FF0000">"Um zu Saddam zu gelangen, müssen wir uns wohl durch Bagdad kämpfen"</font>, fürchtet der Stratege Pollack. Spätestens hier muss sich zeigen, ob Saddams Militär bereits so geschwächt ist, dass auch den Elitetruppen der Republikanischen Garde, die in Bagdad stehen, die Lust zum Kämpfen vergangen ist.
<font color="#FF0000">Allerdings: An den Toren der Hauptstadt schrumpft Amerikas technologischer Vorsprung auf eine für den Ausgang der Schlacht nicht vorhersehbare Größe. Das, was der Supermacht den Marsch bis an den Stadtrand erleichtert hat, zählt kaum noch, wenn in der Fünf-Millionen-Metropole Straße um Straße, Haus um Haus im Kampf Mann gegen Mann erobert werden muss</font>.
Um die Amerikaner aufzuhalten und den Anflug der Präzisionswaffen zu stören, hat Saddam rings um Bagdad Gräben ausheben lassen. Geheimdienste glauben, der Diktator werde anordnen, sie mit Ã-l zu füllen und anzustecken. Der Rauch verbrennenden Ã-ls, das geben selbst die Amerikaner zu, könnte lasergelenkte Leitsysteme stören.
Gelänge es Saddam, seine Hauptstadt in ein <font color="#FF0000">"mesopotamisches Stalingrad"</font> zu verwandeln, rechnet Pollack mit"Hunderten, wenn nicht Tausenden" amerikanischer Opfer. Bei Übungen für den Häuserkampf"haben US-Einheiten eine Verlustrate von 30 bis 70 Prozent erlitten", resümiert auch der Militäranalytiker Garrett. Schlimmer noch: Würde sich auch die Bevölkerung gegen den Angreifer wenden, könnte der Kampf doch noch in einem Debakel enden.
Genau darauf setzt Saddam. Während die wenig zuverlässigen Divisionen der regulären Streitkräfte im Süden und Norden Stellung in der Nähe der Grenzen bezogen haben, hat er seine getreuen Garde-Truppen um und in Bagdad konzentriert. <font color="#FF0000">Ein erster Verteidigungsring zieht sich in 50 Kilometer Abstand um die Hauptstadt, ein zweiter verläuft durch deren Randbezirke. Der Regierungsbezirk sowie seine Heimatstadt Tikrit sind noch einmal besonders durch einen engen Truppenring geschützt, der aus den Spezialkommandos der Republikanischen Garde besteht</font>.
Das Pentagon glaubt, selbst den Kampfgeist der Saddam-Gardisten binnen Tagen brechen zu können. Auch Pollack hält es für"äußerst unwahrscheinlich, dass der Einmarsch fehlschlägt". Selbst unter denkbar ungünstigsten Umständen,"wenn jeder irakische Soldat bis zum Tod kämpft, wenn Bagdad Massenvernichtungswaffen wirkungsvoll gegen US-Truppen einsetzt und wenn die Iraker sich effektiv in ihren Städten verschanzen, würden die Vereinigten Staaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewinnen".
"UM ZU SADDAM ZU GELANGEN, MÜSSEN WIR UNS WOHL DURCH BAGDAD KÄMPFEN."
Die Angst vor dem Straßenkampf ist deshalb bei den Einwohnern von Bagdad weit ausgeprägter. Dort hat ein Stadtteil derzeit ganz besonderen Zulauf: Das Viertel Chalil Ibn al-Walid im Osten von Bagdad gilt als Geheimtipp für den Kriegsfall. Die Regierungs-, Armee- und Geheimdienstzentralen, Ziele der amerikanischen Bomber wie der anrückenden alliierten Truppen, liegen weitab auf der anderen Seite des Tigris.
"Die Stadt kommt mir vor wie in den ersten Tagen des Fastenmonats Ramadan", sagt Ban Jusif Dschamil, 32, eine Sängerin im Chor des Bagdader Symphonie-Orchesters."Kaum jemand ist unterwegs, doch was man unbedingt braucht, kann man trotzdem kaufen."
Strom und Wasser flossen bis zum vergangenen Freitag ohne Störung, das Telefonnetz funktionierte selbst noch nach dem Bombenschock. Im Pressehaus Wasirija liefen die Druckmaschinen, überall in der Stadt waren Zeitungen zu kaufen. Der Verkehr rollte, der bewaffnete Zivilschutz der Baath-Partei, der die Bevölkerung seit Wochen mit martialischen Notfallübungen eingeschüchtert hatte, hielt sich im Hintergrund.
<font color="#FF0000">Die wenigsten Bagdader haben in den vergangenen Wochen die Stadt verlassen, doch sie wissen von den massiven Befestigungsanlagen im Süden und Westen der Stadt. Dort hat die Republikanische Garde schwere Waffen in Stellung gebracht, um die Amerikaner an der Eroberung der Hauptstadt zu hindern</font>.
Alarmstimmung - trotz der Eilmärsche ihrer Truppen auf Bagdad - herrschte auch bei den Amerikanern. Seit Kriegsbeginn ist an der Heimatfront wieder"Code Orange" ausgerufen, die zweithöchste Stufe auf der Alarmskala. Das FBI warnt vor Attentaten. In einem Memorandum der Polizeibehörde steht orakelhaft, dass"al-Qaida im letzten Stadium für Anschläge in großem Umfang sein kann".
<font color="#FF0000">Die Bundesbehörden rechnen offenbar mit biologischen oder chemischen Anschlägen. Die Küstenwache verschärft deshalb ihre Patrouillen in den Häfen und an der Küste. Sie konzentriert sich vorzugsweise auf Schiffe, die Nahrungsmittel oder gefährliche Chemikalien geladen haben</font>.
In New York hat das Alarmprogramm bereits einen eigenen Namen: Operation"Atlas". Polizeibeamte bewachen U-Bahnen, Tunnel, Fähren, Hotels, Synagogen. Sie halten sich zudem in der Umgebung der Touristen-Attraktionen auf. Schwer bewaffnete Verbände der Nationalgarde patrouillieren am Times Square und in der Wall Street. Spürhunde schnüffeln nach versteckten Bomben."New York war schon einmal Ground Zero", meinte Bürgermeister Michael Bloomberg zur Rechtfertigung"des umfassendsten Terrorabwehr-Programms" in der Geschichte der Stadt (siehe Seite 170).
Vergangenen Mittwoch, in der Nacht, in der der Krieg begann, ähnelte sogar Amerikas Hauptstadt ein wenig der Hauptstadt des Gegners - hier wie dort warteten die Bewohner auf das kommende Unheil.
In Washington stiegen noch mehr Hubschrauber als üblich auf, um die Stadt aus der Luft zu überwachen. Die Symbolstätten amerikanischer Macht, vom Kapitol über das Washington Monument bis hin zum Weißen Haus, wurden weiträumig abgesperrt. Die ganze Nacht über ertönte das schrille Heulen der Polizeisirenen.
Am Potomac wie am Tigris herrschte Angst.
HANS HOYNG, SIEGESMUND VON ILSEMANN, GERHARD SPÃ-RL, BERNHARD ZAND
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Sascha
24.03.2003, 03:27
@ Sascha
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Die Nacht von Captain Figlioli |
--><font size=5>Die Nacht von Captain Figlioli</font>
Ohne die Bulldozer vom 94. Pionierbataillon wäre der Einmarsch in den Irak vergangene Woche wahrscheinlich ausgefallen.
Es ist viel Verkehr auf der Straße zur Front. Wenn man diese 50 Meter Sandpiste, die durch die kuweitische Wüste nach Norden führt, überhaupt eine Straße nennen will.
Schützenpanzer und Lkw, die Munition, Essensrationen oder Wasser geladen haben, Mannschaftswagen mit Infanteristen, Kipplaster mit Kies ziehen ihre Spuren durch die Wüste. Dazu kommen Sattelschlepper, Kranwagen, Sanitätsfahrzeuge.
Es ist Donnerstag, nur noch wenige Stunden bis zum D-Day, dem Tag der amerikanischen Bodenoffensive. Auch Captain Scott Figlioli ist auf dem Weg zur Front, denn ohne ihn könnten auch die mutigsten Kämpfer in diesem Krieg nicht viel ausrichten. Ohne ihn würden sie den Gegner gar nicht erst erreichen.
Figlioli, 32, gehört zum 94. Pionierbataillon. Im V. Korps ist er der Herr der Bulldozer. Ein ganzes Dutzend Maschinen befehligt der normalerweise im bayerischen Hohenfels stationierte Soldat. Sie sollen heute Nacht die Dünen und künstlich aufgeschütteten Sandwälle beseitigen. Denn dort, wo die US-Armee in den Irak eindringen will, gibt es nur unwegsames Gelände und Sperrgebiete. Ein Dutzend Pisten durch die feindlichen Linien sollen bei abnehmendem Mond gegraben werden, nachdem die Minen geräumt, der Stacheldraht beseitigt und möglicher Widerstand ausgeschaltet worden ist.
Figlioli will seinen Bulldozer-Fahrern noch einmal Mut zusprechen, bevor sie mit dem Einsatz beginnen. Und zwar nicht per Feldtelefon, wie das Etappenhengste machen, sondern persönlich. Doch dazu muss er sie erst mal finden.
Das ist in diesem kriegerischen Gewimmel gar nicht so einfach. Einige Bulldozer wurden schon an die Front gebracht, andere stecken irgendwo fest. Seine Leute sind über einen 60 Kilometer langen Frontabschnitt verstreut. Um sich kundig zu machen, stoppt Figlioli mit seinem gepanzerten Geländewagen in einem der US-Militärcamps.
Zwei Lkw und ein Dutzend Soldaten begleiten den Amerikaner aus Florida. Während Figlioli mit einem Major die Einzelheiten klärt, stehen seine Leute, darunter auch eine Frau, vor ihren Fahrzeugen und rauchen. Sie bestaunen einen Marienkäfer, der einem Soldaten über den Handballen krabbelt und fragen sich, wie der Glücksbringer wohl in die Wüste gekommen ist.
Dann geht es plötzlich los. Die Soldaten hassen diesen langen, tiefen Sirenenlaut. Sie reißen ihre Gasmasken aus den grünen Taschen, stülpen sich die Geräte über die geschorenen Köpfe und rennen los. Eine Gruppe geht zwischen zwei Frontladern in Deckung. Niemand spricht. Saddam Husseins Raketen sind zwar nicht sehr präzise. Doch den Nerv der Truppe treffen sie genau. Manche Soldaten schließen ihre Augen, die Lider flattern hinter dem bruchsicheren Schutzglas. Der Atem geht schwer durch die Filter. Manche beten.
Nach 30 Minuten ist der Spuk vorbei. Saddams Rakete wurde in der Luft zerstört. Figlioli kann weiter seine Bulldozer suchen. Doch der Alarm hat den Zeitplan durcheinander gebracht. Es dämmert bereits. Und die Front ist im Dunkeln gar nicht so leicht zu finden.
Weil er gerade keine abhörsichere Funkfrequenz bekommt, weiß der Captain außerdem noch immer nicht, in welchem Abschnitt seine"Dozer" sind. Es ist spät, seine Truppe hat tagelang kaum geschlafen. Die Soldaten dösen auf ihren Autositzen, träumen von einer Badewanne oder einem bayerischen Bier.
Zischender Lärm weckt die Soldaten mitten in der Nacht auf. Raketen steigen krachend und qualmend in den Himmel, keine 100 Meter weit entfernt. Sind das"Patriots"? Holen die gerade eine angreifende"Scud" vom Himmel?
Figlioli befiehlt seine Leute brüllend in die ABC-Anzüge. Sie kriechen unter die Lkw. Jetzt peinigt die Soldaten Todesangst.
Der Schreck steckt dem Trupp noch in den Knochen als sich herausstellt, dass keine feindlichen Raketen anfliegen, sondern dass eine hinter einem Erdwall versteckte US-Einheit auf irakische Stellungen jenseits der Grenze feuert.
Im Norden blitzt es am Horizont, ein dumpfes Knallen ist zu hören. Die Offensive hat begonnen. Captain Figlioli ordnet den Rückzug zum Kommandozentrum an, weil er nicht in das Kreuzfeuer der eigenen Truppen geraten will.
Am Freitagvormittag geht dann alles ganz schnell: Um 11.07 Uhr marschiert Captain Fig, wie ihn seine Leute nennen, in den Irak ein. Die Stacheldrahtzäune sind bereits zerschnitten, die Erdwälle von den Bulldozern des 94. Pionierbataillons niedergewalzt. Die irakische Grenze ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse, auf einem Erdwall weht die amerikanische Flagge munter im Wind."Im Grunde ist ja alles gut gelaufen", sagt Figlioli tapfer und wischt sich den Staub aus den dunklen Haaren.
CLAUS CHRISTIAN MALZAHN
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Sascha
24.03.2003, 03:28
@ Sascha
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Süße Rache, neue Angst |
--><font size=5>Süße Rache, neue Angst</font>
Als einstiges Opfer Saddam Husseins frohlockt das Emirat Kuweit über den Krieg der Amerikaner - trotz irakischer Raketenangriffe.
Eine Herde von Zweibeinern mit klobigen dunklen Schnauzen trampelt in Panik die Betontreppe des Hotels hinunter. Manche der Monster haben einen Busen, andere schleppen schwere Fernsehkameras, aber die schweinsgesichtigen Masken verwandeln alle in eine große Familie. Sirenen treiben die keuchende Kohorte 18 Stockwerke hinab in die Tiefe.
Wer als Reporter keine Gasmaske besitzt, fühlt sich unter seinesgleichen eher deplatziert als gefährdet. Aber die Disziplin lässt schon beim dritten Raketenalarm nach: Dann laufen im Safir-Hotel von Kuweit-Stadt fast nur noch die gewissenhaften Kollegen aus Japan und China mit den Masken herum, und auch die geben ihre Vorsicht nach und nach auf.
Das kuweitische Fernsehen meldet in grüner Schrift Entwarnung. Der Aufenthalt im Schutzraum des Safir-Hotels dauert selten länger als drei Minuten. Das muss wohl daher kommen, dass zwischen dem Raketeneinschlag und dem Sirenengeheul oft eine gute halbe Stunde verstreicht. Wenn die Reporter vor dem Schutzraum eintreffen, ist die Gefahr bereits vorbei. Auf dem langen Weg dürfte das Risiko am höchsten sein.
Glückliche Fügung also, dass die Raketen des Saddam Hussein - von denen zwischen Donnerstagnachmittag und Freitag früh der vergangenen Woche mindestens ein Dutzend auf kuweitischem Gebiet einschlugen - weder chemische noch bakteriologische Menschenvertilgungsmittel beförderten. Vorerst kamen weder amerikanische Soldaten noch einheimische Zivilisten zu Schaden.
Über die Abwehr chemischer Waffen müssten in Kuweit die Deutschen bestens Bescheid wissen: die Besatzung der Bundeswehr-Spürpanzer, die hier seit gut einem Jahr zum Schutz vor chemischen und biologischen Kampfmitteln im Einsatz sind. Im Rahmen der Anti-Terror-Operation"Enduring Freedom" beauftragt, führen die Soldaten ihre Arbeit auch im Krieg weiter. Wenn das nicht fast an Kriegsteilnahme grenzt: Deutsche helfen Kuweit gegen die Vergeltungsschläge, mit denen Saddam auf den"Enthauptungsschlag" der Amerikaner in Bagdad reagiert.
Es mag diese Rolle sein, die den deutschen Offizieren am Golf plötzlich hohe Diskretion abverlangt."Jetzt haben die Politiker das Wort", wimmelt Klaus Geier, der Sprecher der Spürpanzereinheit, die Anfragen eines Reporters ab. Eines seiner Fahrzeuge sei immer unterwegs, räumt Geier ein:"Die Besatzung hat Order, sich auf ein Gespräch mit Journalisten nicht einzulassen."
So reden auch die Amerikaner:"Während der nächsten Tage gibt es kein Briefing, kein Hintergrundgespräch", erklärt ein weiblicher Sergeant. Da rollten bereits Tausende Militärfahrzeuge über die Nordgrenze Kuweits, und es war klar: Ehe die Alliierten nicht einen großen Teil des Irak fest im Griff haben, werden ihre Generäle sich nicht öffentlich ausfragen lassen.
Noch am Freitagnachmittag heulen in Kuweit-Stadt die Sirenen, trotten Reporter in ihre Schutzräume, verkriecht sich die steinreiche Elite in ihren Kellern. Offenkundig ist es den Amerikanern und Briten noch nicht gelungen, die Raketenstellungen des Diktators auszuschalten. Noch viel schwerer wird es sein, kurzfristig etwas gegen die"Politik des verbrannten Ã-ls" auszurichten, mit der Saddam die Eindringlinge behindern will. Wie vor zwölf Jahren bei seinem erzwungenen Rückzug aus Kuweit, hinterlässt der Zerstörer nun auch im eigenen Land ein ökologisches und wirtschaftliches Desaster.
Dass Gasmasken sich bisher nicht als überlebensnotwendig erwiesen haben, ist für Menschen, die keine besitzen, ein schwacher Trost. Es nimmt ihnen nicht die Angst, wenn wieder ein Raketenalarm durch Mark und Bein schrillt.
Der zwölfjährige Nassir Tarik hatte das nicht erwartet, er war mit seinen Gefühlen den Erwachsenen schon weit voraus: Das Kind sah die Amerikaner in Bagdad einrücken und Saddam Hussein in einem Feuerball verschwinden - doch vor allem träumte Nassir sich seinen Vater herbei, den er in seinem Leben noch nie zu Gesicht bekommen hat; die Schergen Saddams verschleppten 1990 den jungen Polizisten Tarik al-Ghatni aus dem besetzten Kuweit, bevor Nassir auf die Welt kam.
Wie so viele Kuweiter kam der Junge nicht ohne die Hoffnung aus, dass 600 geraubte oder verschwundene Landsleute noch irgendwo im irakischen Gulag am Leben sind - europäische Diplomaten halten das für unwahrscheinlich. Ein Saddam jedoch, der Kuweit noch heute mit Raketen beschießen kann, ist nur allzu lebendig; wenn wieder die Sirenen aufheulen, sieht der kleine Nassir, wie das Traumbild des Vaters von der drohenden Visage seines Peiniger überlagert wird.
Die Zuversicht der Oberschicht ist nicht so leicht zu entmutigen wie die des Kindes."Saddam wusste genau, was in der Uno-Resolution 1441 mit,ernsten Konsequenzen' gemeint war", schreibt der frühere Erdölminister Ali Ahmed al-Baghli."Diesmal wird er zur Hölle fahren!"
Diese Gewissheit hat auch die Börse in Kuweit, die zweitgrößte der arabischen Welt, viel früher erfasst als die Märkte in den Finanzmetropolen der Welt. Die genießen erst seit kurzem die belebende Wirkung, die von der Aussicht auf ein baldiges Ende Saddam Husseins ausgeht. In Kuweit hatte schon vor Monaten, bald nach der Ankunft der Amerikaner, das lange Börsenhoch eingesetzt, das nun - in Vorwegnahme eines alliierten Sieges - einem Gipfelpunkt zustrebt.
Der aufgeräumten Stimmung, die im Emirat bei Kriegsbeginn herrschte, hat nicht nur der irakische Raketenbeschuss einen Dämpfer versetzt. Auch die zerfurchten Mienen von George W. Bush und Donald Rumsfeld werden von der Führungsschicht mit Sorge registriert. Was soll da aus dem"Blitzkrieg" werden, den die Nachrichtenagentur Reuters - das belastete deutsche Wort benutzend - den Amerikanern in Aussicht gestellt hat?
"Im Gegensatz zum Rest der Welt hat es bei uns nie Kriegsangst gegeben", erzählt Chalil Ali Heidar, politisch liberaler Zeitungskommentator."Wir haben eher befürchtet, der jüngere Bush könnte unter internationalem Druck einen Rückzieher machen." Das aber, so Heidar, wäre ein Triumph für Saddam in der ganzen islamischen Welt geworden:"Sterben muss das Scheusal meinetwegen nicht. Mir genügt es, wenn er besiegt, gedemütigt, entzaubert und auf ewig als Popanz entlarvt ist."
CARLOS WIDMANN
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Sascha
24.03.2003, 03:29
@ Sascha
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"Gesetzlose Männer" |
--><font size=5>"Gesetzlose Männer"</font>
Neben Saddam Hussein steht die gesamte Führungsclique Bagdads auf Bushs Abschussliste.
Die Offerte des Chefs der Supermacht, einem Militärschlag durch Flucht ins Exil zu entgehen, wies der Erstgeborene des Bagdader Despoten voller Hohn zurück."Der Vorschlag müsste vielmehr lauten, dass Bush und dessen Familie abtreten", verspottete Saddam Husseins Sohn Udai über seinen TV-Haussender das Ultimatum aus Washington.
Doch dann war rasch Schluss mit lustig. Udai, 38, musste die von ihm kommandierten Paramilitärs der"Saddam Fedajin" zum"Märtyrertod" aufrufen. Denn seit dem ersten Raketenhagel der Amerikaner auf Bagdad ist nicht nur der psychopathische und als besonders brutal geltende Playboy, sondern die gesamte Führungsclique um den Gewaltherrscher ständig in fluchtartiger Bewegung. Der versuchte"Enthauptungsschlag" galt nicht nur dem Präsidenten und dessen beiden Söhnen, die Pentagon-Strategen haben die gesamte Spitze des Regimes im Visier.
Die US-Geheimdienste erstellten eine Liste, auf der über 2000 Namen von Führungskräften aus Militär, Regierung, Sicherheitsorganen und der Baath-Partei stehen. Das Gros davon soll sich nach dem Krieg für seine Taten verantworten müssen, gut 50 Top-Offizielle müssen mit Anklagen vor einem Kriegsverbrechertribunal rechnen. Darunter vor allem Saddams Hardcore-Vasallen, vom State Departement"das dreckige Dutzend" genannt.
Der Despot suchte seine Getreuen, in der Regel blasse Chargen, vornehmlich im Beidschat-Clan rund um seine Heimatstadt Tikrit. Bis zu 85 Prozent der höheren Offiziere in den Eliteeinheiten der Republikanischen Garde stammen aus dieser Region. Auf der US-Liste der Meistgesuchten, tot oder lebendig, steht nach Saddam und Udai an dritter Stelle der jüngere Sohn Kussei, 36, zuständig für den Sicherheitsapparat und Befehlshaber der Republikanischen Garde. Kussei, zuletzt als Kronprinz favorisiert, ist zudem Kommandeur des zentralen Bereichs der vier Militärzonen des Irak.
Weit oben unter den"most wanted" rangiert Ali Hassan al-Madschid, ein Cousin Saddams. Weil er 1988 den Giftgaseinsatz von Halabdscha befehligte, bei dem über 5000 Kurden umkamen, ist er als"Chemie-Ali" zur Fahndung ausgeschrieben. Angeblich soll er die beiden Schwiegersöhne Saddams, die sich in den Westen abgesetzt hatten und 1996 mit einem Amnestie-Versprechen nach Bagdad zurückgelockt worden waren, persönlich als Verräter exekutiert haben. Jetzt beauftragte Saddam seinen Vetter mit dem prekären Job, den Südirak gegen Amerikaner und Briten zu verteidigen.
Frei zum Abschuss dieser"gesetzlosen Männer" (Bush) ist für die Amerikaner überdies Abd al-Hamid Humud, Saddams Privatsekretär und Chef der Leibwache, der ebenfalls aus Tikrit stammt. Außerdem Ex-Premier Mohammed Hamsa al-Subeidi, dem Verbrechen bei der Niederschlagung des Kurdenaufstands angelastet werden, sowie Asis Salih al-Numan, Gouverneur im besetzten Kuweit und verantwortlich für eine Reihe von Gräueltaten.
Den Regimewechsel keinesfalls überstehen dürfte auch Issat Ibrahim, 60, vom mächtigen al-Duri-Stamm. Der Vizevorsitzende des Revolutionären Kommandorats, wohl Hauptverantwortlicher für die Niederschlagung des Schiiten-Aufstands im Südirak 1991 mit Tausenden Toten, ist zuständig für die nördliche Militärzone um das ölreiche Gebiet von Mossul.
Furore machte am Vorabend des Kriegsausbruchs Vizepremier Tarik Asis, 66, das langjährige Aushängeschild des Regimes. Der chaldäische Christ, im Golfkrieg 1991 Saddams Außenminister, war nach den Meldungen mehrerer Nachrichtenagenturen auf dem politischen Sperrmüll gelandet - abgesetzt, erschossen oder geflohen. Acht Stunden vor Ablauf des Ultimatums tauchte Asis, der im Februar auch den Papst besucht hatte, in Bagdad feixend bei einer Pressekonferenz wieder auf. Eine schwere Havanna in der Rechten, spottete er über die Gerüchte ("billige Lüge") und prophezeite"der imperialistischen Aggression einen blutigen, langen Krieg".
Einer der engsten Vertrauten des Despoten und zeitweilig als dessen Nachfolger im Gespräch ist Taha Jassin Ramadan, 64. Iraks Vizepräsident kümmert sich im Revolutionären Kommandorat um Wirtschaft und Kaderfragen. Der Sunnit vom Schabak-Stamm in Kurdistan, der schon als 20jähriger Untergrundaktivist der sozialistischen Baath-Partei zum Tode verurteilt wurde, ließ bei seiner letzten Begegnung mit dem SPIEGEL keinerlei Zweifel an der Bereitschaft, mit dem"Raïs", dem Führer, unterzugehen. Er hoffe nur, so der Partei-Veteran, dass dieser"Überfall" der Auslöser sein werde,"um die Welt von der Hegemonie der Amerikaner zu befreien".
OLAF IHLAU
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Sascha
24.03.2003, 03:30
@ Sascha
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Verschuldet und erpressbar |
--><font size=5>Verschuldet und erpressbar</font>
Heimlich unterstützt auch das jordanische Königreich die US-Truppen beim Angriff auf Bagdad. An der Grenze zum Irak erwarten Flüchtlingshelfer den großen Ansturm.
Die Störche sind schon da. Drei, vier Wochen früher als sonst. Auf der Durchreise von Afrika nach Europa sind sie zu Tausenden rings um die Sümpfe bei Asrak niedergegangen. So viele Störche gab es hier seit einem halben Jahrhundert nicht mehr.
Nach der Hochrechnung der"Königlichen Gesellschaft für den Schutz der Natur" müssten hier unter normalen Umständen bis Ende des Monats fast 100 000 Vögel Station machen.
Die Umstände sind aber nicht normal. Auf der benachbarten Luftwaffenbasis Asrak sind in den vergangenen Tagen ein paar Dutzend noch größere Vögel gelandet: Transportmaschinen der U. S. Air Force, die Männer und Material für die Schlacht gegen Saddam Hussein brachten.
Die Flieger und die Flugzeuge machen eine Menge Lärm, und das mögen Störche gar nicht. Deshalb sind die Scharen in den letzten Tagen wieder kleiner geworden.
Die Rechtsgrundlage für die Stationierung der amerikanischen Flugzeuge in Asrak ist nicht bekannt. Es heißt, sie sind einfach gelandet - ohne Genehmigung. Die Regierung hat lange vor Kriegsbeginn erklärt, das Königreich Jordanien werde bemüht sein, sich aus dem drohenden Konflikt herauszuhalten - ein schwer zu realisierender Vorsatz für ein Land, das eine lange gemeinsame Grenze mit dem Irak und über 400 Millionen Dollar Schulden bei den Vereinigten Staaten hat.
Am Donnerstag meldet die"Jordan Times" auf Seite eins, Informationsminister Mohammad Adwan habe den Verdacht zurückgewiesen, sein Land lasse sich als Operationsbasis für den Irak-Krieg missbrauchen. Gleich neben Adwans Dementi wird vermeldet, dass Washington den Jordaniern Mittwoch die eigentlich fällige Rückzahlung von 177 Millionen Dollar gestundet hat. Der Redakteur wird sich was gedacht haben, als er die Nachrichten nebeneinander platzierte.
Das Königreich Jordanien ist hoch verschuldet und erpressbar. Gar keine Frage, dass die Amerikaner auch von Jordanien aus operieren. Wie viele, das weiß nicht mal die Regierung.
Die US-Botschaft hat kürzlich von einem Notar einen Vertrag mit einer Großwäscherei beurkunden lassen, in der das Waschen und das Bügeln von täglich 14 000 Kleidungsstücken vereinbart wurden. Die Amerikaner machten, was sie wollten, sagen auch westliche Diplomaten. Mit dem alten König Hussein wären sie so nicht umgesprungen. Aber Nachfolger Abdullah II. ist kein Mann, der sich gegen seine übermächtigen amerikanischen Freunde auf Dauer durchsetzen kann.
Hinter Ruweischid auf der Straße zur irakischen Grenze sind nur noch Reisende mit Sondergenehmigung zugelassen. Und die Angehörigen des christlichen Halassa-Beduinenstamms, die zwei oder drei Staatsbürgerschaften haben. Seit altersher besitzen sie uneingeschränkte Freizügigkeit in Jordanien, Saudi-Arabien und im Irak.
In der Teestube neben dem Checkpoint sitzen Beduinen und schauen"al-Dschasira". Schweigend. Stundenlang. Von der Straße aus hört man alle fünf bis zehn Minuten ein Flugzeug starten. Man kann sie nicht sehen, aber der Lärm lässt die Fensterscheiben vibrieren. Die Airbase gleich unmittelbar an der irakischen Grenze haben die Amerikaner ebenfalls in Beschlag genommen. Was sie hier machen?"Allah alam", sagt der Verkehrspolizist auf der Kreuzung im Ortszentrum."Das weiß nur Allah allein." Gleich am Ortseingang hat das Komitee Cap Anamur seine Zelte aufgeschlagen. Die siebenköpfige deutsche Besatzung soll sich bereithalten, wenn der große Flüchtlingsansturm einsetzt.
Das Informationsministerium in Amman hat den Bau von zwei großen Flüchtlingscamps bei Ruweischid bekannt gegeben. Doch das Projekt kommt nicht recht vom Fleck. Ein paar Kilometer hinter dem Ort hat der Rote Halbmond, die Schwesterorganisation des Roten Kreuzes, hundert Vier-Mann-Zelte aufgebaut. Das ist alles. Davon ist weniger als die Hälfte belegt. Kein Vergleich zu dem Chaos im letzten Golf-Krieg, als hier fast eine Million Flüchtlinge durchgeschleust wurden.
"MOGADISCHU IM FRIEDEN, DAS IST NOCH SCHLIMMER ALS BAGDAD IM KRIEG."
Vormittags ist ein Buskonvoi mit schwarzafrikanischen Gastarbeitern und Studenten aus Bagdad hier angekommen. Keine ausgemergelten, abgerissenen Gestalten, sie gleichen eher Touristen. Aber jetzt sind sie mittellos. Die letzten Dinare haben ihnen die Busfahrer abgeknöpft. Adam Jahja aus Kassala im Nordosten des Sudan hat neun Monate in einem Bagdader Krankenhaus als Laufbursche gearbeitet. Dann holte ihn eine Knochenkrankheit ein. Weil er kein Geld für die Operation und für Medikamente hatte, reiste er ab. Sonst wäre er gestorben.
Burhan ad-Din aus dem somalischen Mogadischu hat Computertechnik in Bagdad studiert. Er musste den Irak verlassen, weil seine Abteilung an der Universität geschlossen wurde. Jetzt fürchtet er, dass sie ihn nach Somalia ausweisen."Mogadischu im Frieden", sagt er,"das ist noch schlimmer als Bagdad im Krieg."
Auf den letzten 250 Kilometern bis zur irakischen Grenze ist der Verkehr dünn. Tanker, die noch immer Rohöl vom Irak nach Jordanien bringen, Militärlaster, ein weißer Uno-Landcruiser. Auch in Richtung Irak sind noch Reisende unterwegs, meist Kaufleute. Selbst im Krieg kann man in Bagdad noch Geschäfte machen. Araber brauchen kein Visum für den Irak.
Ein betagter Brasilianer ist auf dem Weg nach Bagdad, um gegen den Krieg zu protestieren. Im Namen seiner Frau, einer gebürtigen Irakerin, die aus Gesundheitsgründen nicht mitkommen konnte. Er hat sich reichlich mit Proviant und Arznei eingedeckt. Aber etwas fehlt ihm."Salassil - where I buy salassil in Bagdad?" Er will sich an ein Gebäude ketten. Doch er hat keine Kette. Ob er die in Bagdad kaufen kann?
Bestimmt. Inschallah.
ERICH WIEDEMANN, VOLKHARD WINDFUHR
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Sascha
24.03.2003, 03:32
@ Sascha
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"Nur eine Frage von Tagen" |
--><font size=5>"Nur eine Frage von Tagen"</font>
Saddam Husseins ehemaliger Generalstabschef und persönlicher Berater, Nisar al-Chasradschi, über die Verteidigungsstrategien Bagdads und die Rolle des irakischen Militärs
SPIEGEL: Wenn Sie einen Angriff zum Sturz Saddam Husseins befehligen müssten, wie würden Sie vorgehen?
Chasradschi: Wochenlange Bombenangriffe wären fatal. Sie würden das Land in Schutt und Asche legen. Das wäre die Hölle. Die Iraker würden dies als Angriff auf das Volk verstehen und die Amerikaner nicht als Befreier begrüßen. Natürlich will Washington seine Hightech-Bomben und Raketen einsetzen, um möglichst nicht einen Soldaten zu verlieren. Aber die Amerikaner werden auch bei einer Invasion zu Land leichtes Spiel haben.
SPIEGEL: Dort rechneten US-Planer eigentlich mit starken Verteidigungsringen: den ersten, 300 000 Soldaten des Heeres, direkt an den Landesgrenzen.
Chasradschi: Saddam hat aus dem Golfkrieg 1991 gelernt. Deshalb wird er den Invasionstruppen keinen Widerstand auf breiter Front und mit traditionellen Mitteln entgegensetzen. Er wird seine Truppen schnell zurückziehen und sich vor allem auf die Verteidigung Bagdads sowie vielleicht noch einiger wichtiger Städte konzentrieren.
SPIEGEL: An welche denken Sie?
Chasradschi: An Basra als Zentrum des Südens, Ramadi im Westen und Baakuba im Osten. Und natürlich wird er versuchen, im Norden die Erdölfelder um Mossul und Kirkuk zu halten.
SPIEGEL: Wie lange können Saddams Festungen dem Ansturm widerstehen?
Chasradschi: Nur wenige Tage oder Wochen - vorausgesetzt, es gelingt den Amerikanern rasch, den Kontakt der Truppen mit Bagdad zu unterbinden. Wenn die Helikopter mit den US-Elitetruppen kommen und die Verbindungen der irakischen Armee ins Hauptquartier gekappt sind, wird die Moral der Verteidiger bald zusammenbrechen. Für Saddam will niemand wirklich den Kopf hinhalten.
SPIEGEL: Bislang hatten die Generäle zu ernsthaftem Widerstand gegen Saddam nicht den Mut.
Chasradschi: Sie werden dazu auch im Krieg nur bereit sein, wenn die US-Regierung ihnen die richtigen Signale gibt: dass der Irak nicht zerstört, die Armee nicht zerschlagen wird, ihre Kommandeure nicht verfolgt werden. Die Militärs, aber auch einflussreiche Funktionäre der regierenden Baath-Partei haben Angst, dass Washington sie alle als Kriegsverbrecher behandelt und ihnen ein neues Nürnberg droht.
SPIEGEL: Weil er seiner regulären Armee misstraut, verlässt sich Saddam in Bagdad ganz auf die Republikanische Garde, die den Amerikanern einen erbitterten Stellungskrieg liefern soll.
"OHNE EINE STARKE ARMEE WERDEN STAMMESKÄMPFE ODER KONFLIKTE ZWISCHEN DEN RELIGIONSGRUPPEN DAS LAND INS CHAOS STÜRZEN."
Chasradschi: Auf diese 150 000 Mann ist Saddam sehr stolz. Sie sind seine Elitetruppen, sind exzellent ausgebildet und trainiert, und sie verfügen über bessere Waffen. Aber selbst das bedeutet im Ernstfall nicht viel.
SPIEGEL: Immerhin sollen sie den Invasoren in der Hauptstadt einen möglichst langen Häuserkampf liefern, in der Hoffnung, so die Massen in der arabischen Welt für Saddam zu mobilisieren.
Chasradschi: Saddam will ein zweites Stalingrad. Aber die Rechnung wird nicht aufgehen. Die Einwohner Bagdads werden eine Auseinandersetzung, bei der um jedes Haus blutig gekämpft wird, nicht unterstützen und vorher fliehen.
SPIEGEL: Dann gibt es noch die Spezialkommandos der Republikanischen Garden. Wie werden die reagieren?
Chasradschi: Die Loyalität dieser Eliteeinheiten wird völlig überbewertet. Sie sind zwar Patrioten, aber ihre Treue gilt dem Land, nicht Saddam. Wenn die Amerikaner vor Bagdad stehen, hat Bush fast schon gewonnen. So sehr sich Saddam dort auch verschanzt: Selbst in der Hauptstadt wird seine Niederlage nur eine Frage von Tagen, höchstens Wochen sein.
SPIEGEL: Und was ist mit den angeblich zu allem entschlossenen Volksmilizen und Selbstmordkommandos, die in martialischen Aufmärschen durch die Straßen Bagdads paradierten?
Chasradschi: Über diese so genannten Freiwilligen kann ich nur lachen. Das sind oft nur nette Mädchen, die ein perfekt funktionierender Machtapparat für diese Demonstrationen zusammentreibt. Der geltungssüchtige Saddam beherrscht die Kunst der Propaganda virtuos.
SPIEGEL: Vor einem Sieg über Saddam steht die Befürchtung, dass ein in die Enge getriebener Diktator Massenvernichtungswaffen einsetzen könnte, auch wenn die Uno-Inspektoren nichts gefunden haben.
Chasradschi: Das muss grundsätzlich nichts bedeuten. Saddam ist ein Meister des Versteckens. Jeder General, jeder Befehlshaber weiß immer nur so viel, wie er unbedingt wissen muss.
SPIEGEL: Halten Sie einen Gegenschlag mit Massenvernichtungswaffen also noch für realistisch?
Chasradschi: Auf verborgene Arsenale mit Chemiewaffen, die großflächig aus der Luft eingesetzt werden müssen, gibt es keine ernst zu nehmenden Hinweise. Dass er aber biologische Kampfstoffe besitzt, von denen schon kleinste Mengen genügen, Tausenden den Tod zu bringen, halte ich für wahrscheinlich. Wenn Saddam Biowaffen hat, wird er sie auch einsetzen.
SPIEGEL: Trotz aller Ungewissheiten ist die irakische Exil-Opposition bereits dabei, das Fell des Bären zu verteilen. Sie streitet über künftige Machtpositionen.
Chasradschi: Da gibt es sehr viele verschiedene Gruppen mit höchst unterschiedlichen Eigeninteressen. Für mich ist das Wichtigste, die Einheit des Landes zu bewahren. Dazu ist nur das Militär in der Lage. Ohne eine starke Armee werden Stammeskämpfe oder die Konflikte zwischen den Religionsgruppen der Schiiten und Sunniten sowie zwischen den Kurden im Norden das Land ins Chaos stürzen. Dann droht uns eine dunkle Zukunft.
SPIEGEL: Als Stabilitätsgarant planen die Amerikaner die Einsetzung eines Militärgouverneurs. Werden Ihre Landsleute das akzeptieren?
Chasradschi: Viele sind inzwischen sogar bereit, den Teufel zu akzeptieren, allerdings höchstens für ein paar Monate. Die Iraker wollen ihre Geschicke selbst bestimmen.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen Sie dabei?
Chasradschi: Ich lasse mich von niemandem vereinnahmen. Ich bin ein Mann des Militärs. Ich spiele meine eigene Rolle beim Sturz Saddams.
SPIEGEL: In Dänemark wird immer noch gegen Sie ermittelt wegen Ihrer angeblichen Verantwortung für die Giftgasangriffe auf die kurdische Stadt Halabdscha 1988.
Chasradschi: Diese Aktion unterstand Saddam persönlich und wurde befehligt von seinem Cousin Ali Hassan al-Madschid. Ich bin sicher, dass sich meine Unschuld schon bald herausstellen wird. Außerdem bin ich hier keinesfalls untätig. Ich stehe in enger Verbindung mit vielen Exil-Irakern und habe auch enge Kontakte in mein Land.
INTERVIEW: DIETER BEDNARZ, MANFRED ERTEL
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Sascha
24.03.2003, 03:33
@ Sascha
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Der Fluch von Kirkuk |
--><font size=5>Der Fluch von Kirkuk</font>
Die irakischen Kurden bereiten sich auf die Wiedereroberung ihrer heimlichen Hauptstadt vor.
Der Held so mancher Schlachten schweigt. Mit schnellen Schritten erklimmt Mustafa Nasraddin den Hügel von Qosh Tepe, seinen Turban tief in der Stirn, das Gewehr über der Schulter, die alte Wunde am linken Arm verdeckt von der traditionellen Kluft der Peschmerga. Die grün beflaggten kurdischen Gräber am Wegrand beachtet er nicht.
Oben auf dem Kamm stehen seine Soldaten mit Kalaschnikows vor dem Bauch und Handgranaten am Gürtel. Wenige Kilometer weiter beginnt schon das Feindesland der irakischen Armee.
Die Kämpfer haben Holzscheite in mehreren Lagen aufgeschichtet und eine Fackel mit Benzin getränkt. Alles wartet auf das Signal des Kommandeurs. Es ist Newroz, das kurdische Neujahrsfest, und an diesem Tag feiern die Kurden den Schmied Kawa, ihren ersten Widerstandskämpfer, der sein Volk vor gut 2600 Jahren von dem Despoten Duhok erlöste. Jetzt geht es wieder um Befreiung, und Nasraddins junge Truppe will von ihrem wortkargen Anführer eine Rede.
Es sind Angehörige der Spezialeinheit"Spi Kirkuk". Nur Männer aus der verlorenen Stadt Kirkuk dürfen in der Brigade dienen. Nur Soldaten, die von Saddams Armee vertrieben wurden. Außer Panzerfäusten und Kalaschnikows haben sie keine Waffen, aber Spi Kirkuk soll die Speerspitze bei der ersehnten Rückeroberung sein. Wenige Kilometer nur sind sie entfernt von ihrer Heimatstadt. Sie wollen die Befreier sein.
Und so erzählt Nasraddin von dem Tyrannenmord im Jahre 612 vor Christus und dem Feuer, das Kawa, der Schmied, nach vollbrachter Tat entfacht hat:"Damals hat das Feuer als Symbol für die Befreiung der Kurden geleuchtet, nächste Woche werden wir es in Kirkuk anzünden. So Gott will - inschallah." Er hält die Fackel an den Holzhaufen, und die Flammen schlagen in den Abendhimmel."Srwddi Newroz" singen sie, das Neujahrslied."Das neue Jahr ist ein Jahr des Sieges."
Auch die Nordfront gegen den Irak ist eröffnet. Während im Süden die Allianz immer weiter vorrückt, erreichen erste Berichte von Explosionen in Mossul im Norden die ungeduldigen kurdischen Truppen in ihren Kasernen. Die Ã-lfelder von Kirkuk sollen bereits von amerikanischen Special Forces gesichert sein. Aber ein Sieg der USA gegen Saddam Hussein wäre für die Kurden ebenso wenig wert wie ein demokratischer, föderaler Staat Irak mit einer autonomen Provinz Kurdistan, wenn Kirkuk nicht wieder kurdisch würde.
Wie keine andere Stadt symbolisiert sie die Unterdrückung. Zigtausende kurdische Familien wurden im Namen von Saddams Arabisierungskampagne vertrieben und arabische zwangsweise angesiedelt. 160 000 deportierte Kurden aus Kirkuk leben allein in Arbil, im kurdischen Nordirak. Sie sollen, nicht nur nach dem Willen von Nizan Madin Gly, zurückkehren.
Nizan, ein führendes Mitglied der Demokratischen Partei Kurdistans, spricht mit bestimmter Stimme. In seinem kühlen Büro in Arbil sitzt er unter einem Bild der alten Burg von Kirkuk und schreibt Anweisungen auf kleine Notizzettel. Alle paar Minuten kommt ein leichtfüßiger Diener, serviert gesüßten Tee in Gläsern und überreicht Botschaften aus der den Kurden verbotenen Stadt. Denn Nizan ist der Bürgermeister von Kirkuk.
In seinem Exil sammelt der korpulente Mann sämtliche Nachrichten und Gerüchte, die Überläufer mitbringen: Die arabische Bevölkerung sei bewaffnet worden in den letzten Tagen. 30 bis 40"al-Samud"-Raketen seien um Kirkuk positioniert. Die Lastwagen, mit denen die Raketen hin und her gefahren werden, würden ständig neu lackiert."Sie ändern die Farbe, um mehr Material vorzutäuschen, als sie haben", sagt der Bürgermeister ohne Stadt."Das wird ihnen nichts helfen."
Nicht einmal die Posten von Chamchamal fürchten die Samud-Raketen. 40 Kilometer von Kirkuk entfernt hocken die kurdischen Grenzbeamten, an die Wand ihres Häuschens gelehnt, zwischen Gewehren und zusammengeschnürten Decken. Zwei Hunde liegen im Gras vor dem gesenkten Schlagbaum und blinzeln in den Abend. Das Dorf Chamchamal ist evakuiert, nur noch alte Männer und Peschmerga schlendern durch die Straßen.
Ibrahim steht an der geschlossenen Grenze und starrt Richtung Kirkuk. Er beobachtet auf den Hügeln die Silhouetten der letzten irakischen Soldaten. Sie scheinen ihm wie Gefangene im eigenen Land."Wir hören es, wenn auf Deserteure geschossen wird", sagt Ibrahim, und Mitleid schwingt in seiner Stimme.
Über den Weg nach Kirkuk will er so wenig sprechen wie die höheren Peschmerga-Kader. Sie stehen unter dem Kommando der Amerikaner und wollen keinen Zwist riskieren. Zu nah sind sie ihrem Traum vom Ende des Regimes in Bagdad, zu nah der Rückkehr nach Kirkuk.
Gewiss, türkische Soldaten sollen schon im Nordirak bedrohlich nahe gerückt sein. Unsicher ist auch, wie die USA reagieren, wenn dieser Einmarsch eskaliert. Doch wer immer Kirkuk zuerst nimmt - es wird wieder kurdisch werden, das wissen die Peschmerga schon jetzt. Und wenn sie ihre heimliche Hauptstadt nicht im Triumph erobern können, so werden es halt Zivilisten sein, die Kirkuk zurückgewinnen.
Die Amerikaner hätten den Kurden ein Rückkehrrecht versprochen, sagt der Befehlshaber der kurdischen Truppen der PUK, Rasul Ali, genannt"Kosrat". Die Frage, wem Kirkuk gehört, löse sich insofern von allein, sagt Kosrat verschmitzt."Die Stadt ist kurdisch, wenn die Mehrheit der Einwohner kurdisch ist."
Natürlich weiß auch Kosrat, dass der Krieg gegen Saddam nicht für die Kurden geführt wird. Vor zwölf Jahren befehligte er den Aufstand der kurdischen Guerrilla gegen das irakische Regime. Kirkuk konnte für kurze Zeit zurückerobert werden, doch ohne die erhoffte Hilfe der multinationalen Streitkräfte musste er sich geschlagen geben. Der Veteran betrachtet das Foto seines gefallenen Sohnes auf dem Schreibtisch."Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass die Kurden mit zu den Siegern gehören werden."
Für die Zivilisten hingegen ist dieser Sieg noch weit entfernt. In einem Massenexodus sind Tausende Familien in die Berge geflohen. Doch vor Saddams Giftgas wären sie auf den Wiesen zwischen Arbil und Suleimanija genauso wenig geschützt wie in den Städten. Sie haben keine Gasmasken, keine Schutzanzüge. Die Vorräte reichen nur für Tage. Viele Zelte sind undicht und in der vom tagelangen Regen aufgeweichten Erde kaum zu befestigen.
Mohammed Abu hat seine Kinder deshalb Steine sammeln geschickt. Mit klammen Fingern beschweren sie damit die Zeltwände. Der ehemalige Lehrer ist des ewigen Überlebenskampfes müde:"Wäre doch in Kirkuk nie Ã-l gefunden worden", sagt Abu und schaut auf die Kinder, die jetzt am Bach ein Feuer entfachen."Es ist ein Fluch und hat uns nichts als Krieg und Zerstörung gebracht."
CAROLIN EMCKE
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Sascha
24.03.2003, 03:35
@ Sascha
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Der Krisenkanzler |
--><font size=5>Der Krisenkanzler</font>
Getragen von der Antikriegsstimmung in Deutschland und befördert durch eine orientierungslose Opposition, hofft Gerhard Schröder auf mehr Rückhalt bei den Wählern. Den riskanten außenpolitischen Kurs will er mit dem Reformprogramm absichern - und die SPD auf Linie zwingen.
Links der Reichstag und das Brandenburger Tor, unten demonstrierende Schülerscharen. Und ganz oben der Kanzler.
Mit Neugier und Nachdenklichkeit sah Gerhard Schröder am vergangenen Donnerstagnachmittag auf sein Volk hinab, das sich, aufgebracht von den ersten Kriegsbildern, durch die Grünanlage in der Berliner Mitte schlängelte."Das sind ja Zehntausende", sagte er leise, wie zu sich selbst. Immer näher sei er an die Panoramascheibe herangerückt, berichtet ein Besucher. Schade nur, dass man nichts von draußen hören konnte: Das schusssichere Glas schluckte die Parolen weg.
Auch er, der Politikprofi, sei"zum Mitgefühl fähig", sagte er später, am Rande des EU-Gipfels in Brüssel. Müde sah er dabei aus, ab nachts um halb vier hatte er CNN geschaut. Die grellen Blitze über Bagdad, verursacht von rund 40 Marschflugkörpern der US-Armee, markierten auch den Sturz aus allen Friedensträumen.
"Es hätte einen anderen Weg zur Entwaffnung des Diktators gegeben", formulierte Schröder am frühen Nachmittag des vergangenen Donnerstags für seine Fernsehansprache. Wohl kein Kanzler vor ihm hat der Regierung der USA so kühl und so öffentlich seine Meinung gesagt:"Es ist die falsche Entscheidung getroffen worden." Was das heißt, fügte er hinzu:"Tausende von Menschen werden darunter schrecklich zu leiden haben."
Wenn es richtig ist, was Außenminister Joschka Fischer über den Kanzlerberuf sagt, dass nämlich die Kraftlinien der Republik durch die Persönlichkeit des Regierungschefs hindurchführen, dann fließt derzeit auch Energie zurück: Der Chaos-Kanzler, der seit seiner Wiederwahl vor allem durch Steuererhöhungen auffiel, flößt offenbar vielen, vor allem Jüngeren, neues Vertrauen ein. Selten waren Regierte und Regierende in den vergangenen Jahren so dicht beieinander wie im Nein zu diesem Krieg, so die aktuelle Momentaufnahme.
Schon am ersten Tag des Bombardements versammelten sich Hunderttausende auf Straßen und Plätzen, getrieben vom Zorn über den Alleingang der"Vereinigten Krieger von Amerika" ("taz"). Was der Oberbürgermeister im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen für sein Städtchen anordnete, traf das Gefühl der Republik: Deutschland flaggte halbmast.
Von der Grundschule bis zu den Gymnasien, allerorten füllten sich Schulhöfe, pinselten Knirpse Schilder, entrollten Jugendliche Transparente. Die Parolen, frech und teilweise frivol, illustrieren vor allem eines: Wut und Verzweiflung über den Alleingang des US-Präsidenten:"Bushs Attacke ist Kacke","Ã-lkonzerne und Diktatoren, ihr habt am Golf nichts verloren","War is not the answer" (siehe Seite 46).
Das Kabinett in Berlin gilt den Friedensfreunden als vornehmster Verbündeter. Der Fahrer von Regierungssprecher Béla Anda konnte am Donnerstag mit seiner Limousine den Zug der Demonstranten im Schritttempo durchqueren - ohne dass auch nur ein Faustschlag auf die Karosse niederging.
Zuspruch von hoher Warte traf am vergangenen Freitag ein. Nobelpreisträger Günter Grass, ein glühender Willy-Brandt-Fan, war es, der dem Nach-Nach-Nachfolger historische Größe bescheinigte. Seit 1990 sei die Bundesrepublik zwar ein souveräner Staat, aber:"Zum ersten Mal hat die Regierung von dieser Souveränität Gebrauch gemacht, indem sie den Mut hatte, dem mächtigen Verbündeten zu widersprechen." Pathetisch dankte der Großschriftsteller, derden rot-grünen Regenten oft schon Beliebigkeit vorgeworfen hatte, der Koalition für"ihre Standhaftigkeit".
Was als Wahlkampftaktik begann, sich unter dem Druck einer kritischen Ã-ffentlichkeit zur Haltung verfestigte und dann - auch gegen den zunächst erhobenen Vorwurf der Isolation - durchgehalten wurde, könnte die bisher eher glanzlose Amtszeit von Rot-Grün womöglich doch noch zur Ära veredeln, hoffen die Akteure.
Dabei war der Kanzler erkennbar mit seiner Friedenspolitik für den Irak gescheitert. Nun würde er nur zu gern die Niederlage zumindest in einen innenpolitischen Erfolg verwandeln. Die Stunde dieses Scheiterns, so das Kalkül, könnte der Beginn einer Renaissance sein - wenigstens in den Umfragen. Zuletzt hatte Schröder laut den von Infratest dimap gemessenen Popularitätswerten hinter dem schrillen FDP-Chef Guido Westerwelle gelegen.
Nun gibt er also wieder den Krisenkanzler, sorgenvoll und unermüdlich. Auf dem TV-Bildschirm zeigt er Dauerpräsenz: Der groß angekündigten Regierungserklärung zur Lage der Nation ("Mut zum Frieden - Mut zur Veränderung") folgte die Haushaltsrede, schon ganz im Zeichen des nahenden Kriegs. Dann, 40 Stunden vor Beginn der Bombardierung, die erste dramatisch ernste TV-Ansprache ("Der Krieg wird Tausenden von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern den sicheren Tod bringen"), der zwei Tage später die nächste folgte.
Dazwischen Stellungnahmen und Fernsehinterviews dutzendfach. Die großen TV-Stationen haben vorsorglich - wie zu Zeiten der Jahrhundertflut vom vergangenen Sommer - ihre Satellitenschüsseln vor dem Kanzleramt aufgestellt. Die erste Lagebesprechung im Bundespresseamt fand am Donnerstag bereits um 4.30 Uhr statt.
Die Power-Kommunikation soll von entschlossenem Regierungshandeln begleitet werden, so der gute Vorsatz. Die Minister wurden von Schröder allesamt mit Arbeitsaufträgen versorgt, im Kabinett gilt Urlaubssperre, bis zur Sommerpause sollen alle innenpolitischen Vorhaben von Bedeutung in das parlamentarische System eingespeist werden.
DIE SICHERHEITSBEHÃ-RDEN SCHLIESSEN NICHTS MEHR AUS: EXTREMISTISCHE GRUPPEN KÃ-NNTEN LOSSCHLAGEN.
Vorrang hat alles, was der Sicherheit des Landes dient. Zum Schutz der 58 US-Militärstandorte in Deutschland bietet Verteidigungsminister Peter Struck mittlerweile 3700 Soldaten auf. Feldjäger unterstützen die Polizei bei Streifenfahrten in Wohngebieten amerikanischer Soldatenfamilien.
Alle nur irgendwie verfügbaren Kräfte wurden zum Wachdienst abkommandiert: Matrosen von Minensuchern und Schnellbooten schützen den bayerischen Truppenübungsplatz Grafenwöhr, Tornado-Piloten, deren Ausbildung gut zwei Millionen Euro kostete, schieben Wache an US-Flugplätzen.
Vor allem den Schutz rund um die Air Base Ramstein und den Flughafen Frankfurt ließ die Regierung enorm verstärken. Denn von hier aus starten beinahe im Stundentakt die US-Mannschaften mit ihren Großraumtransportern. Auf dem Weg aus den USA in den Mittleren Osten legen sie in Deutschland einen Zwischenstopp ein, werden hier mit Kriegsgerät und Soldaten der in Deutschland stationierten US-Verbände beladen.
Auch Otto Schily ist im Großeinsatz. Seit vergangener Woche lässt der Innenminister keine Gelegenheit aus, die Bürger auf mögliche Folgen des Irak-Kriegs vorzubereiten. Mit dem Beginn des Feldzugs habe sich die Gefahr von Anschlägen verschärft, heißt es, doch bisher lägen"keine konkreten Hinweise auf geplante terroristische Aktivitäten vor". Schily gab die paradoxe Parole aus:"Gelassenheit wahren - aber bei höchster Wachsamkeit."
Die deutschen Sicherheitsbehörden schließen nichts mehr aus. Extremistische Gruppen aller Art könnten versucht sein loszuschlagen: Osama Bin Ladens Netzwerk al-Qaida; Spontantäter aus dem islamistischen Milieu in Deutschland, die Kriegsopfer rächen wollen; militante Kurden, die ein türkischer Einmarsch in den Nordirak provoziert; deutsche Gruppierungen aus der rechts- und linksextremistischen Szene.
Zu den üblichen Informationspannen der Behörden soll es diesmal nicht kommen. Am Donnerstag richtete das Bundeskriminalamt eine"Informationsstelle Irak" ein, an die Bundesnachrichtendienst, Militärischer Abschirmdienst und die Verfassungsschutzämter rund um die Uhr ihre Erkenntnisse liefern."Wir sind Feindesland für al-Qaida", da ist sich der Innenminister sicher.
DER SINNESWANDEL DER GENOSSEN WURDE DURCH DEN US-ANGRIFF BESCHLEUNIGT - DIE SPD RÜCKT WIEDER ZUSAMMEN.
Auch ökonomisch rechnet die Regierung mit dem Schlimmsten. Ein langer Irak-Krieg könnte gravierende Spuren in der Wirtschaft hinterlassen und den für 2004 vorhergesagten Aufschwung verhindern.
Die Börse, die sich nach dem Platzen der New-Economy-Blase immer noch nicht erholt hat, würde erneut einbrechen, der Ã-lpreis steigen - und die Zuversicht von Verbrauchern und Investoren weiter schwinden. Wie solch ein ökonomisches Szenario aussehen könnte, haben Experten der Europäischen Kommission erst jüngst untersucht. Die Ergebnisse sorgten in Berlin für Aufregung.
In dem fünfseitigen Papier über"Die wichtigsten ökonomischen Konsequenzen" werden vier Entwicklungen durchgespielt. Der Extremfall,"Szenario vier", beschreibt eine schwere Rezession. In diesem Fall würde der Ã-lpreis nicht nur für einige Monate stark ansteigen, sondern ein Barrel der Sorte Brent bis weit ins nächste Jahr hinein 50 Dollar kosten (Höchststand vor dem Krieg: 34,50 Dollar).
Ein Klima der Unsicherheit an den Märkten wäre die Folge: Die Konsumenten würden aus Angst sparen, statt zu kaufen; die Investoren abwarten, statt Jobs zu schaffen; die Börsenkurse fallen. Der Flugverkehr könnte zurückgehen, der globale Warenverkehr einbrechen - selbst Turbulenzen an den Devisenmärkten wären denkbar.
In einem solchen Krisenszenario könnte das Wachstum der Euro-Zone 2003 um 1,3 bis 1,4 Prozent niedriger ausfallen als derzeit vorhergesagt - ein Zustand, den selbst die sonst eher vorsichtigen Experten der EU-Kommission als"Stagnation oder Rezession" bezeichnen.
Im Kanzleramt und im Berliner Finanzministerium haben längst die Vorarbeiten für ökonomische Gegenmaßnahmen begonnen. Das Ziel: Der europäische Stabilitätspakt, der bisher als Korsett starrer Vorgaben für die gesamte Staatsschuld und die jährliche Kreditaufnahme verstanden wird, soll neu interpretiert werden - vor allem weicher.
So ist sich Schröder auch mit der Europäischen Kommission mittlerweile einig, dass der Krieg ein"außergewöhnliches Ereignis" darstellt, wie es der Pakt vorsieht. Die Regierung könnte neue Schulden machen und zusätzliches Geld in die Wirtschaft pumpen oder die Steuern senken.
Vor allem aber will der Kanzler seinen riskanten Antikriegskurs mit der längst überfälligen und von ihm selbst immer wieder aufgeschobenen Modernisierung der Republik verbinden."Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Emanzipation im Äußeren und den Reformen zur Wiedererlangung der ökonomischen Kraft", sagt Schröder.
Nicht alles, was da am Standort Deutschland"rumgemeckert" werde, hält er für berechtigt. Aber schon allein um das außenpolitische Gewicht zu steigern, müssten die Wirtschaftsreformen greifen, die er im Bundestag vorgestellt hat. Nur wer ökonomisch stark sei, so die Schröder-Gleichung, könne sich auch als politisches Schwergewicht in die internationale Debatte werfen. Das eine versteht der Kanzler als Ergänzung, fast schon als Bedingung des anderen. Also: mehr Flexibilität beim Kündigen, runter mit dem Arbeitslosengeld, weg mit der Arbeitslosenhilfe und mehr Eigenvorsorge im Gesundheitssystem. Andererseits: mehr Milliarden für die außenpolitischen Instrumente, vor allem eine modernisierte Bundeswehr.
Der Widerstand gegen Schröders Wirtschaftsprogramm scheint innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion bereits zu schwinden. Wichtige Wortführer der Linken sind bereit, Schröders Zielvorgaben zu akzeptieren. Etliche Gewohnheitsblockierer wollen sogar mithelfen, sie umzusetzen. Allen voran wirbt Fraktionschef Franz Müntefering bei der Achse der Unwilligen um Unterstützung.
Müntefering, der im Vorfeld der Schröder-Rede noch durch gezielten Widerspruch gegen ein allzu forsches Reformtempo aufgefallen war, ist auf die Kanzlerlinie eingeschwenkt."Natürlich ist das eine Herausforderung, die uns bitter wehtut", sagt er, um sich dann einen Ruck zu geben:"Wir setzen das jetzt Punkt für Punkt um."
Der Sinneswandel der Genossen wurde durch den US-Angriff auf Bagdad zumindest beschleunigt. Die SPD rückt wieder zusammen."Wir müssen streiten, aber das ist jetzt nicht die richtige Zeit", sagt selbst die Parteilinke Andrea Nahles.
Innerhalb weniger Stunden verstummte bei Kriegsausbruch alle Kritik an Schröders Ruckel-Rede zur Lage der Nation. In einer Sondersitzung der Fraktion wurde der Kanzler mit donnerndem Applaus begrüßt. Müntefering - sonst kein Freund pathetischer Gesten - reichte Schröder feierlich die Hand:"Lieber Gerhard, ich möchte dir und der Regierung dafür danken, dass ihr euch für eine friedliche Lösung dieser Krise eingesetzt habt."
Auch um den eigenen Truppen die Gefolgschaft zu erleichtern, denken Schröder und Fischer über eine Neujustierung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik nach. Die Emanzipation von den Amerikanern und der Ausbau Europas zu einer politischen und wirtschaftlichen Union haben schließlich erst begonnen.
DIE CDU-CHEFIN KANN SICH NICHT ENTSCHEIDEN, OB SIE DIE AMERIKANER BEDINGUNGSLOS ODER HALBHERZIG UNTERSTÜTZEN WILL.
Noch wird die Diskussion im innersten Zirkel der Regierung skizzenhaft und mit vielen Fragezeichen geführt. Wie sinnvoll, überlegen die Spitzen der Koalition, ist nach dem Ende des Kalten Kriegs und im Zeitalter der militärischen Interventionen eine Bundeswehr, die auf Landesverteidigung setzt und ein Heer von Wehrpflichtigen unterhält? Könnte nicht eine Berufsarmee womöglich jetzt politisch durchgesetzt werden - auch mit dem Argument, Deutschlands Rolle in der Weltpolitik zu stärken?
Schröder und Fischer sind bereit, für die Bundeswehr insgesamt mehr Geld auszugeben - wenn es denn hilft, Europa als globalen Akteur zu stärken. Zugleich denken sie über kreative Wege aus der Krise der EU nach. Sie wollen die einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik forcieren - zuerst mit einer Pioniergruppe, gemeinsam mit Frankreich und Belgien etwa. Felder der europäischen Kooperation hat Berlin bereits identifiziert, zum Beispiel die Rüstungsindustrie oder militärische Spezialkräfte.
Fischer träumt davon, in der EU einen"erweiterten Sicherheitsbegriff" zu verankern, der klassische Außenpolitik, Militärpolitik und Entwicklungshilfe umfasst, als Alternative zur Interventionspolitik der USA. Auf einem eigenen EU-Außenministergipfel würde er darüber gern mit den Kollegen diskutieren - freilich erst nach dem Ende des Golfkriegs (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 49).
Das alles zusammen ist eine ziemlich mutige Agenda für eine Regierung, die eben noch am Boden schien. Der Konfliktkurs gegenüber den USA hat offenbar frische Kräfte geweckt.
Die Opposition will dem Kanzler das Geschäft erschweren. Die FDP kündigte am Freitag an, den Einsatz deutscher Soldaten in Awacs-Aufklärungsflugzeugen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Die Maschinen sichern im Nato-Dienst den Bündnispartner Türkei - so weit der Auftrag, auf den sich das Berliner Kabinett stets berief und der kein Mandat des Bundestags erforderte.
Doch können die Mannschaften der fliegenden Hightech-Zentralen stets sauber trennen zwischen Verteidigung und Hilfe zu Kampfhandlungen? Die Zweifel der Liberalen wollte die Regierung nicht teilen. In der Nacht zum Samstag allerdings wurde bekannt, dass türkische Truppen in den Norden des Irak vordrangen - ein Abzug der Deutschen aus den Awacs-Flugzeugen wurde wahrscheinlicher.
Gleichzeitig verstärkte Verteidigungsminister Struck seine Truppe in Kuweit. Er schickte 110 Soldaten des ABC-Abwehrbataillons aus dem ostwestfälischen Höxter an den Golf, um das dort stationierte"Fuchs"-Spürpanzer-Kommando aufzustocken - als reine Abwehrmaßnahme im vom Bundestag abgesegneten Kampf gegen den Terrorismus, versteht sich.
Oppositionsführerin Angela Merkel gelang es bisher nicht, aus solchen Unschärfen der rot-grünen Koalition politisches Kapital zu schlagen. Stattdessen manövrierte sie ihre Truppen geradezu zielsicher in Richtung Abseits. Wohlmeinende sind verwirrt, andere regelrecht wütend. Die CDU-Vorsitzende kann sich einfach nicht entscheiden, ob sie die Amerikaner bedingungslos oder halbherzig unterstützen will. Ebenso wenig lässt sich ihren Aussagen entnehmen, ob der Kanzler gescholten oder geschont werden muss.
"Heute ist nicht der Tag, in Konfrontation mit der Regierung zu gehen", sagte Merkel am Donnerstag vor der Fraktion, einige Stunden nachdem der Angriff gegen den Irak begonnen hatte. Noch am Vortag - als nur der Zeitpunkt des Militärschlags fraglich war - gab sie eine andere Parole aus:"Sie haben durch Ihre Haltung, die Einigkeit nicht befördert hat, den Krieg im Irak wahrscheinlicher und nicht unwahrscheinlicher gemacht", hielt sie Schröder vor. SPD-Fraktionschef Müntefering schimpfte zurück:"Eine Frechheit."
Im kleinen Kreis hat die Parteichefin zwar klar gemacht, dass sie am strikten Pro-Amerika-Kurs keine Abstriche zulassen will. Nur laut darf sie diese Extremposition nicht vertreten - schon ihre eigene Partei würde ihr nicht folgen, noch weniger die CSU.
Denn auch in der Führungsspitze der Union ist das Unbehagen über die Bush-Mannschaft unverkennbar."Ich glaube, dass man über die jetzt getroffene Entscheidung sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein kann", sagte Fraktionsvize Wolfgang Schäuble, ein ausgewiesener Atlantiker. Andere drängen offen zur Korrektur der vagen Merkel-Vorgabe. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller nannte den Feldzug ohne Billigung des Uno-Sicherheitsrats in einer Telefonkonferenz des CDU-Bundesvorstands"nicht akzeptabel".
Etliche Beobachter fühlen sich an die Zeit Anfang der siebziger Jahre erinnert: Damals lief die Union Sturm gegen die Ostpolitik des SPD-Kanzlers Brandt, warf ihm Verrat vor und"Ausverkauf deutscher Interessen". Bevölkerung und Wirtschaft folgten den Sozialdemokraten - die Union blieb 13 Jahre lang Oppositionspartei.
Der damalige Revoluzzer Fischer glaubt ohnehin an eine Theorie der Generationen, wonach jede Altersstufe ihr Spiel zu Ende spielt."Jetzt sind wir dran", sagt der 54-Jährige."Merkelchen", sechs Jahre jünger als er, müsse noch warten.
PETRA BORNHÃ-FT, MARKUS DETTMER, ROLAND NELLES, RALF NEUKIRCH, ULRICH SCHÄFER, GABOR STEINGART
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Turon
24.03.2003, 03:36
@ Praxedis
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Joschka, Joschka - mal hierherkommen und lesen |
-->In den USA gibt es nichts mit Auschwitz oder Stalingrad Vergleichbares.
Es gibt schlimmeres: die Indianer.
Und leider ist es auch Fakt, daß diese Indianer ihre Terrain ebenfalls gegenüber Amerika erst in die Enge getrieben wurden, nach unzähliger
Kleingabe und Teilungsversuchen - und man hat es den als Schwäche dargelegt.
Amerika hat vor diesen Kulturen nie höhere Achtung gezeigt - es ist genauso,
als hätten Europäer zum Beispiel den Rom komplett niedergerissen, und da sie schon dabei waren, dann auch noch die Pyramiden in Ägypten.
Über diese leidvolle Tatsachen wird es Zeit zu sprechen.
Auf diese Billigstmasche fällt doch keiner mehr rein, Blick in die
Zukunft zu richten, und damit die vergangenheit zu bewältigen.
Schon alleine aus dem grunde, weil was die Amis ja so dürfen, können
die Deutschen nun mal nicht ohne Weiteres.
Kontrastreich: die einen sind die Weltpolizei, die anderen
die Massenmörderkinder.
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Die Sklaverei hat ebenfalls sehr wohl gleiche Geschichte:
die Deutschen hatten Zwangsarbeiter, und die Amerikaner hatten
ihre"dunkelhäutige Sklaven".
Wofür die einen als Massenmörder, Verschlepper, etc. bezeichnet werden
dürfen, dafür werden die anderen nahezu geliebt (via Staatsdekret).
Na ja - als Politiker darf man das nicht sagen. Heute erst recht muß man auf die Wortwahl achten, da die nackte Faust bestimmt was man darf oder was man nicht darf.
Gruß.
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Sascha
24.03.2003, 03:37
@ Sascha
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Generation Golfkrieg |
--><font size=5>Generation Golfkrieg</font>
Vor allem junge Menschen engagieren sich in der Friedensbewegung. Ein ebenso echter wie schlichter Glaube an das Gute ersetzt die Ideologie.
Eine Lautsprecherdurchsage kurz nach Schulbeginn stockte das deutsche Friedensheer um knapp 500 Freiwillige auf: Der Leiter des Camille-Claudel-Gymnasiums in Berlin-Prenzlauer Berg gab sein Placet zur Teilnahme an der Friedensdemonstration. Beim Hausmeister konnten Pappe und Nägel abgeholt werden und was man sonst so braucht, um Protest zu artikulieren. Zwei Stunden, erzählt Anna, 13,"haben wir Plakate gebastelt und sind los".
Wie im Prenzlauer Berg wurde überall in Schulen der Stadt in Vollversammlungen diskutiert, setzten sich Schüler über Demo-Verbote hinweg oder ignorierten die Unlust ihrer Lehrer - am Ende quollen am vergangenen Donnerstag, sieben Stunden nach Kriegsbeginn im Irak, 50 000 Demonstranten aus den U-Bahn-Schächten am Alexanderplatz und dem S-Bahnhof Friedrichstraße. Die jungen Friedensmarschierer waren bereits am Brandenburger Tor angekommen, ehe es der überraschten Polizei gelang, alle Zufahrten für den Autoverkehr abzusperren.
Die neuen Akteure auf der Straße verblüfften die Sicherheitsbehörden auch sonst. Rund tausend Friedensdemonstrationen hatten sie bis zum Kriegsbeginn in Deutschland registriert. Davon seien weniger als 50 von rechten Gruppierungen organisiert worden, 500 von linken (von Attac bis zur SPD), aber weitere 500 wurden als"offen" eingestuft - dem Aufstand der Anständigen gegen rechts folgt nun offenbar der Aufstand der jungen Mitte gegen den Krieg.
Tatsächlich hat die neue Friedensbewegung nur noch wenig mehr als das Grundgefühl gemein mit jenen Aktivisten, die 1991 beim letzten Golfkrieg 200 000 Demonstranten im Bonner Hofgarten aufmarschieren ließen. Es fehlen die wochenlang vorgedachten Slogans, die professionell auf Wirkung getrimmten Transparente. Die Ideologie wird ersetzt durch spontane Gefühle, manchmal aber auch durch einen naiven Glauben an das Gute. Es müsse doch reichen, sagt der Industriekaufmann Sascha Goretzko, der am Abend mit 70 000 anderen Berlinern gegen Bush demonstrierte,"wenn man seinen Körper zur Verfügung stellt".
Die Auswirkungen der ideologischen Abrüstung auf die neue Protestkultur sind vielfältig. Obwohl weit mehr als eine Million Demonstranten auf der Straße waren, registrierten die Sicherheitsbehörden bis Mitte vergangener Woche nur 108 Straftaten mit Irak-Bezug,"inklusive einiger Farbbeutelwürfe", wie ein BKA-Mann erstaunt feststellt. Die Sorgen mit der Klientel sind andere: In Leipzig, wo zu den Montagsdemonstrationen wieder 30 000 Menschen wie selbstverständlich kommen, muss Pfarrer Christian Führer die Neulinge aufklären, dass man in einem Gotteshaus weder telefoniere noch Beifall klatscht. Und in Hamburg kehrten Demonstranten, das handgemalte Friedenszeichen noch im Gesicht, unter dem Gelächter des harten Kerns erst einmal auf einen Big Mac bei McDonald's ein.
Der ideologiefreie Demo-Raum animiert vor allem Jugendliche zu verstärktem Engagement. Es habe"keine kleinen Gruppen, keine Splitterparteien" gegeben,"die einen bequatschen und versuchen zu vereinnahmen", stellte der Gymnasiast Tillmann, 18, erfreut fest. Es sei seine dritte Demonstration -"und bestimmt nicht die letzte".
Professionelle Unterstützung ist nur noch bei der Organisation gefragt. Gruppen wie Attac oder das Antikriegskomitee der Humboldt-Universität werden zu einer Art Dienstleister. Auf ihren Internet-Seiten sind die Basisdaten abrufbar - der Rest wird auf den eigenen Kommunikationswegen erledigt. Ohne Internet, Handy und SMS wäre die neue Massenbewegung undenkbar. Und wenn in den E-Mail-Kettenbriefen auch Gleichgesinnte aus Tokio, Sydney oder Rom ins Berliner Jugendzimmer vordringen, wächst das Gefühl, sogar international ein wenig an den Stellschrauben der Politik mitzudrehen.
Tillmann glaubt gar, man habe Schröder"sozusagen den Rücken gestärkt, dass er, auch wenn das jetzt ein bisschen großspurig klingt, gegenüber den Amis besser auftreten kann". Anna, die eine Ché-Guevara-Fahne um die Hüften trägt,"weil der für die Freiheit gekämpft hat", macht sich hingegen keine großen Illusionen über die Wirkung ihres Protests auf Bush."Aber man hat das wenigstens nicht einfach so hingenommen." Die Geschichtsstudentin Anna, 20, die schon gegen rechts auf die Straße ging, bekämpft - mit einer Flasche Coca-Cola in der Hand - eher"so eine Ohnmacht, gegen die man sich wehren muss".
"Konkrete Empörung", glaubt der Wirtschaftswissenschaftler und Attac-Koordinator Sven Giegold, treibe die Menschen auf die Straße:"Die demonstrieren nicht, weil sie jeden Krieg ablehnen - sie lehnen diesen Krieg ab." An ihrem Arbeitsplatz bei DaimlerChrysler, berichtet die Auszubildende Julia, 19, werde derzeit"nur über den Krieg geredet. Sogar Leute, die sich sonst nicht für Politik interessieren, reden plötzlich über Politik. Und alle sind gegen den Krieg". Solche Erfahrungen, sagt Giegold, seien durchaus nachhaltig:"Ein Teil der jungen Leute wird politisiert bleiben."
Folgt also auf die Generation Golf nun die Generation Golfkrieg? Es sei schon richtig, sagt Tillmann:"Durch den Krieg werde ich zum Demonstranten."
Der Gymnasiast Christian, 18, beschreibt eher unbewusst, welche Ereignisse solch einen Protestimpuls auslösen. Er habe sich gefragt, nachdem er vom Kriegsbeginn erfahren habe,"wie ich mich so fühle" - und sofort an den 11. September gedacht. Die Gedanken nach den Terroranschlägen seien"zwar anders, aber ebenso stark" gewesen wie die jetzt."Die lassen einen gar nicht wieder los."
Damals habe er es als"mehr so unfassbar" empfunden, diesmal sei er"einfach total traurig". Sicher habe man ja lange mit dem Ausbruch des Kriegs rechnen müssen,"aber man ist doch entsetzt, wenn es passiert". Und weil er nun"nicht feindlicher, aber kritischer" über Amerika denke, protestiert er jetzt vor der US-Botschaft.
Die Absolution erhält der neue Friedensmarschierer von einem erfahrenen Alt-Aktivisten."Wer diesen Protest als Betroffenheitskitsch abtut", sagt der Theologe Friedrich Schorlemmer, der in Deutschland Ost die Wende mit herbeidemonstrierte,"dem wünsche ich mal einen kleinen Schuss in den Hintern."
STEFAN BERG, ALEXANDER KÜHN, CAROLINE SCHMIDT
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Sascha
24.03.2003, 03:38
@ Sascha
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SPIEGEL-GESPRÄCH:"Amerika hatte kein Verdun" |
--><font size=5>SPIEGEL-GESPRÄCH:"Amerika hatte kein Verdun"</font>
Außenminister Joschka Fischer über das Scheitern der Diplomatie im Irak-Konflikt, die globale Macht der USA und die Schwäche der europäischen Außenpolitik
SPIEGEL: Herr Fischer, mit der ersten Bombe auf Bagdad war Ihr Konzept, den Irak mit friedlichen Mitteln zu entwaffnen, endgültig gescheitert. Wieso kam es dazu?
Fischer: Weil die beiden Positionen - hier kontrollierte Entwaffnung, da gewaltsamer Regimewechsel - schlicht und einfach keinen Kompromiss ermöglicht haben.
SPIEGEL: War der überhaupt vorstellbar?
Fischer: Sicher. Eine völlige Abrüstung des Irak hätte doch in einer Kombination von militärischem Druck, Inspektionen und konkreten Einzelschritten durchaus herbeigeführt werden können.
SPIEGEL: Ein schönes Gedankenspiel, doch dafür hätte man auf laute Wahlkampftöne verzichten und mit den Amerikanern ernsthaft ins Gespräch kommen müssen.
Fischer: Das habe ich getan. Spätestens seit dem 18. oder 19. September 2001, als mir der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz in Washington in groben Zügen dargestellt hat, wie seiner Meinung nach die Antwort auf den internationalen Terrorismus auszusehen habe.
SPIEGEL: Und?
Fischer: Er war der Ansicht, dass die USA eine ganze Reihe von Ländern von ihren terroristischen Regierungen notfalls auch mit Gewalt befreien müssten. Am Ende könnte dann eine neue Weltordnung stehen, mit mehr Demokratie, Frieden, Stabilität und Sicherheit für die Menschen.
SPIEGEL: Eine Zukunftsvision, die Sie vermutlich nicht vollständig teilen?
Fischer: Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass wir vor einer Serie von Abrüstungskriegen stehen. Wir sollten eher dafür sorgen, dass die Instrumente für friedliche Lösungen, also vor allem die Uno, fortentwickelt werden. Es darf nicht sein, dass wir am Ende nur noch die Alternative haben, entweder eine furchtbare Gefahr bestehen zu lassen oder aber in einen Abrüstungskrieg getrieben zu werden. Das muss vermieden werden, das ist die Aufgabe von Politik, und das will die Mehrheit im Sicherheitsrat. Doch zu einem echten transatlantischen Dialog ist es darüber bis heute nicht gekommen.
SPIEGEL: Warum nicht?
Fischer: Weil die Europäer zu spät begonnen haben, von sich aus eine strategische Diskussion zu führen. Das müssen wir jetzt nachholen. Es geht um die großen Menschheitsfragen: In welcher Weltordnung wollen wir leben? Was sind die wesentlichen Elemente? Was sind die neuen Gefahren und Risiken unserer bisherigen Interventionspolitik? Wie müssen wir ihnen begegnen?
SPIEGEL: Ist es nicht eher so, dass der transatlantische Dialog deshalb nicht zu Stande gekommen ist, weil die Deutschen zu einseitig auf Frankreich und später auch auf Russland gesetzt haben?
Fischer: Nein.
"FÜR DIE GROSSEN UND DIE KLEINEN MÜSSEN GLEICHE REGELN GELTEN."
SPIEGEL: Und weil sich die Bundesregierung zu früh und zu eindeutig festgelegt hat, um in den Entscheidungsprozess der Amerikaner noch eingebunden zu werden?
Fischer: Die entscheidende Frage ist doch, ob die Länder, die jetzt eng an der Seite der USA stehen, überhaupt einen Einfluss haben und hatten. Hätten wir denn wirklich auf die Linie der amerikanischen Regierung einschwenken sollen? Sie können doch nicht eine Politik vertreten, von der Sie selbst nicht überzeugt sind. Insofern erledigt sich im Nachhinein der Vorwurf an den Bundeskanzler, er habe mit dem Irak-Thema Wahlkampf gemacht. Selbstverständlich war das die zentrale Wahlkampffrage, wie in vielen anderen Ländern auch. Dort haben die Regierungen, die die Position der Amerikaner unterstützen, so große Probleme, dass es teilweise an die Grenze der demokratischen Destabilisierung geht.
SPIEGEL: Sie meinen Länder wie Großbritannien oder Spanien?
Fischer: Ja, aber noch etwas ist erstaunlich. Nehmen Sie Mexiko, nehmen Sie Chile oder jetzt die Türkei - alles junge Demokratien. In diesen Ländern zeigt sich der Eigensinn von Demokratie. Denn Demokratie bedeutet auch, anderer Meinung zu sein - in existenziellen Grundsatzfragen durchaus auch gegenüber befreundeten Regierungen. Das ist eine sehr, sehr wichtige Erfahrung, die über den Tag hinausgeht. Und das heißt: Wenn in Europa andere eine andere Auffassung haben als wir, ist das weder Anlass zur Beunruhigung noch zu Verwerfungen. Eher ein Zeichen demokratischer Reife.
SPIEGEL: Das klingt fast so, als würden Sie die Loslösung Deutschlands von den USA als Indiz für eine gelungene Nachkriegsdemokratisierung sehen.
Fischer: Niemand will sich hier loslösen. Die transatlantischen Beziehungen bleiben für uns von überragender Bedeutung. Die Frage ist nur: Was macht man, wenn Bündnisloyalität und Bündnissubstanz in Widerspruch zueinander geraten? Und zwar nicht, weil wir es wollen, sondern weil Entscheidungen bei unserem wichtigsten Partner getroffen werden, die wir für hoch riskant halten, weil wir der Überzeugung sind, dass sie in die falsche Richtung gehen.
SPIEGEL: Gerade ein schnelles Ende des Irak-Feldzugs könnte die Bush-Administration zu weiteren Waffengängen ermuntern. Wie lassen sich künftige Abrüstungskriege, die möglicherweise noch auf der Agenda stehen, verhindern?
Fischer: Die Diskussion bei der letzten Sicherheitsratssitzung hat gezeigt, dass es unter den Europäern zumindest in einem Punkt eine breite Übereinstimmung gibt: Wir brauchen internationale Regeln und Institutionen, mit denen wir noch wirksamer als bisher dafür sorgen können, dass Massenvernichtungswaffen nicht weiterverbreitet werden.
SPIEGEL: Das hört sich schön an, aber das Beispiel Irak lehrt doch, dass sich Staaten, die Massenvernichtungswaffen haben, in der Regel nur mit der Drohung militärischer Gewalt zur Abrüstung zwingen lassen.
Fischer: Einspruch. Im Fall Nordkorea zum Beispiel ist es Bushs Vorgänger Bill Clinton lange Zeit mit diplomatischen Mitteln gelungen, das Nuklearprogramm der Nordkoreaner weitestgehend einzuschränken - ohne dass es die Ã-ffentlichkeit in größerem Umfang wahrgenommen hätte. Problematisch wurde es erst, als die neue Regierung in Washington dieses Programm nicht mehr weitergeführt hat. Und die größten Abrüstungserfolge bei Massenvernichtungswaffen sind nicht militärisch erreicht worden, sondern auf politischer Ebene - durch das Ende des Kalten Kriegs.
SPIEGEL: Der Fall Irak zumindest spricht gegen Ihre These. Ohne die Entscheidung der Amerikaner, im Zweifel, vielleicht aber auch auf jeden Fall einen Krieg zu führen, hätte Saddam Hussein doch keinerlei Zugeständnisse gemacht.
Fischer:"Im Zweifel" beziehungsweise"als letztes Mittel" oder"auf jeden Fall" bedeutet natürlich einen entscheidenden Unterschied. Das dürfen wir nicht vergessen und ist in dieser Frage von nicht unerheblicher Bedeutung. Sicher, die militärische Drohkulisse spielt eine Rolle, aber eben eine sehr zweischneidige, weil wir heute feststellen müssen, dass sie weit mehr als eine Kulisse war. Dahinter fand der Aufbau einer Invasionsarmee statt. Von einer Drohkulisse muss eine Drohung ausgehen und nicht ein Automatismus, der dann durch die militärischen Imperative und den möglichen Gesichtsverlust einen Krieg unabweisbar macht.
SPIEGEL: Deutschland hat den Aufbau einer Drohkulisse konsequent unterlaufen.
Fischer: Wir haben andere Prioritäten gesetzt, die ich nach wie vor für richtig halte. Und außerdem haben wir nichts unterlaufen, sondern nur gesagt, dass wir uns aus guten Gründen an militärischen Aktionen nicht beteiligen werden.
SPIEGEL: Obwohl die Mehrheit der Mitgliedstaaten strikt gegen einen Irak-Krieg war, ist die Uno von den USA ignoriert worden. Haben die Vereinten Nationen nach diesem Debakel noch eine Zukunft?
Fischer: Machen Sie einen Vorschlag: Was sollte an ihre Stelle treten? Ich kenne weder in der praktischen Politik noch in der politischen Theorie eine ernsthafte Alternative, die auch nur in Ansätzen leisten könnte, was die Vereinten Nationen leisten.
SPIEGEL: Die Vereinigten Staaten?
Fischer: Nein, das würde die USA überfordern. Ihre militärische Macht ist unerreicht, aber politisch würden sie sehr schnell an ihre Grenzen kommen - weil sie aus ihrer nationalen Position heraus an die Probleme herangehen. Die Mehrheit der Uno-Mitglieder - das haben die Diskussionen der letzten Wochen und Monate gezeigt - sind der tiefen Überzeugung, dass Krieg nur ein allerletztes Mittel ist, das in der Staatenordnung nur eingesetzt werden darf, wenn alle anderen erschöpft sind.
SPIEGEL: Was nichts daran ändert, dass Amerika die einzig verbliebene Ordnungsmacht ist, die global agieren kann.
Fischer: Die Macht der USA ist für Frieden und Stabilität in der Welt ein ganz entscheidender Faktor. Darüber braucht man ernsthaft nicht mit mir zu streiten; das habe ich oft genug erfahren, in den verschiedensten regionalen Konflikten, aber auch im Zusammenhang mit globaler Sicherheit. Doch eine Weltordnung kann nicht funktionieren, in der das nationale Interesse der mächtigsten Macht das Definitionskriterium für den Einsatz der militärischen Potenz dieses Landes ist. Letztendlich müssen die gleichen Regeln für die Großen, die Mittleren und die Kleinen gelten.
SPIEGEL: Die Neokonservativen, die in Washington an der Macht sind, werden Ihr ständiges Pochen auf internationale Regeln und Institutionen vermutlich als alteuropäisches Denken abqualifizieren.
Fischer: Der amerikanische Politologe Robert Kagan hat dieses bizarre Bild geprägt, wonach die Europäer auf der Venus leben und dem Traum des ewigen Friedens nachhängen, während die Amerikaner vom Mars stammen und in den harten Realitäten der Wolfsgrube der internationalen Politik, dem Kampf aller gegen alle stehen. Wer die Geschichte Europas kennt, weiß um die vielen Kriege hier. Die Amerikaner hatten kein Verdun auf ihrem Kontinent. In den USA gibt es nichts mit Auschwitz oder Stalingrad oder den anderen schrecklich symbolischen Orten unserer Geschichte Vergleichbares.
SPIEGEL: Alles Katastrophen, bei denen die Amerikaner auf der richtigen Seite gestanden haben.
Fischer: Oh ja, und dafür sind wir bis heute dankbar. Die europäische Integration ist die Antwort auf die Jahrhunderte europäischer Kriege und Metzeleien. Aber sie ist nicht der Rückzug in die Illusion des ewigen Friedens. Es hat nichts mit Feigheit oder Schwärmerei zu tun, wenn man den Anspruch verfolgt, Konflikte möglichst friedlich zu lösen.
SPIEGEL: Kagan spricht nicht von Sehnsucht. Er spricht von politischer Schwäche. Die politische Einheit Europas gibt es nicht, und Europa ist militärisch ohne große Bedeutung. Wir sind diejenigen, die unbewaffnet durch den Wald gehen, und das macht uns furchtsam, sagt Kagan.
Fischer: Ein Blick in die amerikanische Geschichte zeigt doch, wie unsinnig das ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA nun wirklich die einzige Nuklearmacht von einmaliger Stärke waren, hat eine Generation - man nennt sie die"Great Generation" - die visionäre Kraft gehabt, nicht nur dem Sowjetkommunismus Einhalt zu gebieten, sondern gleichzeitig den Wiederaufbau dieses Europas zu ermöglichen - auf der Grundlage von Kooperation und Allianzen.
Die USA waren immer dann am stärksten, wenn sie ihre Macht an ihre Kraft zur Koalitionsbildung gebunden und für internationale Regeln gesorgt haben, die von allen akzeptiert wurden.
SPIEGEL: Was nichts daran ändert, dass die Europäer, die vor allem auf Regeln und Institutionen setzen, trotz alledem - oder deshalb - politisch äußerst schwach sind.
Fischer: Daraus müssen wir die Konsequenzen ziehen.
SPIEGEL: Welche?
Fischer: Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen...
SPIEGEL:... und uns mit den Franzosen im Sicherheitsrat das Veto teilen?
Fischer: Vergessen Sie's. Das sind Gedankenspiele, die aber in der Realität nicht umsetzbar sind.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Fischer: Wir brauchen stärkere Institutionen, wozu auch die Stärkung der europäischen Außenpolitik gehört. Anders gesagt: Dort, wo die einzelnen Länder als Nationalstaaten gehandelt haben, war Europa schwach. Dort, wo gemeinsame Institutionen existieren, die funktionieren, ist Europa stark.
SPIEGEL: Konkret heißt das?
Fischer: Dass wir unsere Fähigkeiten stärken und gemeinsam ausbauen müssen und dass wir einen starken europäischen Außenminister brauchen, der die Funktion von Javier Solana als Hohem Beauftragten und von Chris Patten als Kommissar zusammenfügt - in einer Person mit einer Telefonnummer.
SPIEGEL: Diese Idee scheint derzeit fern von jeglicher Realität zu sein.
Fischer: Ich halte diese Idee für dringender denn je.
SPIEGEL: Stünden Sie denn bereit, diesen Posten mit Inhalt zu füllen?
Fischer: Darum geht es nicht. Entscheidend ist doch...
SPIEGEL:... wer es macht.
Fischer: Nein. Entscheidend ist, ob die Länder Europas bereit sind zu begreifen, dass sie gemeinsame Institutionen brauchen, die nicht gegen die Mitgliedstaaten gerichtet sind, sondern mehr europäisches Gewicht und Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik bringen. Nur dann wird Europa weiter eine wichtige Rolle spielen können.
SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Sascha
24.03.2003, 03:40
@ Sascha
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"Du musst das hochziehen" / Eine Chronik |
--><font size=5>"Du musst das hochziehen"</font>
Die Bomben auf Bagdad markieren eine Zäsur in den transatlantischen Beziehungen. Was mit dem Gelübde"uneingeschränkter Solidarität" begann, mündete in einem Zerwürfnis. In den anderthalb Jahren vor dem Krieg hat sich das deutsch-amerikanische Verhältnis radikal verändert. Eine Chronik:
20. MÄRZ 2003, BERLIN
Um halb vier wird Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Wohnung im Kanzleramt geweckt. Der Angriff auf den Irak habe begonnen, berichtet der außenpolitische Berater Bernd Mützelburg. Aus Bagdad würden erste Raketeneinschläge gemeldet. Schröder schaltet den Fernseher ein.
Zur gleichen Zeit wird auch Außenminister Joschka Fischer informiert. Er fliegt im Luftwaffen-Airbus"Theodor Heuss" entlang der kanadischen Küste über Neufundland Richtung Deutschland. In New York hatte er einen letzten Versuch gemacht, den Krieg zu verhindern. Fischer zieht sich in seine Schlafkabine zurück. Die aktuelle Rede des US-Präsidenten George W. Bush wird ihm per Telefon aus dem Lagezentrum des Auswärtigen Amtes übermittelt.
Der Krieg beginnt, die Diplomatie ist am Ende. Hinter dem Kanzler und seinem Außenminister liegen anderthalb Jahre, in denen sie versucht haben, den Frieden zu bewahren, Deutschlands Position in der Welt zu stärken und, nicht zuletzt, die eigene Macht zu sichern. Es gab viele Pannen, manche Peinlichkeiten, Niederlagen und wenige Erfolge.
Dabei wurde das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten strapaziert wie nie seit 1945, die Verbindung mit Frankreich hingegen gestärkt. Was im September 2001 mit dem engen Schulterschluss von Deutschland und Amerika im Zeichen einer Katastrophe begann, mündete jetzt in dem vorläufigen Höhepunkt eines schweren, vielleicht irreparablen Zerwürfnisses.
11. SEPTEMBER 2001, BERLIN
Gerhard Schröder sitzt in seinem Amtszimmer, liest Akten. Seine Büroleiterin Sigrid Krampitz stürzt herein."Schalt den Fernseher ein", ruft sie. Es ist kurz nach drei am Nachmittag. Auf dem Bildschirm sieht der Kanzler das brennende World Trade Center.
In einem Brief an Bush schreibt Schröder, er spreche dem Präsidenten und dem amerikanischen Volk seine"uneingeschränkte Solidarität" aus. Es beginnt eine Phase der deutsch-amerikanischen Harmonie.
16. NOVEMBER 2001, BERLIN
Im Bundestag stellt Schröder die Vertrauensfrage und riskiert damit ein vorzeitiges Ende seiner Kanzlerschaft. Es geht darum, ob die Bundeswehr zur Unterstützung der Amerikaner in Afghanistan eingesetzt werden kann. Erleichtert seufzen die Regierungsmitglieder, als die Kanzlermehrheit steht.
Kurz nach der Abstimmung ruft Schröder Wolfgang Ischinger an, seinen Botschafter in Washington."Wissen die bei Ihnen überhaupt, was ich hier gerade gemacht habe?", fragt er. Er wird den Verdacht nicht los, dass die Amerikaner seinen Einsatz für die"uneingeschränkte Solidarität" nicht zu schätzen wissen.
29. JANUAR 2002, WASHINGTON
Vor dem Kongress spricht der amerikanische Präsident von einer"Achse des Bösen": Nordkorea, Iran und Irak. Der Feldzug gegen den Terror, sagt Bush, werde"unter unserer Führung zu Ende gebracht werden". Der Kongress applaudiert stehend. Schröder verdrängt erste Befürchtungen, den USA könne es um mehr gehen als die Jagd auf Terroristen. Die Rede sei"innenpolitisch motiviert", beruhigen ihn seine Berater.
31. JANUAR 2002, WASHINGTON
Im Weißen Haus sitzen sich Schröder und Bush bei einem feierlichen Dinner gegenüber. Es gibt Krabben aus Florida und gebratene Hirschlende. Vizepräsident Richard Cheney plaudert über seine Jagdleidenschaft.
Der Kanzler spricht über das besondere Verhältnis der Europäer zum Krieg. Er deutet an, dass er Bedenken hat, den Kampf gegen den Terror auszuweiten. Das Wort Irak vermeidet er, denn auch Bush hat beim Kerzenschein nur in allgemeiner Form gesprochen, über Staaten, die den Terror sponsern. So wird es in den nächsten Monaten bleiben: Es gibt keine Klarheit zwischen Bush und Schröder, keine Fragen, keine Antworten.
Es sei nicht seine Sache, über neue Ziele im Kampf gegen den Terror zu spekulieren, sagt der Deutsche vor der Presse im Rosengarten des Weißen Hauses. Bush fasst ihn gut gelaunt am Arm und nennt ihn"my old friend Görard". Die Zeit der Illusionen beginnt. Wenig Kommunikation, viel Spekulation. Schröder und die Seinen glauben nicht an einen amerikanischen Masterplan zur Bekämpfung der"Achse des Bösen".
13. FEBRUAR 2002, BERLIN
Bislang war es ein Gefühl, jetzt ist es mehr. Fischer hat den Eindruck, die Amerikaner planten einen Krieg gegen den Irak. Im Kabinett trägt er seine Bedenken vor. Man müsse aufpassen, dass der Anti-Terror-Einsatz nicht zum globalen Militäreinsatz werde. Die Minister horchen auf. Es könne"der Tag kommen, wo die Europäer klar machen müssen: Das ist nicht mehr unsere Politik". Schröder beruhigt sich und seinen Außenminister: Bush habe ihm Konsultationen zugesagt."Daran halte ich mich."
22./23. FEBRUAR 2002, STOCKHOLM
Beim"Progressive Summit" sozialdemokratischer Regierungschefs spricht Schröder mit dem Briten Tony Blair über gemeinsame europapolitische Initiativen und über den Irak. Abends beim Rotwein schmollt Schröder im kleinen Kreis, Bush informiere ihn später als Blair über seine Pläne.
29. APRIL 2002, WASHINGTON
Fischer reist in die USA, es geht hauptsächlich um den Nahen Osten. Der Irak spielt nur am Rande eine Rolle. Der Außenminister sagt zu seinem US-Kollegen Colin Powell:"Wir haben harte Wahlen vor uns: Wir hoffen, dass ihr nicht den Irak angreift." Powell schaut auf die Uhr und fragt gönnerhaft:"Lass mal sehen, wann sind diese Wahlen?"
21. MAI 2002, BERLIN
Der deutsche Botschafter in Washington ist im Kanzleramt, um den Besuch des amerikanischen Präsidenten in Berlin vorzubereiten. Werden die Amerikaner das Thema Irak hochziehen?, wird er gefragt. Ischinger hat tagelang in Washington sondiert, nun kann er melden: Bush wolle sein Cowboy-Image loswerden - und Rücksicht auf seinen Freund Gerhard nehmen. Der Kanzler ist beruhigt.
22. MAI 2002, BERLIN
Bush landet gegen 20.30 Uhr auf dem militärischen Teil des Flughafens Tegel. Er hat 19 Stunden Zeit für Deutschland und wird dabei streng abgeschirmt. Das Hotel Adlon neben dem Brandenburger Tor lässt die Kaffeetasse des Präsidenten eine Stunde lang auskochen. Die Coca-Cola hat man eigens aus den USA eingeflogen. Im Restaurant Tucher am Pariser Platz bestellt Bush Eiscreme und Apfelstrudel, Schröder Currywurst.
Erneut spielt der Irak kaum eine Rolle. Stattdessen plaudern die beiden Regierungschefs über die Fußball-WM. Haben die Deutschen eine Chance?, will der Amerikaner wissen. Schröder ist pessimistisch:"Ich bin froh, wenn wir die Vorrunde überstehen."
"Was ich an Gerhard so mag, ist die Tatsache, dass er immer bereit ist, in ganz offener Weise Probleme anzugehen, und dass er jemand ist, der Probleme löst - genau wie ich", schwärmt Bush vor der Presse. Er wolle"dem deutschen Volk zeigen, wie stolz ich auf unser persönliches Verhältnis bin". Zum Thema Irak sagt er:"Ich habe keine Kriegspläne auf dem Tisch, und das ist die Wahrheit."
Während des Besuchs soll es einen Deal gegeben haben, streut später die amerikanische Administration: Bush werde von Schröder vor der Wahl nichts verlangen. Im Gegenzug werde der Deutsche die Amerikaner unterstützen und sich im Wahlkampf beim Thema Irak zurückhalten.
Der amerikanische Botschafter Daniel Coats berichtet Bundestagsabgeordneten, der Präsident habe ihm später gesagt:"That guy has been cheating on me" (Der Typ hat mich betrogen). Schröder erklärt, es habe einen solchen Deal nicht gegeben. Schon eine solche Annahme sei wirklichkeitsfremd.
29. JULI 2002, WASHINGTON
Im Senat beginnen Anhörungen zur Irak-Frage. Bis hin zum CIA-Direktor sind alle Experten aufmarschiert. Joseph Biden, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Senat, sagt:"Wahrscheinlich wird es Krieg gegen den Irak geben." Die Zeit der Illusionen ist zu Ende, jedenfalls für die Deutschen. Fischer staunt über die offene Diskussion in den USA."Ein großartiges Land", sagt er.
30. JULI 2002, BERLIN
In aller Frühe eilt Fischer zu Schröder ins Kanzleramt. Das Wetter ist gut, sie stehen auf der Terrasse eine Etage über Schröders Büro."Du musst das hochziehen", drängt der Grüne seinen Chef, den Irak zum Thema im Wahlkampf zu machen. Erstens gingen die Amerikaner ganz sicher auf Kriegskurs, und"wir müssen uns aufstellen, bevor wir aufgestellt werden". Zweitens könne eine skeptische Haltung helfen, die Wahl zu gewinnen. Schröder zögert. Die Umfragen sehen ihn als sicheren Wahlverlierer. Ein hektischer Themenwechsel scheint ihm schädlich.
1. AUGUST 2002, BERLIN
Im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses kommt das Präsidium der SPD am Abend zu einer Sondersitzung zusammen."Was macht der Bush da?", will Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul wissen. Auch andere fragen nach der Haltung der Bundesregierung zu einem möglichen Krieg.
Schröder gibt dem Drängen nach. Er unterbricht die Sitzung, spricht mit Journalisten, die vor der Tür warten. Nach zehn Minuten kommt er wieder herein. Er habe der Presse erklärt, die Regierung sei bereit zu Solidarität, nicht aber zu Abenteuern. Damit ist die Position der SPD entschieden: Nein zum Krieg im Irak. Die Präsidiumsmitglieder sind sich einig, es gibt keinen Widerspruch.
SPD-Generalsekretär Franz Müntefering präsentiert den Genossen den neuesten Slogan für den Wahlkampf, den er kurz zuvor zusammen mit Demoskopen ausgeheckt hat:"Der deutsche Weg". Im Präsidium sind alle begeistert.
2. AUGUST 2002, BERLIN
Müntefering erläutert vor der Presse, wie die SPD unter dem Stichwort"deutscher Weg" im Wahlkampf Innen- und Außenpolitik verbinden wird:"Die Menschen wollen im Wandel Sicherheit haben, und dazu gehört auch die Sicherheit vor Krieg."
Als Fischer vom"deutschen Weg" hört, tobt er. Auch er ist für Konfrontation, will aber Maß halten, um sich und seinen Diplomaten nicht den Rückweg zu versperren.
Der Außenminister telefoniert in der SPD herum, versucht den Erfinder der missglückten Wortschöpfung herauszubekommen. In der Wahlkampfzentrale Kampa werden eilig alle Texte, in denen der Begriff"deutscher Weg" auftaucht, aus dem Verkehr gezogen. In Telefonaten und Hintergrundkreisen versuchen die Strippenzieher der SPD, den Journalisten den deutschen Weg als Fortentwicklung von Willy Brandts Idee des europäischen Sozialstaatsmodells zu verkaufen."Das war natürlich kompletter Bullshit", sagt einer von ihnen heute.
5. AUGUST 2002, HANNOVER
Schröder eröffnet den Wahlkampf vor 5000 Menschen auf dem Opernplatz. Die Sonne scheint, der Kanzler, rote Krawatte, braun gebrannt, erklimmt die Bühne, wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Nach 23 Minuten kommt er auf das Thema Irak."Wir sind zur Solidarität bereit, aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen." Druck auf Saddam Hussein, das schon,"aber Spielerei mit Krieg und militärischer Intervention - davor kann ich nur warnen. Das ist mit uns nicht zu machen". Er werde fortfahren, sagt Schröder, in"der großartigen Tradition der Friedenspolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt". Bisher hatte das Publikum in der Sommersonne träge vor sich hin gedöst, jetzt applaudiert es begeistert. Schröder hat den Nerv getroffen."Na Gott sei Dank", sagt Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye. Die SPD hat endlich wieder ein großes Thema, Feindbild, Moral und Werte inbegriffen.
10. AUGUST 2002, WASHINGTON
Die US-Regierung merkt auf. Aus Zweifel wird Misstrauen."Wer ist denn nun der Böse für Deutschland?", fragt Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice den deutschen Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan,"Bush oder Saddam?"
12. AUGUST 2002, BERLIN
Der amerikanische Botschafter marschiert erbost ins Kanzleramt. Es gehöre sich nicht, den US-Präsidenten in die Nähe von Abenteurern zu rücken, sagt Coats zu Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier. Im Übrigen habe Bush in Sachen Irak noch keine Entscheidung gefällt. Steinmeier belehrt den Amerikaner über das Wesen der deutschen Sozialdemokratie: In seiner Partei spielten"Fragen von Krieg und Frieden" eben eine stärkere Rolle als etwa in der Union. Deshalb könne Schröder als Parteivorsitzender im Wahlkampf"Diskussionen nicht wegdrücken". Dass manche Botschaft"etwas zugespitzt" rüberkomme, sei unvermeidbar, leider.
21. AUGUST 2002, BERLIN
Beim Treffen des Bundeskanzlers mit dem Verein der Auslandspresse fragen die Korrespondenten, ob die USA den Deutschen Daumenschrauben angelegt hätten. Schröder hält grinsend die Hände hoch:"Vollkommen unversehrt." Vollmundig fügt er hinzu:"Wir reagieren nicht auf Druck. Das hat mit unserem Selbstbewusstsein zu tun."
26. AUGUST 2002, NASHVILLE
Bei der"103. Nationalen Versammlung der Veteranen Ausländischer Kriege" sagt Vizepräsident Cheney:"Ein Regimewechsel im Irak würde eine Menge Vorteile für die Region bringen." Es gebe"keinen Zweifel, dass Saddam jetzt Massenvernichtungswaffen besitzt. Viele von uns sind überzeugt, dass er sich ziemlich bald Atomwaffen beschaffen wird". Deshalb müsse man die Schlacht nun"zum Feind tragen".
Schröder liest die Rede nach, aufmerksam registriert er den Begründungswechsel, vor dem so viele gewarnt hatten: Regimewechsel statt Kampf gegen den Terror.
4. SEPTEMBER 2002, HANNOVER
Im Garten seines Privathauses in Hannover gibt Schröder Steven Erlanger von der"New York Times" ein Interview. Deutschland, sagt er, werde bei einem Krieg gegen den Irak nicht mitmachen, egal, was die Uno entscheide. Der Regierungschef wirkt entschlossen und mit sich im Reinen. Das Gespräch wird ohne Autorisierung gedruckt. Die Spielräume des Kanzlers haben sich dadurch dramatisch verengt, die SPD-Linke jubelt, nur wenige außenpolitische Experten verspüren Unbehagen.
5. SEPTEMBER 2002, BERLIN
Ludwig Stiegler, der neue Vorsitzende der SPD-Fraktion, betritt die weltpolitische Bühne und vergleicht Coats mit dem früheren sowjetischen Botschafter Pjotr Abrassimow in der DDR. Tags drauf sagt Stiegler im"Münchner Merkur", Amerika verstehe sich als"das neue Rom" und betrachte die Bündnispartner als"Verfügungsmasse". Bush benehme sich wie Caesar Augustus.
Karsten Voigt, Koordinator für deutschamerikanische Beziehungen im Auswärtigen Amt, deutet in einer Sonntagszeitung an, dass die Position der Bundesregierung nicht für alle Zeiten feststehe:"Ich glaube, das kann nach den Wahlen repariert werden."
9. SEPTEMBER 2002, BERLIN
In einer SPD-Präsidiumssitzung wird Stiegler vom Parteichef gerüffelt:"Lass das endlich!"
12. SEPTEMBER 2002, NEW YORK
Am Morgen informiert Powell seinen Kollegen Fischer über den Text der Rede, die Bush vor der Generalversammlung der Uno halten will. Der Amerikaner fragt in scherzhaftem Ton, ob der Präsident die deutsche Regierung mit einer"harten" Rede unterstützen würde? Fischer bejaht. Powell:"Okay, es wird eine sehr harte Rede werden."
Tatsächlich greift Bush Saddam Hussein scharf an. Der Uno wirft er vor, es stelle ihre Autorität in Frage, dass sie seit zwölf Jahren von dem Diktator ignoriert werde. Sie habe eine letzte Chance, die Entwaffnung Saddams selbst in die Hand zu nehmen.
Beim Mittagessen im Gebäude der Uno winkt Bush den deutschen Außenminister an seinen Tisch."Wann ist diese verdammte Wahl vorbei?", will er augenzwinkernd wissen. Fischer ist verlegen: Als reine Wahlkampagne will er das deutsche Auftreten nicht verstanden wissen, gleichzeitig ist er gottfroh, von dem Amerikaner nicht verstoßen zu sein. Er spielt das Spiel mit. Man müsse nach der Wahl reden.
Kurz nach der Rede telefoniert Verteidigungsminister Peter Struck mit Fischer in New York. Das Duo ist sich einig:"Die Bush-Rede nutzt uns." Die Außenpolitik ist zum wirkungsvollsten Instrument des Wahlkampfs geworden.
13. SEPTEMBER 2002, BERLIN
Der Bundestag debattiert über den Irak. Der Kanzler bekräftigt, dass für ihn - wie für den US-Präsidenten - die nationalen Interessen an erster Stelle stünden:"Über die existenziellen Fragen der deutschen Nation wird in Berlin entschieden und nirgendwo anders." Doch Schröder vermeidet persönliche Angriffe gegen Bush. Er weiß, dass er nicht überziehen darf. Die Meinungsforscher verzeichnen einen deutlichen Umschwung in den Umfragen zu Gunsten der SPD.
18. SEPTEMBER 2002, TÜBINGEN/WASHINGTON
Justizministerin Herta Däubler-Gmelin tritt vormittags in der Sportgaststätte des TV Derendingen vor Betriebsräten und Vertrauensleuten zweier Firmen aus Tübingen auf."Bush will von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken. Das ist eine beliebte Methode. Das hat auch Hitler schon gemacht", wird sie tags drauf im"Schwäbischen Tagblatt" zitiert.
Bushs Leute im Weißen Haus schäumen. Ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats ruft in der deutschen Botschaft an:"Jetzt ist das Fass übergelaufen."
Bush, sonst eher lesefaul, lässt sich Agenturmeldungen zur Affäre Däubler-Gmelin vorlegen. Die Amerikaner sind sicher, dass der Kanzler seine Ministerin sofort feuern wird. Doch nichts geschieht."Was wäre das für ein Wahlkampfabschluss gewesen?", grummelt einer aus dem Kanzlerteam.
Schröder will Bush wenigstens anrufen und sich entschuldigen. Doch der Präsident lässt sich nicht sprechen. Schröder ist darüber seinerseits verärgert. Schließlich schreibt er einen Brief an Bush, in dem er die"angeblichen Äußerungen" bedauert. Seither seien die Beziehungen"vergiftet", sagt Condoleezza Rice später gegenüber der"Financial Times".
22. SEPTEMBER 2002, BERLIN
Schröder gewinnt knapp die Wahl. Das verdankt er vor allem der Stärke der Grünen, der Flut und dem Thema Irak. Bush gratuliert nicht, entgegen allen protokollarischen Gepflogenheiten.
23. SEPTEMBER 2002, BERLIN
Bei einem Treffen Schröders mit der Parlamentarischen Linken der SPD im Kanzleramt fragt der Außenpolitiker Gernot Erler zum Thema Irak:"Wie sieht es aus nach der Wahl?" Erler hat Sorge, der Kanzler könne nun zurückrudern. Schröder ist in Gönnerlaune, versichert:"Das ist eine Grundsatzentscheidung. Die werden sich noch wundern. An meiner Position wird sich überhaupt nichts ändern." Mit seiner Glaubwürdigkeit, darin ist sich der Kanzler mit Fischer einig, steht und fällt die rotgrüne Regierung. Später wird Schröder sagen, er habe"kein Mandat" für einen Politikwechsel gehabt.
Die Hoffnungen der Amerikaner auf eine veränderte Haltung der Bundesregierung werden damit enttäuscht. Es gibt nun kaum mehr Aussichten, dass beide Seiten bald wieder zueinander finden.
24./25. SEPTEMBER 2002, WARSCHAU
Der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ignoriert seinen Kollegen Struck beim Nato-Treffen und spottet über die Deutschen:"Wer in der Grube sitzt, sollte nicht noch tiefer buddeln." Vergebens bemüht sich Struck um einen Einzeltermin. Beim Abendessen der Minister verlässt Rumsfeld den Raum, bevor der Deutsche das Wort ergreift -"Termingründe".
3. OKTOBER 2002, BERLIN
Powell ruft Fischer an, der versucht, die Wogen zu glätten. Der deutsche Außenminister lässt verbreiten, anders als Bush und Schröder hätten er und sein US-Kollege ein gutes Verhältnis. Doch das stimmt längst nicht mehr, wie Mitarbeiter einräumen. Die Atmosphäre sei deutlich abgekühlt, die Telefonate würden kürzer.
30. OKTOBER 2002, WASHINGTON
Fischer jettet über den Atlantik, um ein Telefonat zwischen Bush und Schröder anzubahnen. Der Zeitpunkt ist ungünstig, denn die Kongresswahlen stehen an."Das Wichtigste an der Reise war, dass sie stattgefunden hat", bilanziert Fischer schon auf dem Hinflug.
Fischer spricht 45 Minuten mit Powell unter vier Augen. Der Amerikaner weist seinen deutschen Kollegen zunächst in höflicher Form zurecht, dann sprechen beide über das Telefonat der Chefs. Powell sagt, es gebe"rough spots" zwischen beiden.
8. NOVEMBER 2002, NEW YORK
Der Uno-Sicherheitsrat beschließt die Resolution 1441, die dem Irak mit"ernsten Konsequenzen" bei"schwer wiegenden Verstößen" gegen die Abrüstungsauflagen droht.
8. NOVEMBER 2002, BERLIN/WASHINGTON
Schröder ruft Bush an und gratuliert zum Sieg der Republikaner bei den Kongresswahlen. Amerikanische Diplomaten streuen, Bush habe Schröder in dem zehnminütigen Telefonat zunächst angeschwiegen und dann gesagt, normalerweise herrsche zwischen Verbündeten"Vertrauen und Verlässlichkeit". Er hoffe,"wir können dies im Laufe der Zeit wieder aufbauen".
21./22. NOVEMBER 2002, PRAG
Tagelang haben die Berater des Kanzlers vor dem Nato-Gipfel sondiert, doch die Amerikaner bleiben stur, Bush will Schröder nicht treffen. Einen Fototermin werde es aber geben, beruhigen Bushs Leute. Beim Gruppenbild auf dem Podest wendet sich der Präsident unvermittelt Schröder zu, der eine Stufe herabsteigen muss, um Bushs Hand zu erwischen.
Fischer und Schröder sagen nun nicht mehr, es werde keine Beteiligung an einem Irak-Feldzug geben, sondern:"Eine aktive Beteiligung Deutschlands wird es nicht geben."
27. NOVEMBER 2002, BAGDAD
Inspektoren der Uno-Kontrollkommission und der Internationalen Atomenergiebehörde beginnen im Irak mit der Suche nach möglichen atomaren, biologischen und chemischen Waffen.
5. DEZEMBER 2002, NORFOLK
Der amerikanische Flugzeugträger"Harry S. Truman" läuft mit acht Begleitschiffen in Richtung Mittelmeer und Persischer Golf aus.
16. DEZEMBER 2002, BERLIN
Im Flugzeug von Berlin nach Cloppenburg reden Schröder und Ministerpräsident Sigmar Gabriel über den Wahlkampf in Niedersachsen. Klar ist, dass die SPD im Land kaum noch Chancen hat. Anders als die SPD in Hessen, die ihre zeitgleich stattfindende Wahl zur Kriegsabstimmung macht, verspricht sich Gabriel nicht viel davon. Die internen Umfragen zeigen, dass das Thema Irak nicht mehr genug zieht. Trotzdem ist er sich mit dem Kanzler einig, dass allenfalls das Kriegsszenario die Regierungsmacht in Hannover retten kann. Wieder wird Außenpolitik im Zeichen eines Wahlkampfs gemacht.
23. DEZEMBER 2002, BERLIN
Nach mehreren Absagen gibt Fischer dem SPIEGEL kurzfristig ein Interview. Er erscheint eine halbe Stunde zu spät, in Wollpulli und Lederjacke. Es geht um die Frage, wie Deutschland sich im Sicherheitsrat verhalten würde. Der Außenminister will testen, was geht - aber nur moderat. Er sagt:"Deutschland wird sich auf der klaren Grundlage einer deutschen Nichtbeteiligung und der Erfüllung seiner Bündnispflichten verantwortungsvoll verhalten." Fischer will sich nicht auf ein klares Nein im Sicherheitsrat festlegen, weil er anders als der Kanzler noch mit dem Gedanken an eine Enthaltung spielt. Er unterschätzt, dass sein diplomatischer Hochseilakt im Wahlkampf als Kurskorrektur verstanden wird.
24. DEZEMBER 2002, WASHINGTON
Rumsfeld erteilt den ersten Marschbefehl für 25 000 Soldaten in die Golfregion.
28. DEZEMBER 2002, BERLIN
Im Flugzeug nach Shanghai bekommt Schröder die Vorabmeldung über das SPIEGEL-Interview mit Fischer. Er kocht. Eine"üble Situation" sei das, schimpft er später, er habe von nichts gewusst.
Wahlkämpfer Gabriel fürchtet, die Regierung bereite nun die Wende in der Irak-Politik vor. In Telefonaten beschwichtigt der Kanzler ihn und andere besorgte Genossen. Er könne aber Fischer nicht offen widersprechen. Der Vorstoß sei nicht abgestimmt, eine Wende nicht geplant.
20. JANUAR 2003, NEW YORK
Das Katz-und-Maus-Spiel im Sicherheitsrat beginnt. Fischer ist nervös, es ist seine erste Rede vor dem Gremium, das in diesem Monat von Frankreich geleitet wird. Obwohl auf der Tagesordnung der Kampf gegen den Terror steht, lenken Fischer und der französische Außenminister Dominique de Villepin die Debatte auf den Irak und die Bedeutung der Inspektionen. Powell ist sichtlich überrascht und wütend. Der Amerikaner kontert und plädiert dafür, die Kriegsoption offen zu halten:"Wir dürfen nicht zurückschrecken, weil wir Angst vor den Konsequenzen haben."
In einer Pressekonferenz droht de Villepin mit einem Veto. Powell ist empört, fühlt sich an der Nase herumgeführt. Fischer ist mit seinem Debüt zufrieden.
21. JANUAR 2003, GOSLAR
Am späten Nachmittag eilt der Kanzler von Berlin ins Odeon-Theater nach Goslar, um Ministerpräsident Gabriel im Wahlkampf zu helfen. Er wolle jetzt etwas zu Deutschlands Rolle anmerken, sagt er mit ernstem Gesicht:"Ich sage das hier jetzt ein Stück weitergehend als das, was ich in dieser Frage sonst formuliert habe: Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmt." Das Publikum applaudiert heftig.
Schröder hat seine Worte vorher mit niemandem abgestimmt. In der SPD ist man beruhigt: Schröder habe alle Unklarheiten beseitigt. Fischer dagegen ist sauer auf seinen Chef. Der Wahlkampf sei keine Gelegenheit für außenpolitische Festlegungen. Zudem fühlt er sich übergangen.
22. JANUAR 2003, VERSAILLES
Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac feiern 40 Jahre deutsch-französische Freundschaft. Sie verkünden, ihre Länder seien einig, dass über Krieg und Frieden allein der Uno-Sicherheitsrat zu entscheiden habe und dass Krieg immer die schlechteste Lösung sei. Der Kanzler ist beflügelt. Auf dem Rückflug sagt er zu seinen Mitarbeitern:"Na seht ihr, auf die Franzosen kann man sich eben doch verlassen."
Seit längerem schon kommt er mit dem Konservativen besser klar als mit manchem Sozialisten. Sogar über afrikanische Kunst haben die beiden schon geplaudert."Der ist angenehm", findet Schröder.
Zur gleichen Zeit sagt Rumsfeld in Washington vor Journalisten:"Sie denken bei Europa an Frankreich und Deutschland. Ich nicht, das ist das alte Europa." Der Schwerpunkt habe sich nach Osten verlagert. Wie üblich trägt Rumsfeld seine Attacke in freundlichem Ton vor, er grinst übermütig."Deutschland ist ein Problem gewesen, und Frankreich ist ein Problem gewesen. Aber schauen Sie sich doch die anderen an. Die stehen nicht auf der Seite Deutschlands und Frankreichs, sondern auf der Seite der USA."
30. JANUAR 2003
In einem Dutzend europäischer Zeitungen veröffentlichen acht Staats- und Regierungschefs eine Art Gegenerklärung zu Versailles. Blair, der Spanier José MarÃa Aznar und der Italiener Silvio Berlusconi haben hinter dem Rücken von Schröder und Chirac die proamerikanischen Länder Europas für eine Ergebenheitsadresse gewonnen. Berlin und Paris sind empört und rücken noch enger zusammen.
2. FEBRUAR 2003, BERLIN
Tiefpunkt für den Kanzler. Die SPD hat die Wahlen in Niedersachsen und Hessen katastrophal verloren, das Verhältnis zu den USA ist zerrüttet, die wirtschaftliche Lage miserabel. Schröder könnte als schlechtester Bundeskanzler seit dem Zweiten Weltkrieg in die Geschichte eingehen, schreibt daraufhin der britische"Economist".
5. FEBRUAR 2003, NEW YORK
Powell will Beweise gegen den Irak im Sicherheitsrat vorlegen. Fischer wirkt fahrig, er fürchtet, die USA würden nun ihren großen Coup landen, der ein Nein zum Krieg schwierig macht. Dann legt Powell Zeichnungen vor, Luftbildaufnahmen, auf denen kaum etwas zu erkennen ist, und den Mitschnitt eines Gesprächs, das irakischen Offizieren zugeschrieben wird. Die Teilnehmer der Sitzung schauen skeptisch. Später stellen sich die Beweise zum Teil als veraltet oder nicht überprüfbar heraus.
6. FEBRUAR 2003, WASHINGTON
Rumsfeld nennt Deutschland in einem Atemzug mit Libyen und Kuba als Staaten, die in Sachen Irak"gar nichts" tun wollten.
8. FEBRUAR 2003, MÜNCHEN
Auf der Sicherheitskonferenz beherrscht eine SPIEGEL-Meldung über einen deutschfranzösischen Alternativ-Plan zur Abrüstung des Irak die Diskussion. Fischer und Rumsfeld liefern sich vor 300 Zuschauern ein Rededuell."Es ist schwer zu glauben, dass vernünftige Menschen noch Zweifel haben können, wenn die Fakten doch vor ihnen liegen", sagt Rumsfeld. Fischer hält erregt dagegen:"Excuse me, I am not convinced." Er könne der Ã-ffentlichkeit nicht sagen"Jetzt 'n Krieg, auch wenn ich selbst nicht überzeugt bin", zetert der Deutsche.
Er ist auch verärgert, dass der Kanzler ihn über den Vorstoß nicht näher informiert hat. Fischer ruft Schröder an und schimpft, das sei mit ihm nicht zu machen.
9. FEBRUAR 2003, BERLIN
Der russische Präsident Wladimir Putin schließt sich der deutsch-französischen Initiative an. Die Amerikaner können es nicht fassen. Bisher waren die Deutschen nur anderer Meinung, nun arbeiten sie offenbar gegen die Vereinigten Staaten. In einem Telefonat mit Chirac hatte Schröder zuvor gesagt:"Ich bringe Putin mit. Da können wir eine trilaterale Beziehung daraus machen."
Eine neue Phase beginnt. Deutschland kämpft nicht mehr gegen Isolierung, sondern schmiedet an einem Bündnis mit.
14. FEBRUAR 2003, NEW YORK
Dritte Runde im Sicherheitsrat. Vor der Sitzung, beim Frühstück im Beekman Tower Hotel, liest Fischer feixend deutsche Zeitungen. Das Glück hat sich gewendet. Nicht Deutschland ist von vielen Freunden verlassen, sondern die USA. Vor drei Tagen sei Zeitunglesen noch"wie ein Besuch im Dominastudio" gewesen, findet Fischer, jetzt genießt er jede Seite.
24. FEBRUAR 2003, NEW YORK
Die USA, Großbritannien und Spanien bringen einen gemeinsamen Resolutionsentwurf in den Sicherheitsrat ein, der den endgültigen Bruch der Uno-Auflagen durch den Irak feststellt. Saddam habe seine"letzte Chance" vertan.
Frankreich legt ein"Memorandum" vor, das von Deutschland und Russland gestützt wird: Mehr Zeit für Inspektoren mit konkreten Fristen für bestimmte Auflagen.
7. MÄRZ 2003, NEW YORK
Vierte Runde im Sicherheitsrat. Die Fronten sind unverändert. Die Amerikaner registrieren, dass sie kaum noch Chancen auf eine Mehrheit haben. Doch auch die Deutschen haben keine Hoffnung, dass ein Krieg noch zu verhindern ist."Was wir hier tun", seufzt einer von Fischers Männern,"hat keinen realen Hintergrund mehr."
18./19. MÄRZ 2003, NEW YORK/ BAGDAD
Letzte Runde im Sicherheitsrat. Ein"trauriger Tag", sagt Uno-Generalsekretär Kofi Annan. Nur Russland, Frankreich, Deutschland, Guinea und Syrien schicken ihre Außenminister nach New York. Fischer hat schon beim Frühstück Kopfschmerzen, ist erschöpft von der nächtlichen Anreise. Im großen Ratssaal hält er die vehementeste Gegenrede zu den Amerikanern:"Deutschland lehnt den drohenden Krieg nachdrücklich ab."
20. MÄRZ 2003
Das Ultimatum läuft ab, gegen 3.30 Uhr (MEZ) beginnen die USA mit der Bombardierung Bagdads. Die Nachrichtenagenturen berichten über erste Tote.
RALF BESTE, MATTHIAS GEYER, TINA HILDEBRANDT, HORAND KNAUP, ALEXANDER SZANDAR
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Sascha
24.03.2003, 03:41
@ Sascha
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"Relativ surrealistisch" |
--><font size=5>"Relativ surrealistisch"</font>
Die europäischen Regierungschefs wissen nicht, wie sie die Staatengemeinschaft aus der durch den Irak-Krieg ausgelösten Krise steuern sollen. Deutsche und Franzosen planen bereits eine kleine, feine Kern-EU.
Es war der Gipfel der Scheinheiligkeit. Von"Perspektiven zur neuen Einigkeit", von den"Gemeinsamkeiten der Europäer" redete Gerhard Schröder nach dem Abendessen der Staats- und Regierungschefs am vorigen Donnerstag in Brüssel - als wäre alles wie immer. Eine"ganz normale" Sitzung sei das gewesen, so der Bundeskanzler. Jetzt müsse man"nach vorne sehen und nach vorne gehen", erklärte Schwedens Ministerpräsident Göran Persson.
Der Brite Tony Blair und der Franzose Jacques Chirac schüttelten sich, wenn auch kurz, die Hände, tauschten Höflichkeitsfloskeln aus. Die 15 Herren stritten ein wenig über Milchquoten und erklärten sich einmütig zu humanitärer Hilfe im Irak bereit.
Mit keinem Wort erwähnten die Gipfelteilnehmer in den offiziellen Sitzungen der anderthalbtägigen Konferenz den schweren Konflikt in den eigenen Reihen über den Angriff auf den Irak ohne Uno-Mandat. Kein Wort über die Hetztiraden Blairs gegen Paris, das französische Verhalten im Sicherheitsrat habe die friedliche Entwaffnung Saddam Husseins verhindert. Kein Wort über die abfälligen Bemerkungen Chiracs über die US-Vasallen in den Reihen der Europäer.
Er habe, so das bissige Fazit von Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker,"an einer relativ surrealistischen Veranstaltung teilgenommen".
ZWEI IN ETWA GLEICH STARKE STAATSGRUPPEN, JEWEILS GESCHART UM ZWEI ANFÜHRERSTAATEN, STEHEN SICH FAST FEINDSELIG GEGENÜBER.
Jeder habe erwartet, sagt Juncker, dass die schweren Differenzen zwischen Befürwortern und Gegnern des Kriegs auf den Tisch gepackt würden. Doch die Runde habe"kollektiv versagt". Die Staatenlenker schafften es nicht, die Gemeinschaft zumindest ansatzweise aus ihrer bisher schwersten Krise herauszusteuern.
Dabei herrscht Alarmstufe Rot in Brüssel: Die Entwicklung, ja sogar der Fortbestand der Europäischen Union ist gefährdet. Die EU ist so tief gespalten wie nie zuvor.
Der entscheidende Unterschied zu früheren Krisen: Erstmals stehen sich zwei in etwa gleich starke Staatengruppen, jeweils geschart um zwei Anführerstaaten, hier Großbritannien und Spanien, dort Frankreich und Deutschland, fast feindselig gegenüber. Der Riss, der in der Irak-Frage aufgebrochen ist, kann sich leicht in andere Politikfelder der Gemeinschaft hineinfressen, etwa in die heiklen Finanzangelegenheiten, und den europäischen Einigungsprozess zum Stillstand bringen.
Der erfahrene Luxemburg-Premier flüchtet sich in Sarkasmus. Ob sich denn Spanien wieder ins europäische Boot ziehen lasse, wurde Juncker vor der Presse gefragt. Seine Antwort: Er wisse nicht mehr, in welches Boot, es gebe ja schon mehrere."Und bald ist jeder im Wasser und niemand mehr im Boot."
Die Krise erschüttert die Gemeinschaft zu einer Zeit, in der sie ohnehin schon vor schwierigen Aufgaben steht. Die Erweiterung nach Osten ist beschlossen, aber noch lange nicht bewältigt. Und das gesamte innere Macht- und Verwaltungsgefüge bedarf der raschen Neuordnung, die in einer hochkarätigen Reformrunde seit Monaten vorbereitet wird.
Valéry Giscard d'Estaing, der Präsident des Verfassungskonvents, bangt um den Erfolg des ehrgeizigen Projekts. Seine Zusage, am Gipfel teilzunehmen, hatte der Franzose zurückgezogen, denn die zerstrittenen EU-Führer waren nicht bereit, über neue Gemeinsamkeiten im Rahmen der künftigen Verfassung zu diskutieren.
In zwei Kernbereichen, von denen die Handlungsfähigkeit der auf 25 Länder erweiterten Union abhängt, wird es im Konvent, so Giscard, voraussichtlich keine Verständigung geben: bei der dringend notwendigen Neukonstruktion der Brüsseler Institutionen - EU-Kommission, Ministerrat, Europäisches Parlament - und beim Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Nun will der frühere französische Staatschef auf Zeit spielen und die Reformrunde nicht wie geplant bis Juni, sondern bis September tagen lassen.
Doch die lähmenden Folgen der Irak-Krise sind bereits absehbar. Die britische Labour-Regierung, die wegen ihrer Kriegsteilnahme vollauf mit innenpolitischer Schadensbegrenzung beschäftigt ist, wird sich bei ihrem Europa-skeptischen Wahlvolk nicht mit einem Ja zum Ausbau der EU zusätzlichen Ärger einhandeln wollen.
London hat Konventspräsident Giscard signalisiert, mit den bisherigen, nur für Brüssel-Kenner interessanten Ergebnissen könne man leben - beispielsweise der Verbindlichkeit der Menschenrechts-Charta und dem Namen"Verfassung" für den neuen Vertrag. Mehr sei nicht drin.
Die Briten sagen Nein zur Wahl des europäischen Kommissionspräsidenten, die ihn in den Rang eines Regierungschefs befördern würde, Nein zur Stärkung des Europaparlaments, Nein zu Mehrheitsentscheidungen und zum Verzicht auf ihr Vetorecht in wichtigen Fragen, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Positionen erscheinen unvereinbar. Was die Briten für"nicht akzeptabel" erklären, erscheint den deutschen Chefdiplomaten als höchst erstrebenswertes Ziel. Unbeirrt propagiert Joschka Fischer,"dass wir einen starken europäischen Außenminister brauchen" - gerade als Lehre aus dem tiefen Zerwürfnis (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 49).
Londons führender Verhandler im Konvent, Peter Hain, ficht das nicht an. In seinem Kampf gegen den"Brüsseler Superstaat" will er auf die EU-Neulinge im Osten setzen. Länder, die unlängst noch unter der Knute Moskaus standen, hätten, so Hain,"keinerlei Bedürfnis, sich Brüssel zu unterwerfen".
Frankreichs Präsident sieht sich in seiner Skepsis gegenüber der massiven Osterweiterung der EU bestätigt. Der Gaullist fürchtet, die auf Amerika fixierten neuen Mitgliedsländer würden der Union die Chance nehmen, sich als eigenständiger politischer Akteur auf der Weltbühne zu etablieren - mit starker französischer Steuerung.
Seinen Landsmann Giscard ließ Chirac wissen, er sei inzwischen entschieden gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen über außen- und sicherheitspolitische Fragen. Dabei hatte er in einem gemeinsamen Brief mit Schröder an den Konvent vor kurzem noch dafür plädiert. Eine schlichte Rechnung stimmte den Franzosen nun nachdenklich: 14 Staaten der künftigen EU der 25 haben sich gegen sein Veto zum Krieg gestellt.
Chirac ließ bereits die Drohung streuen, eine künftige Verfassung, die seinen Wünschen nicht Rechnung trage, werde dem französischen Volk vorgelegt - um dann in einem Referendum im Herbst 2004 zu scheitern.
"Der Schwung bei der Erweiterung ist raus", stellte betrübt der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen nach seinen Kontakten mit den Regierungen der Alt-Mitglieder fest. Häufig bekomme er nun zu hören, die von ihm vorangetriebene Ostausdehnung, die unumkehrbar ist, sei wohl doch ein großer Fehler gewesen.
Die künftigen Partner von Estland bis Slowenien sorgen weiterhin für Irritationen. So tönte der tschechische Außenminister Cyril Svoboda, sein Land, das Chemiewaffen-Experten an den Golf geschickt hat, gehöre selbstverständlich zur"Koalition der Willigen". Regierungschef VladimÃr µpidla jedoch widersprach: Tschechischen Soldaten seien nur"humanitäre Einsätze" erlaubt. µpidla:"Wir sind nicht Bestandteil der Koalition."
Gewackel auch in Slowenien. Unmittelbar vor den ersten Luftangriffen distanzierte sich Präsident Janez Drnovsek von der proamerikanischen Erklärung, die Außenminister Dimitri Rupel kürzlich im litauischen Vilnius unterschrieben hat. Die Ergebenheitssignaturen der zehn Unterzeichner wurden offenbar auch auf Grund erpresserischen Drucks von jenseits des Atlantiks geleistet. Der slowenischen Regierung sei, so Rupel, gedroht worden, die heiß begehrte Aufnahme des Landes in die Nato könne im US-Senat noch leicht gekippt werden.
Hohe polnische Kleriker verbreiten, ihr Land sei aus Washington mit dem Hinweis gefügig gemacht worden, sonst würden Zusagen über US-Investitionen in Höhe von sechs Milliarden Dollar zurückgezogen.
Erschrocken über die Geister, die sie riefen, planen der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler bereits eine neue EU, die wieder mehr die alte wäre.
Errungenschaften wie der gemeinsame Binnenmarkt oder die gemeinsame Währung von 12 Ländern sollen in der EU der 25 erhalten bleiben. Daneben aber möchten Chirac und Schröder ein neues Bündnis jener EU-Staaten betreiben, die zu verstärkter Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik bereit sind.
Dieses Kern-Europa ließe sich, so der kürzlich verabredete Plan, aus Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxländern, den sechs Gründerstaaten der Gemeinschaft, bilden. Es solle offen sein für andere ernsthafte Bewerber. Wenn es nicht gelinge, diesen Kern innerhalb der EU-Verträge zu organisieren, auch darin sind sich der Deutsche und der Franzose einig, dann müsse das eben anders geschehen.
"Mit Nachdruck", so Außenminister Fischer am Donnerstag in Brüssel, wollen die Alt-Europäer einen deutsch-französischen Vorstoß zur gemeinsamen Verteidigung weiterverfolgen. Danach sei die EU in eine"Sicherheits- und Verteidigungsunion" fortzuentwickeln, die wie die Nato einer kollektiven Beistandspflicht unterliegt.
Da die Vertreter mehrerer Mitgliedstaaten den Vorschlag im Konvent bereits als inakzeptabel abgelehnt haben, will man auf eigene Faust vorrücken. Deutsche, Franzosen und die sympathisierenden Belgier verabredeten bereits für April ein Sondertreffen zur neuen Verteidigungsinitiative. Andere Länder würden wohl dazustoßen - für den Luxemburger Juncker"die logische Konsequenz aus der Situation in der EU, die wir jetzt zu beklagen haben".
So vertieft sich die Spaltung Europas weiter. Denn auch das andere Lager sieht sich gestärkt. Die Unterstützung für seinen Kurs durch eine wesentliche Zahl der EU-Mitgliedstaaten sei klarer denn je, erklärte Premierminister Blair am Freitag in Brüssel:"Das hat sich hier erwiesen."
WINFRIED DIDZOLEIT, DIRK KOCH, JAN PUHL, MICHAEL SONTHEIMER
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Sascha
24.03.2003, 03:42
@ Sascha
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Saddams deutsches Netz |
--><font size=5>Saddams deutsches Netz</font>
Der Verfassungsschutz fahndet nach irakischen Agenten.
Die Verbalnote trug den üblichen Zuckerguss aus Diplomatendeutsch, ließ aber an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Vier Iraker aus Saddam Husseins Berliner Botschaft seien in Deutschland"mit sofortiger Wirkung persona non grata beziehungsweise nicht mehr genehm".
Wie eine Parodie wirkt die Schlussformel der offiziell versiegelten Diplomaten-Depesche:"Das Auswärtige Amt benutzt diesen Anlass, die Botschaft der Republik Irak erneut seiner ausgezeichneten Hochachtung zu versichern." Obwohl er"überrascht" gewesen sei, sagt der ranghöchste irakische Diplomat in Deutschland, Muajjad Hussian, habe er mit den Emissären"nicht weiter diskutiert", denn:"Sie waren sehr höflich."
Die erste Bombe war noch nicht gefallen, da waren drei der vier am vergangenen Dienstag ausgewiesenen Botschaftsmitarbeiter bereits in Bagdad; ein Iraker hatte um Aufschub gebeten, weil seine Tochter krank sei.
Bei den Gefolgsleuten Saddam Husseins handelt es sich um den Sicherheitsattaché Ghanim Thabit, den Mitarbeiter der Konsularabteilung Salman Chalaf, Buchhalter Hatim al-Ubeidi und den dritten Sekretär, Reisan al-Saadun. Alle vier Iraker seien, glaubt das Bundesamt für Verfassungsschutz, Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes Directorate of General Intelligence (DGI). Doch nur von Thabit wissen es die Deutschen genau.
Absichtlich haben Fischers Diplomaten mit dem höchst unfreundlichen Akt gewartet, bis die deutsche Botschaft in Bagdad geschlossen war - aus Angst vor Vergeltung. Und im Fischer-Ministerium legt man Wert darauf, dass die Ausweisungen nicht auf die vor drei Wochen von den USA übermittelten Namenslisten vermeintlicher irakischer Geheimdienstler zurückgingen. Sie seien die Folge"eigener Erkenntnisse". Dem Ende vergangener Woche geäußerten amerikanischen Wunsch nach weiteren Ausweisungen wolle Deutschland vorerst nicht nachkommen.
Der als Attaché getarnte Thabit soll Saddams deutsches Geheimdienstnetz koordiniert haben: Bis zu 500 Zuträger hätten emsig Informationen über die rund 65 000 Exil-Iraker in Deutschland gesammelt. Die potenziellen Spitzel erhalten derzeit Hausbesuch und so genannte Gefährderansprachen, mit denen etwa auch vor Fußball- großereignissen Hooligans diszipliniert werden: Die Gespräche, ergänzt durch auffällige"Stoßstangen-Observationen", sollen nicht nur einschüchtern, sie bieten auch Gelegenheit zur Gefahrenanalyse.
Die ersten solcher Gespräche haben die deutschen Nachrichtendienste in den vergangenen Tagen bereits geführt. Dabei hatten sich die Araber überwiegend als harmlos herausgestellt. Ein Student etwa, der häufiger unter dem wandgroßen Teppich mit eingewebtem Saddam-Porträt in der Berliner Botschaft gewartet hatte, hatte tatsächlich nur Papiere für seine akademische Laufbahn in Deutschland ausgefüllt. Nun konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf 20 Iraker aus dem Umkreis der Botschaft, die allesamt als Kontaktleute des Geheimdienstes gelten.
Anders als etwa die Iraner habe Saddam allerdings in den vergangenen Jahren keinerlei staatsterroristische Aktivitäten entfaltet, heißt es beim Verfassungsschutz:"Da lief wenig bis nichts." Und jetzt geht nichts mehr, weil der Spitzelapparat ohne Führung ist. Zur Jahreswende musste der Deutschland-Chef des Geheimdienstes DGI gehen, der Iraker Abd al-Salam Sahir, offiziell als zweiter Sekretär in der Botschaft akkreditiert. Er hatte bei einer Polizeikontrolle sturzbetrunken Vollgas gegeben und dabei fast zwei Schutzpolizisten umgefahren. Nun sei er, klagt Saddams oberster Diplomat Hussian,"ganz allein". Was ihn aber nicht abhalte,"das Beste für mein Land zu tun".
GEORG MASCOLO, HOLGER STARK
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