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Argentiniens ludditische* Herrscher
von Naomi Klein
ZNet 24.04.2003
1812 überfielen in England ganze Banden von Webern u. Strickern die Textilfabriken. Mit Hämmern zerstörten sie die
industriell produzierenden Maschinen. Die Ludditen* glaubten, die neuen mechanischen Webstühle hätten schon tausende Jobs
gekostet u. die Communities zerstört. Daher gehörten diese Maschinen vernichtet. Die britische Regierung war anderer
Meinung. Sie holte sich 14 000 Soldaten - zur brutalen Niederschlagung der Arbeiterrevolte bzw. zum Schutz der Maschinen.
Zwei Jahrhunderte später in einer Textilfabrik in Buenos Aires - der Brukman-Fabrik, wo man seit 50 Jahren Männeranzüge
produziert. Hier ist die Situation exakt umgekehrt: Antiaufruhr-Polizisten zerstören Nähmaschinen u. gehen auf 58 Arbeiterinnen
los, die ihr Leben riskieren, um ihre Maschinen zu retten. Letzten Montag war die Brukmann-Fabrik Schauplatz der
schlimmsten Repression, die Buenos Aires seit fast einem Jahr gesehen hat. Mitten in der Nacht werfen Polizeieinheiten alle
Arbeiterinnen aus ihrer Fabrik. Der ganze Block wird in eine einzige Militärzone verwandelt, die mittels scharfer Hunde u.
Maschinengewehr verteidigt wird. Die Arbeiterinnen können nicht zurück in ihre Fabrik, um einen Auftrag von über 3000
Hosen zu erledigen. Also bringen sie Massen von Unterstützern auf die Beine u. verkünden: Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.
Am nächsten Tag gegen 17 Uhr nähern sich 50 Näherinnen mittleren Alters mit konservativem Haarschnitt, blauer Schürze u.
robustem Schuhwerk dem Zaun, den die Polizei aufgestellt haben. Jemand schubst, der Zaun kippt, und die
Brukman-Arbeiterinnen - Arm in Arm und unbewaffnet - gehen langsam hindurch. Schon nach wenigen Schritten feuert die
Polizei: Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse - dann scharfe Munition. Selbst die 'Mütter der Plaza de Mayo', mit ihren
weißen Kopftüchern, auf denen die Namen ihrer"verschwundenen" Kinder eingestickt sind, werden angegriffen. Unter den
Demonstranten kommt es zu dutzenden Verletzten.
Eine kurze Momentaufnahme aus Argentinien - weniger als eine Woche vor der Präsidentschaftswahl. Jeder der fünf
Hauptkandidaten verspricht, das krisengeschüttelte Land wieder in Lohn u. Brot zu bringen. Die Brukman-Arbeiterinnen aber
behandelt man, als sei das Nähen eines grauen Anzugs ein Kapitalverbrechen. Woher dieser Staats-Luddismus, diese
Maschinenstürmerei? Brukman ist nicht irgendeine Fabrik. Es ist eine 'fabrica ocupada' - eine von fast 200 Fabriken
Argentiniens, die in den vergangenen 18 Monaten von Arbeitern übernommen wurden und nun durch diese betrieben werden.
Mittlerweile sehen viele in diesen Fabriken (die landesweit schon 10 000 Menschen beschäftigen u. alles produzieren,
angefangen von Traktoren bis hin zur Eiscreme) nicht allein mehr eine ökonomische Alternative, vielmehr auch eine politische.
"Sie haben Angst vor uns. Wir haben gezeigt, wenn man eine Fabrik managen kann, kann man auch ein Land managen", so
Montagnacht Brukman-Arbeiterin Celia Martinez."Deshalb hat die Regierung sich entschlossen, uns niederzumachen". Auf den
ersten Blick ist Brukman eine Kleiderfabrik wie jede andere auf dieser Welt: eine Fabrik voller Frauen, die gebeugt u. mit
angestrengten Augen über ihren Nähmaschinen sitzen u. die flinken Finger über Faden u. Stoff laufen lassen - so sieht es überall
aus, ob nun in einer der hypermodernen mexikanischen 'maquiladoras' oder in einer jener verfallenden Mantelfabriken
Torontos. Der Unterschied besteht in der Geräuschkulisse. Neben dem typischen Lärm der Maschinen u. zischendem Dampf
hört man hier bolivianische Volksmusik - aus einem kleinen Kassettenrecorder, der im hinteren Teil des Raumes steht. Die
Stimmen klingen weich, wenn erfahrene Arbeiterinnen jungen Arbeiterinnen die neuen Stiche erklären."So etwas haben sie uns
früher nie erlaubt", sagt Ms. Martinez."Wir hätten nicht einfach von unserem Arbeitsplatz aufstehen dürfen oder Musik hören.
Aber warum soll man nicht Musik hören? Das hebt die Stimmung doch ein bißchen".
In Buenos Aires wird jede Woche eine neue Besetzung bekannt: ein Vier-Sterne-Hotel, das von seinem Reinigungspersonal
übernommen wird, ein von seinen Angestellten übernommener Supermarkt, oder eine regionale Fluglinie, die von ihren Piloten
u. Flugbegleitern in eine Kooperative umgewandelt wird. Schon werden überall in der Welt in kleinen trotzkistischen Zeitungen
die besetzten argentinischen Fabriken - wo Arbeiter sich die Produktionsmittel aneignen -, leichtfertig als Morgendämmerung
der sozialistischen Utopie bejubelt. Die großen Business-Magazine indes - 'The Economist' zum Beispiel - sprechen ominös von
einer Bedrohung des geheiligten Prinzips 'Privateigentum'. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Nehmen wir zum Beispiel
Brukman. Hier hat man sich keineswegs der Produktionsmittel bemächtigt. Vielmehr hat man diese einfach übernommen,
nachdem die legalen Besitzer sie im Stich ließen. Seit Jahren war es mit der Fabrik bergab gegangen. Die Schulden bei den
Stadtwerken hatten sich angehäuft. Die Näherinnen mussten mitansehen, wie ihr Wochenlohn von 100 Pesos auf lächerliche 2
Pesos schrumpfte (was nicht mal mehr für den Bus reichte). Am 18. Dezember (2001) hatten die Arbeiter beschlossen, eine
Fahrkostenerstattung zu verlangen. Aber die Besitzer sagten, sie hätten kein Geld, seien arm. Dann sagten sie, die Arbeiter
sollten vor der Fabrik warten, man werde das Geld beschaffen."Wir warteten, bis es nacht wurde", so Ms. Martinez,"aber
niemand kam". Schließlich holten sich Ms. Martinez u. die andern beim Pförtner den Schlüssel u. übernachteten in der Fabrik.
Seither leiten sie die Fabrik. Die offenen Rechnungen wurden beglichen, man hat neue Kunden geworben u. kann sich
mittlerweile regulären Lohn bezahlen - schließlich leistet man sich keine kostspielige Geschäftsführung mehr u. braucht sich auch
keine allzugroßen Sorgen über die Profite zu machen. Alle Entscheidungen wurden in offener Versammlung mittels Abstimmung
getroffen."Ich weiß nicht, weshalb die früheren Besitzer sich so schwer getan haben", so Ms. Martinez."Ich verstehe zwar
nicht viel von Buchführung, aber es ist doch ganz einfach: addieren und subtrahieren".
Inzwischen ist Brukman in Argentinien zum Symbol für eine neue Art von Arbeiterbewegung geworden. Deren Stärke beruht
nicht auf der Macht zur Arbeitsverweigerung (traditionelle Gewerkschaftstaktik) vielmehr auf dem Prinzip des Weiterarbeitens
auf Teufel komm raus. Hier geht's nicht um Dogmatismus sondern um reinen Realismus. In einem Land, in dem 58 Prozent der
Bevölkerung arm sind, ist den Arbeitern klar - wenn ein Monatslohn ausfällt, muss man betteln geh'n oder Müll sammeln, um
nicht zu verhungern. Das Gespenst, das in Argentiniens besetzten Fabriken umgeht, ist nicht das des Kommunismus, vielmehr
das der Armut. Aber ist es nicht trotzdem Diebstahl? Ich meine, schließlich haben nicht die Arbeiter sondern die Fabrikbesitzer
die Maschinen gekauft. Folglich haben die Besitzer auch das Recht, über die Maschinen zu verfügen - sie zu verkaufen oder ins
Ausland zu transferieren. Wie hat es der (argentinische) Bundesrichter in seinem Räumungsbefehl für Brukman doch
ausgedrückt:"Leben und körperliche Unversehrtheit haben keine Priorität gegenüber ökonomischen Interessen".
Wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein, hat dieser Richter die nackte Logik der deregulierten Globalisierung auf einen
Nenner gebracht: Das Kapital muss immer die Freiheit haben, sich die miesesten Löhne u. die besten Bedingungen auszusuchen
- ganz gleich, was das für die Menschen bedeutet. Die Arbeiter in den besetzten Fabriken Argentiniens sehen das ganz anders.
Ihre Anwälte argumentieren, die früheren Fabrikbesitzer hätten gegen fundamentale Marktprinzipien verstoßen, indem sie
weder ihre Arbeiter noch ihre Gläubiger bezahlten - und nebenbei auch noch fette Staatssubventionen kassierten. Folglich wäre
es eigentlich Aufgabe des Staats, darauf zu beharren, dass, was von den verschuldeten Fabriken noch übrig ist, der
Ã-ffentlichkeit zugute kommt u. dauerhafte Jobs produziert. Dutzenden Arbeiter-Kooperativen (in Argentinien) ist es bereits
gelungen, ihre Fabriken gerichtlich enteignen zu lassen. Bei Brukman ist der Kampf noch nicht entschieden.
Eigentlich, wenn man darüber nachdenkt, argumentierten die Ludditen im Jahr 1812 ganz ähnlich. Die neuen Textilfabriken
hatten damals wenigen Leuten hohe Profite eingebracht u. der Allgemeinheit geschadet. Die damaligen Textilarbeiter kämpften
gegen diese destruktive Logik, indem sie die Maschinen zerstörten. Der Plan der Brukman-Arbeiterinnen allerdings ist besser:
Sie schützen die Maschinen u. zerstören die Logik.
Naomi Klein ist Autorin von 'No logo' u. 'Fences and Windows' (deutscher Titel: 'Über Zäune und Mauern. Berichte von der
Globalisierungsfront')
Anmerkung d. Übersetzerin
*Ned Ludd war Anführer der sogenannten 'Maschinenstürmer' (Luddisten), die sich im England des frühen 19. Jahrhunderts
gegen die Anfänge der 'Industriellen Revolution' wehrten
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