-->>hier reinstellen? Hört sich sehr interessant an.
>aus Spiegel-Übersicht über Feuilletons
>In der Reihe über die völkerrechtlichen Probleme des Irakkriegs meldet sich heute der italienische Philosoph Giorgio Agamben (mehr hier) zu Wort. Er behauptet, die USA (und irgendwie auch Israel) versuchten, im Zuge des Kampfs gegen den Terror, der Welt einen"Ausnahmezustand" aufzuzwingen, der mit Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933 vergleichbar sei."Was würde geschehen, wenn die größte Militärmacht der Welt in eine Dynamik von dieser Art eintreten und sich, wie es faktisch schon der Fall ist, in einen offen antidemokratischen Staat verwandeln würde, in dem das Recht suspendiert und kontinuierlich und präventiv Krieg geführt würde aufgrund von Erfordernissen der nationalen und internationalen 'Sicherheit', über die niemand zu urteilen in der Lage wäre? Daß der Ausnahmezustand tatsächlich aufgehört hat, sich auf eine wirkliche Situation von Gefahr oder Notstand zu beziehen, und heute als eine Regierungstechnik neben anderen funktioniert, wird durch die Tatsache bewiesen, dass die Vereinigten Staaten sich auch dann auf ihn berufen, wenn die ihre Politik leitenden Motive offensichtlich von anderer Art sind."
Hier der Wortlaut des Artikels:
Der Gewahrsam
Ausnahmezustand als Weltordnung / Von Giorgio Agamben
Im Jahr 1940 schreibt Walter Benjamin in einer seiner Thesen über den Begriff der Geschichte, daß"der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist". Diese Diagnose war sicherlich in einem technischen Sinne zutreffend. Nicht nur wurde der Ausnahmezustand, den Hitler am 28. Februar 1933 in Deutschland ausgerufen hatte, nie aufgehoben, sondern im Notstand des Krieges griffen nahezu alle europäischen Staaten zu Ausnahmemaßnahmen, indem sie die Vollmacht von Militärgerichten auf Zivilpersonen übertrugen und die bürgerlichen Freiheiten erheblich einschränkten. Die Feststellung Benjamins hat allerdings noch eine umfassendere Bedeutung, die ihr den Charakter einer Prophezeiung verleiht, die uns betrifft. Man kann nämlich sagen, daß die willentliche Schaffung eines permanenten Ausnahmezustandes (auch wenn er nicht immer im technischen Sinne erklärt wird) inzwischen eine der geläufigen Praktiken der heutigen Staaten, einschließlich der sogenannten demokratischen, geworden ist. Angesichts der unaufhaltsamen Entwicklung dessen, was man mit einem wirkungsvollen Ausdruck als"Weltbürgerkrieg" bezeichnet hat, stellt sich der Ausnahmezustand immer mehr als das vorherrschende Paradigma des Regierens in der zeitgenössischen Politik dar. Diese Überführung einer provisorischen und ausnahmsweisen Maßnahme in eine normale Regierungstechnik ist unter unseren Augen dabei, den Sinn und das Wesen der demokratischen Verfassungen radikal zu verändern.
Man betrachte die aktuelle Politik der Vereinigten Staaten. Diese zeigt sich als eine offene Übertretung der Regeln des nationalen und internationalen Rechts. Um die Bedeutung und die Wirkung dieses Vorgangs zu begreifen, darf man nicht vergessen, daß diese Überschreitung des Rechts einem Muster folgt, das die gesamte Politik der Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 leitet. In der amerikanischen Verfassung hat der Ausnahmezustand seinen Ort in der dialektischen Auseinandersetzung zwischen den Befugnissen des Präsidenten und der des Kongresses bei einem inneren Notstand oder einem Krieg. Präsident Bush, der durch die Wahl nur eine zweifelhafte Legitimität erhalten hatte und nach dem 11. September ständig von sich selbst als dem"commander in chief of the army" spricht, ist plötzlich als Inhaber der höchsten Autorität im Ausnahmezustand aufgetreten. In dieser Eigenschaft hat er am 13. November 2001 einen"military order" erlassen, der die"indefinite detention" von nichtamerikanischen Bürgern, die des Terrorismus verdächtig sind, und die Verhandlungen von"military commissions" (nicht zu verwechseln mit Militärgerichten, wie sie nach dem Kriegsrecht vorgesehen sind) gegen sie autorisierte.
Das Neue an dieser"militärischen Anordnung" besteht darin, daß sie den Rechtsstatus eines Individuums sowohl mit Rücksicht auf das internationale Recht wie auf die amerikanischen Gesetze radikal suspendiert und ein juristisch nicht benennbares und klassifizierbares Wesen schafft. Die in Afghanistan gefangengenommenen Taliban, aber auch beliebige Nichtbürger, die antiamerikanischer Aktivitäten verdächtigt werden, genießen deswegen weder den Status von Kriegsgefangenen noch auch den, der jedem nach amerikanischem Gesetz bei einem beliebigen Vergehen zusteht.
Weder Gefangene noch Angeklagte, sondern bloß"detainees", unterliegen sie einer bloß faktischen Herrschaft, einem Gewahrsam, der nicht nur in zeitlichem Sinne, sondern seinem Wesen nach unbestimmt ist, da dem Gesetz und der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Der einzig mögliche Vergleich ist der mit der juristischen Lage der Juden in den nationalsozialistischen Lagern, die mit der Staatsbürgerschaft jegliche juristische Identität verloren, aber wenigstens noch die jüdische behalten hatten. Im"detainee" von Guantanamo erlangt das nackte Leben seine größte Unbestimmtheit und der Ausnahmezustand seine äußerste Absolutsetzung. Die Vereinigten Staaten bedienen sich derzeit des Ausnahmezustands nicht nur als eines Instrumentes der Innenpolitik, sondern auch und vor allem, um ihre Außenpolitik zu legitimieren. Man kann in dieser Hinsicht sagen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten dem ganzen Planeten den Status eines permanenten Ausnahmezustandes aufzuzwingen sucht, der als die zwingende Antwort auf eine Art Weltbürgerkrieg zwischen Staat und Terrorismus dargestellt wird.
Der Begriff des Weltbürgerkrieges findet sich im selben Jahr (1961) in Hannah Arendts Buch"On Revolution" und in Carl Schmitts"Theorie des Partisanen". Durch die drastische Reduktion der Weltpolitik auf den Gegensatz"Staat/Terrorismus" wird heute real und effektiv, was bloß ein paradoxer Grenzbegriff zu sein schien. Mittels einer strategischen Verknüpfung der beiden Paradigmen des Ausnahmezustands und des Bürgerkrieges definiert sich die neue amerikanische Weltordnung als eine Lage, in der der Notstand nicht mehr von der Norm unterschieden werden kann und in der sogar die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden - wie auch die zwischen äußerem Krieg und Bürgerkrieg - unmöglich wird. Dieses Modell ist es, das uneingeschränkt zurückgewiesen werden muß. Denn in dieser Perspektive bilden Staat und Terrorismus am Ende ein einziges System mit zwei Gesichtern, in dem jedes der Elemente nicht nur dazu dient, die Handlungen des anderen zu rechtfertigen, sondern jedes sogar vom andern ununterscheidbar wird.
Und dies ist um so beunruhigender, als die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich zeigt, daß keine Demokratie einem zu lange ausgedehnten Ausnahmezustand und einem permanenten Kriegszustand zu widerstehen vermag. Unter dem Gesichtswinkel des öffentlichen Rechts kann man den Aufstieg Hitlers zur Macht nicht verstehen, ohne die Geschichte von Gebrauch und Mißbrauch des Artikels 48 der Weimarer Verfassung einzubeziehen, durch den für den Fall, daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung ernsthaft bedroht wäre, der Reichspräsident ermächtigt wurde, die Verfassung außer Kraft zu setzen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Bekanntlich hörte Deutschland in den drei Jahren, die der Machtergreifung Hitlers vorausgingen, de facto auf, eine parlamentarische Republik zu sein, und Hindenburg übte dann eine echte Präsidialdiktatur aus. Ähnliche Erwägungen lassen sich heute für den Staat Israel anstellen, wo der Zusammenbruch der politischen Institutionen offenkundig ist angesichts eines Ausnahmezustandes, den die Regierung, wie es scheint, um jeden Preis aufrechterhalten möchte.
Was würde geschehen, wenn die größte Militärmacht der Welt in eine Dynamik von dieser Art eintreten und sich, wie es faktisch schon der Fall ist, in einen offen antidemokratischen Staat verwandeln würde, in dem das Recht suspendiert und kontinuierlich und präventiv Krieg geführt würde aufgrund von Erfordernissen der nationalen und internationalen"Sicherheit", über die niemand zu urteilen in der Lage wäre? Daß der Ausnahmezustand tatsächlich aufgehört hat, sich auf eine wirkliche Situation von Gefahr oder Notstand zu beziehen, und heute als eine Regierungstechnik neben anderen funktioniert, wird durch die Tatsache bewiesen, daß die Vereinigten Staaten sich auch dann auf ihn berufen, wenn die ihre Politik leitenden Motive offensichtlich von anderer Art sind.
Einer der uneingestandenen - aber deswegen nicht zweitrangigen - Gründe für den Irak-Krieg ist sicher die Absicht, Europa zu schwächen. Da Europa eine wirtschaftliche Macht geworden war, die die Überlegenheit der Vereinigten Staaten bedrohte, wollten diese beweisen, daß Europa keinerlei politische Existenz besaß. In den Monaten, die dem Krieg vorausgingen, hat die amerikanische Diplomatie offen und systematisch daran gearbeitet, die politische Einheit Europas zu zerstören - und es ist ihr leider gelungen.
Die Verwandlung des Ausnahmezustands in ein normales Regierungshandeln ist im übrigen keine ausschließlich amerikanische Eigenart. In Italien haben seit Ende der siebziger Jahre Ausnahmegesetze, die in Form von Rechtsverordnungen der Regierung erlassen wurden, einschneidende Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten eingeführt. Diese Gesetze, die ursprünglich bestimmt waren, dem Notstand des Terrorismus zu begegnen, sind noch immer in Kraft, so daß jemand, der heute einen Freund oder einen Verwandten bei sich wohnen läßt, ohne die Polizei zu unterrichten, mit Haft bedroht ist. Die jüngst in Frankreich auf Betreiben des Innenministeriums verabschiedeten Gesetze sind eine Verletzung der europäischen Rechtskultur und erinnern, insbesondere was die Festnahme und die Schuldfähigkeit von Minderjährigen betrifft, an ähnlich barbarische Maßnahmen in den Vereinigten Staaten.
Auch die herrschenden Klassen in Europa scheinen keine anderen politischen Paradigmen im Kopf zu haben als Notstand und Sicherheit. Auf allen Gebieten suchen sie nicht so sehr den Notstand zu vermeiden, sondern ihn zu fördern, um ihn dann für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. So jubelte nach den Vorfällen von Genua ein Polizeibeamter treuherzig:"Die Regierung will nicht die Ordnung, sie will die Unordnung verwalten." Ein solches Regierungshandeln läuft allerdings Gefahr, zu einer Entpolitisierung der Gesellschaft zu führen, ähnlich der, die sich seit langem in den Vereinigten Staaten vollzogen hat. Von der amerikanischen Politik Distanz zu nehmen kann für Europa nur heißen, daß es diese Paradigmen aufgibt und wieder einen Raum für das Denken und für das politische Handeln öffnet.
Aus dem Italienischen von Henning Ritter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.04.2003, Nr. 92 / Seite 33
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