-->Peter Scholl-Latour schreibt dazu in"Lügen im heiligen Land":
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...Etwa eineinhalb Stunden habe ich mich bei diesem Treffen mit Tariq Aziz über Gott und die Welt
- im Orient kann die Religion ja nie ausgeklammert werden - zwanglos unterhalten. Der Vize-Premier
spricht ein vorzügliches Englisch. Natürlich habe ich versucht, Licht in jene oft kolportierte
Verschwörungstheorie zu bringen, der zufolge Saddam Hussein dem amerikanischen Präsidenten Bush in
die Falle gegangen sei. Das hartnäckige Gerücht, das sich in hohen Regierungskreisen Bagdads zur
Gewißheit verdichtet, besagt, die amerikanische Botschafterin April Glaspie, eine studierte Arabistin, habe
vor der Besetzung Kuweits durch die irakischen Streitkräfte am 2. August 1990 ein ausführliches Gespräch
mit dem Staatschef geführt. Wie denn Amerika auf eine solche Militäroperation reagieren würde, habe der
»Rais« gefragt, und die Antwort Glaspies, die eine solche Erklärung ja nicht ohne Instruktionen aus dem
Weißen Haus und dem State Department hätte abgeben können, sei eindeutig gewesen: Die Beziehungen
zwischen Irak und Kuweit seien eine innerarabische Angelegenheit, und die USA würden sich - bei allen
Vorbehalten gegen jede Expansionspolitik - aus diesem Konflikt herauszuhalten suchen.
George Bush, so heißt es weiter, habe zu jenem Zeitpunkt längst die Entscheidung gefällt, die
bedenklich anwachsende Regional-Hegemonie des Diktators von Bagdad, des »neuen Nebukadnezar«,
mit allen Mitteln zu brechen. Das reichhaltige Arsenal der Iraker an chemischen und bakteriologischen
Waffen, ihre Fortschritte bei der Entwicklung immer weiter tragender Raketen waren dem amerikanischen
Nachrichtendienst seit dem achtjährigen Krieg Saddams gegen die Islamische Republik Khomeinis
bestens bekannt. Nun kam die Befürchtung hinzu, der größenwahnsinnige Mesopotamier könne in den
kommenden zwei Jahren auch eigene Atomsprengköpfe fabrizieren.
Es war von zusätzlichen Geheimwaffen die Rede, und der Roman Frederick Forsyths »Die Faust Gottes«
ist vielleicht gar nicht so sehr aus der Luft gegriffen, wie manchem Leser erscheinen mag. Wenn der Rais
von Bagdad über ein halbes Dutzend Nuklearbomben, also über ein ausreichendes
Abschreckungspotential verfügt hätte, so spekulierte man im Pentagon, hätte er fast nach Belieben, ohne
vor einer exemplarischen Bestrafung bangen zu müssen, über das wehrlose Scheikhtum Kuweit, eventuell
sogar über die nahe gelegenen Erdöl-Förderungsgebiete Saudi-Arabiens am Persischen Golf mit weit
überlegenen Panzerkräften herfallen können.
Dem galt es - so lautet die Mär vom amerikanischen Komplott, das so gut in die orientalische
Vorstellungswelt vom »Mu'amara« hineinpaßt - mit List und Irreführung vorzubeugen. Saddam Hussein,
dessen mangelnde Kenntnis der internationalen Zusammenhänge notorisch ist - wo hätte er sie auch
erwerben können? -, sollte veranlaßt werden, nach dem kuweitischen Köder zu schnappen und somit
George Bush die Rechtfertigung zu verschaffen, ihn als ruchlosen Eroberer und Aggressor zu
brandmarken, den Irak vor das Tribunal der Vereinten Nationen zu zerren und einen Vernichtungsfeldzug
gegen dieses neue »Frankenstein-Monster« am Tigris, an dessen Hochrüstung Amerika während des
achtjährigen Krieges gegen die Mullahs von Teheran aktiv mitgewirkt hatte, in die Wege zu leiten.
Tariq Aziz ist meiner Frage ausgewichen. Das Eingeständnis, daß der mit allen Gaben
menschlicher Weisheit ausgestattete Präsident einer amerikanischen Diplomatin so plump auf den Leim
gehen könnte, wäre für dieses hochbejubelte Idol der irakischen Massen nicht gerade schmeichelhaft
gewesen. Zu einem klaren Dementi ist es dennoch nicht gekommen. Der agile Chaldäer mit dem weißen
Haar, den dichten schwarzen Augenbrauen und der dickgerandeten Brille hat in langen Jahren als
»Foreign Minister« des Irak all jene persönlichen Erfahrungen mit der Außenwelt sammeln können, die
seinem Chef fehlen. Er glaubt die Absichten des damaligen US-Präsidenten ergründen zu können. »Sie
müssen eines wissen«, hebt er an, »George Bush was a political animal.« Bush habe einen
bemerkenswerten, raubtierähnlichen Instinkt für die total veränderte Weltsituation nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion besessen. Der US-Präsident hatte das machtpolitische Vakuum klar
erkannt, das durch die Schwächung Moskaus entstanden war. Von einem Tag zum anderen befand sich
die Republik Irak ohne ihren traditionellen russischen Gönner völlig isoliert der Willkür der USA und der
von ihnen gegängelten Vereinten Nationen ausgeliefert. Die Kuweiti hatten - von Washington ermutigt -vor
dem schicksalhaften 2. August 1990 den irakischen Nachbarn pausenlos provoziert. Da forderte das
Scheikhtum der Dynastie El Sabah die eigenen Erdölexporte weit über die OPEC-Normen hinaus, so daß
die Preise sanken und der Irak das Nachsehen hatte. Da wagten die Kuweiti es sogar, Bohrungen und
Anzapfungen in jenen strittigen Grenzregionen vorzunehmen, auf die Bagdad seit langem Anspruch
erhob. Saddam Hussein war sich bewußt, daß er sein gesamtes Volk - inklusive der meisten Opponenten -hinter
sich hätte, wenn er das Scheikhtum Kuweit, diese Erfindung des britischen Imperialismus, zur
neunzehnten Provinz des Irak erklären würde.
Gorbatschow hatte den Amerikanern im Sommer 1990 freie Hand in der gesamten Golfregion
gewährt. Mehr als einmal wurde mir in Bagdader Gesprächsrunden versichert, der Vater der
»Perestroika«, der das Schicksal Erich Honeckers besiegelte, wäre auch bereit gewesen, die Rolle des
Totengräbers von Saddam Hussein zu übernehmen.
Die Chinesen wiederum, die im Weltsicherheitsrat ein Veto gegen den amerikanischen Feldzug
»WÜstensturm« hätten einlegen können, seien zu jenem Zeitpunkt noch durch die Folgen des Tian-An-men-
Dramas belastet und der damit verbundenen internationalen Ächtung ausgesetzt gewesen. Peking
taktierte vorsichtig in dieser undurchsichtigen Situation.
Um noch einmal auf April Glaspie zurückzukommen: Ein enger Vertrauter Saddam Husseins,
dessen Namen ich hier nicht nennen will, hat mir förmlich beteuert, daß die US-Botschafterin in Bagdad
das erwähnte Doppelspiel mit großem schauspielerischem Talent getrieben habe. Anschließend wurde sie
allerdings aller diplomatischen Aufgaben entbunden und aus dem Verkehr gezogen. Um ganz sicher zu
sein, daß sie keine nachträglichen Enthüllungen veröffentlichen könne, sei sie danach von Agenten der
CIA ermordet worden. Letzte Behauptung ist wohl aus freien Stücken erfunden. Nach Informationen, die
ich einholte, unterrichtet die ehemalige Diplomatin heute an einer amerikanischen Provinz-Universität. Zu
den Mutmaßungen, die sich um ihre Person und ihre Rolle ranken, hat sie sich seltsamerweise nie
geäußert.
»George Bush hatte seine Stunde erkannte, fährt Tariq Aziz fort.
»Der Weg war im Sommer 1990 frei für das >great design< der USA im Nahen und Mittleren Osten. Der
Iran war durch den extrem verlustreichen Krieg, den er gegen uns geführt hatte, ausgelaugt und
geschwächt. Es galt also nur noch, den Irak als Machtfaktor auszuschalten, und dann würden die
Amerikaner im Rahmen der feierlich angekündigten >Neuen Friedensordnung< die totale Kontrolle über
die ungeheuerlichen Petroleum-Reserven dieser gesamten Weltzone ausüben. Die USA wären dann
tatsächlich, wie es Präsident Clinton später formulieren sollte, zum >indispensable state - zum
unentbehrlichen Staat< geworden für ihre Gegner und für ihre Partner.« Nach der Unterwerfung des Irak
würde Washington - so spekulierte man - auch endlich in der Lage sein, den Frieden zwischen Zionisten
und Arabern zu erzwingen, auf Kosten der Palästinenser natürlich. Die israelischen Streitkräfte wiederum -
deren Schlagkraft niemand in Bagdad unterschätzt - böten sich als verläßliches Werkzeug der Pax
Americana an.
Wir behandeln nicht länger das Thema der verpaßten Kompromiß-Chancen in dem Zeitraum
zwischen dem irakischen Truppeneinmarsch in Kuweit - zu Kämpfen ist es dabei ja nicht gekommen -und
der Auslösung des amerikanisch gesteuerten Luftkrieges der UN-Koalition gegen Bagdad am 17.
Januar 1991. In dieser Phase hatte Saddam Hussein in fataler Selbstüberschätzung wie ein Dilettant
taktiert.
Sein Stellvertreter Tariq Aziz schildert mir das letzte Gespräch, das er am 9. Januar in Genf mit James
Baker, dem US Secretary of State, geführt hatte. Baker, der Mann mit dem Poker-Face, muß wie ein
unerbittlicher römischer Pro-Consul aufgetreten sein. »We are going to bomb you back into the
preindustrial age - wir werden euch in das vorindustrielle Zeitalter zurückbomben«, hatte er Tariq Aziz
bedrängt.
»Wir werden das jetzige Regime von Bagdad zu Fall bringen.« Die Äußerung erinnert mich an einen
ähnlich lautenden Kraftspruch des einstigen Stabschefs der US Air-Force, Curtis LeMay, mit dem er zu
Beginn des Vietnam-Krieges die Gefolgschaft Ho-Tschi-Minhs einzuschüchtern suchte: »We are going to
bomb them back into the stone age - wir werden sie in die Steinzeit zurückbomben.«
Tatsächlich wurden nach Ausbruch der Kampfhandlungen zwischen dem 17. Januar und dem 18.
Februar 106 000 alliierte Luftangriffe gegen den Irak geflogen. Den Soldaten Saddam Husseins hingegen
gelang es lediglich, 68 Scud-B-Raketen mit sehr mäßigem Erfolg gegen Saudi-Arabien und gegen Israel
abzufeuern. Der Judenstaat hat - in kluger Abwägung der Vor- und Nachteile - auf eigene
Vergeltungsmaßnahmen verzichtet. Diese Zurückhaltung galt jedoch nur, solange Bagdad sich auf die
Verwendung konventioneller Sprengköpfe beschränkte. Wäre Tel Aviv von den Iraki mit Giftgas
beschossen worden, dann hätten sich unerträgliche Assoziationen mit den Gaskammern von Auschwitz
aufgedrängt und die »Israel Defense Forces« wären ohne Zweifel zum vernichtenden Atomschlag gegen
Bagdad übergegangen.
Seit dem zweiten Golfkrieg können zwei Feststellungen getroffen werden: Zunächst sind die USA
- heute unter Führung Bill Clintons - eisern entschlossen, ein weltumspannendes Energie-Monopol an sich
zu reißen. »We are in the Persian Gulf to stay«, so lautete schon die Carter-Doktrin. Im Zusammenhang
mit den amerikanischen Erdöl- und Erdgas-Prospektionen rund um das Kaspische Meer und in Zen-Erdgas-
Prospektionen rund um das Kaspische Meer und in Zentralasien hatte ich vor vier Jahren bereits
festgestellt: So wie zu Zeiten der Größe des Victorianischen Empire die Engländer einen Finger in das
Wasser des Ozeans zu tauchen pflegten mit der Bemerkung: »Tastes salty, must be British - schmeckt
salzig, muß deshalb britisch sein«, - so heißt es heute auf den Petroleumfeldern zwischen Algerien und
Hindukusch: »Smells oily, must be American - es riecht nach Ã-l, muß also amerikanisch sein«. Eine
andere Behauptung steht auf schwächeren Füßen, wird aber in amerikanischen Diplomaten-Kreisen, ja in
der Umgebung des Weißen Hauses immer wieder hinter vorgehaltener Hand geäußert: »Die Nahost-Politik
Washingtons wird in Jerusalem gestaltete, oder - in krasserer Form - »der israelische Schwanz
wedelt mit dem amerikanischen Hund«. Ich werde mich auch hier hüten, prominente Namen zu zitieren.
Eine offizielle Erklärung des US-Außenministeriums lautet: »Die Vereinigten Staaten fahren fort, der
Schaffung eines gerechten, dauerhaften und verständnisvollen Friedens zwischen Arabern und Israeli
vordringliche Bedeutung einzuräumen, und zielen darauf hin, jene Staaten zu isolieren, die sich diesem
Frieden entgegenstellen.«
Tariq Aziz spricht mich in seinem geräumigen Ministerbüro am Tigris auf den »Wirtschaftskrieg«
an, der sich zwischen USA und Europäischer Union anbahnt. Das Ende der Ost-West-Konfrontation habe
die Voraussetzungen geschaffen für eine systematische Einschüchterung und ökonomische
Benachteiligung der europäischen Verbündeten durch die transatlantische Führungsmacht.
Hemdsärmelige Congressmen und rüde Konzern-Bosse gäben dabei den Ton an.
Vor allem die Passivität, die Unterwürfigkeit der Deutschen, ihre bedenkenlose Ausrichtung auf die
amerikanische Embargo-Politik gegen Irak erregten bei Tariq Aziz, aber auch bei so vielen anderen
Irakern, mit denen ich sprach - vom Minister bis zum Bazari -, Irritation und schmerzliche Enttäuschung.
Mit einer Rachsucht sondergleichen haben die Vereinten Nationen unter dem Druck Washingtons seit
sieben Jahren einen unerbittlichen Boykott über Irak verhängt, der mit der ursprünglich proklamierten
Absicht einer rigorosen Rüstungskontrolle nur noch wenig zu tun hat. Dieses »Super-Versailles« wächst
sich allmählich zum völkerrechtlichen Skandal aus.
In einem Punkt hat Tariq Aziz zweifellos recht. Der deutschen Diplomatie ist der Schneid
abgekauft worden. Die Engländer bewegen sich zwar im Kielwasser ihrer amerikanischen »Vettern«, aber
sie haben auch ihren Vorteil davon. Die mediterranen Länder Europas sind nicht von dem deutschen
Ehrgeiz geplagt, im Orient als Trabanten der USA aufzutreten. Frankreich hat keinen Ambassadeur
entsandt, steht jedoch mit einer qualifizierten Mannschaft in Bagdad bereit, um das Ende des Embargos
sofort industriell und kommerziell zu nutzen.
Ähnlich, wenn auch bescheidener, verhalten sich Italiener, Spanier und Griechen. Die Bundesrepublik hat
zwar ihre Beziehungen zum Irak nicht abgebrochen, ist aber auf beschämende Weise abwesend.
Der vorzügliche junge Legationssekretär Rüdiger Bohn, der von Jordanien aus mit der Beobachtung der
Vorgänge am Tigris beauftragt ist und fließend arabisch spricht, ist als Gesprächspartner für die irakischen
Behörden nicht ausreichend qualifiziert. Die USA hingegen haben mit Saddam Hussein offiziell
gebrochen und lassen Polen als Schutzmacht agieren. Aber es geht das Gerücht in Bagdad, daß ein paar
US-Bürger polnischer Abstammung - mit Warschauer Diplomatenpässen versehen - über alle Vorgänge
mit Argusaugen wachen, Ähnlich taktiert das Department of State ja auch in Libyen und Iran.
»Wir erkennen die Golf-Region als lebenswichtig für die amerikanischen Interessen an«, hatte
Madeleine Albright, die heutige Außenministerin der USA, in ihrer ungeschminkten Sheriff-Sprache
gesagt, als sie noch Botschafterin bei den Vereinten Nationen war; »wir werden dort mit anderen
multilateral handeln, wenn das geht, und wenn nicht, dann handeln wir eben unilateral.« In dem Sinne hat
wohl auch der amerikanische Congress im Jahr 1996 dem Vorschlag des republikanischen Senators
Alfonse D'Amato zugestimmt, als dieser - unter Mißachtung aller internationalen Spielregeln - sämtliche
ausländischen Unternehmen auf eine schwarze Sanktionsliste der USA setzen ließ, die in Iran oder Libyen
mehr als 20 Millionen US-Dollar pro Jahr zur Erschließung von Energiequellen investieren würden. Den
Irakern fällt es heute leicht, auf das burschikose Procedere Washingtons gegenüber seinen NATO-Alliierten
zu verweisen. Die französische Erdöl-Gesellschaft Total wurde in ihrer Tätigkeit am Persischen
Golf behindert und bedroht, ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Die Deutschen hingegen zogen sich
willfährig aus dem Iran-Geschäft zurück, brachen den »kritischen Dialog« mit Teheran im Gefolge der
Mykonos-Affäre ab. Ein dubioser Kronzeuge, der iranische Doppelagent Mesbahi, Mr. C. genannt, hatte -möglicherweise
unter Anleitung der CIA - ein naives Berliner Gericht, das auf Medienbeifall bedacht war,
verleitet, die gesamte iranische Staatsführung in seinen Urteilsspruch einzubinden. Die Bundesrepublik
sah sich schnöde hintergangen, als die Clinton-Administration das saftigste Geschäft mit der
vielgeschmähten Mullahkratie, mit diesem schiitischen »Empire of evil«, einer britisch-kanadischen
Company zuspielte in der Gewißheit, daß am Ende die großen US-Konzerne davon profitieren würden. Es
handelt sich um den Bau einer Erdgasleitung aus Turkmenistan in Richtung Türkei, die allen tugendhaften
Beteuerungen zum Trotz über iranisches Territorium führen wird.
Die Elite der amerikanischen Präsidenten-Berater - Alexander Haig, Zbigniew Brzezinski, Brent
Scowcroft, Arthur M. Schlesinger, sogar James Baker und Henry Kissinger - tummeln sich unterdessen in
den GUS-Republiken des Kaukasus und Zentralasiens. Aus dem offiziellen Dienst ausgeschieden, aber als
einflußreiche Lobbyisten hoch geschätzt, sind sie bemüht, den Energie-Giganten aus den USA eine
exklusive Plattform zu verschaffen. Nicht nur die deutsche Außenpolitik, sondern auch die deutsche
Wirtschaft läßt sich in eine zweitklassige Position abschieben, zumal die Bundesrepublik es versäumt, ja
hartnäckig von sich gewiesen hat, die Gründung und Entwicklung einer halbwegs ernstzunehmenden
Erdöl-Förderungs- und Vermarktungsgesellschaft, notfalls auch mit staatlicher Förderung, anzupacken.
Da sind die Briten, die Holländer, die Norweger und Franzosen ihren Bonner Partnern weit voraus.
Der vorläufige Höhepunkt dieses ökonomischen Schelmenspiels war erreicht, als die Vereinten
Nationen mit Zustimmung Washingtons dem Irak endlich erlaubten, zur Deckung seiner dringendsten
Bedürfnisse an Lebensmitteln und Medikamenten einen ersten Posten Petroleum im Gegenwert von 2
Milliarden US-Dollar - im Rahmen der Operation »Oil for food« - zu exportieren. Natürlich war Saddam
Hussein nicht daran gelegen, seinen amerikanischen Peinigern den Gewinn am Transport dieses
Ã-lkontingents zuzuschlagen. Er wies seine zuständigen Ministerien an, sich an Rußland und Frankreich zu
wenden, damit deren Petroleum-Tanker einen Teil der Lieferung im Hafen Unim-el-Qasr in Empfang
nähmen. Aus Moskau kam die Antwort, man benötige für die Entsendung eines Schiffes mit
ausreichender Kapazität die Frist von vier Wochen, und die Franzosen konnten nicht vor zwei Wochen in
Umm-el-Qasr anlegen. So fiel der Deal denn doch einer US-Schiffahrtslinie zu, die binnen 48 Stunden
präsent war. Kein Wunder - der Termin dieser partiellen Embargo-Lockerung war von Washington lange
vor der öffentlichen Ausschreibung streng vertraulich fixiert worden. Völlig unerträglich erscheint der
»D'Amato-Act« angesichts des blühenden Exporthandels der USA mit den Golf-Emiraten. Dorthin
werden immer wieder elektronisches Gerät und andere Produkte geliefert, die sich für »dual use«, also für
zivile und militärische Nutzung, eignen. Jedes Kind in Dubai und Abu Dhabi weiß, daß die hochsensiblen
Güter nach Passieren dieser Zwischenstation an die gegenüberliegende persische Küste weiterverschifft
werden.
Tariq Aziz bedauert ebenfalls, daß eine recht bescheidene Bonner Parlamentarier-Delegation, aus
zwei Abgeordneten bestehend, in letzter Minute zurückgepfiffen wurde. Andere Staaten würden nicht von
ähnlichen Skrupeln geplagt. Deutschland würde vollends als Betrogener auf der mittelöstlichen Szene
dastehen, wenn die USA von einem Tag zum anderen und ohne Vorwarnung an die NATO-Alliierten ihre
Meinung zum Irak-Embargo radikal revidieren sollten. Schon haben fünf große amerikanische Ã-lfirmen
erste Abschlüsse im engen Rahmen von »Ã-l für Nahrung« getätigt. Sie stehen in den Startlöchern für den
Zeitpunkt, an dem die Befürchtung, eine ungehemmte irakische Ausfuhr »Schwarzen Goldes« könne die
OPEC-Preise drastisch nach unten drücken, sich auf Capitol Hill verflüchtigt.
Der Stellvertreter Saddam Husseins äußert sich vorsichtig über die verbesserten Beziehungen
Bagdads zu Syrien. Die beiden Länder - von verfeindeten Flügeln der gleichen »Baath-Partei« regiert - tun
sich schwer mit ihrer Annäherung. Immerhin ist der Grenzverkehr wiederhergestellt. Die Pipeline, die von
den nordirakischen Erdölfeldern bei Kirkuk zum syrischen Hafen Tartus führt und seit Ausbruch des
ersten Golfkriegs im Jahre 1980 stilliegt, wird instand gesetzt.
Heftiger Tadel richtet sich gegen die Türkei, und zweifellos begünstigt die militärische Kooperation
zwischen Ankara und Jerusalem das Entstehen einer Achse Damaskus-Bagdad. Tariq Aziz findet harte
Worte für die Kenialisten, diese »falschen Europäer«. Was sei denn das für eine Regierung in Ankara, in
der zwei verfeindete Fraktionen Demokratie vortäuschten, während doch die Armee die wahren
Entscheidungen fälle. Vorher sei es dort nicht besser zugegangen, als ein »Hodscha« - gemeint war
Neçmettin Erbakan von der islamistischen Refah-Partei - mit einer laizistischen »Emanze«, hier handelt es
sich um Tansu Çiller, eine widernatürliche Koalition einging. Die Türkei stehe wieder im Begriff, der
»kranke Mann am Bosporus« zu werden wie in der Osmanischen Endzeit. Die Kurdenfrage, so hatte mir
schon der stellvertretende Außenminister, Riad-el-Qaissy, versichert, könne Ankara bestimmt nicht lösen,
indem man dieses indoeuropäische Volk kurzerhand als »Berg-Türken« bezeichne und seine Identität
negiere. Ähnlich borniert verhalte sich der türkische Generalstab gegenüber der koranischen Religion,
gegenüber der tief verwurzelten islamischen Volksfrömmigkeit, die seit dem Sturz Erbakans immer neuen
Schikanen ausgesetzt sei.
Bagdad empfindet die häufigen Grenzüberschreitungen der türkischen Armee bei der
Bekämpfung der kurdischen Aufstandsbewegung PKK als wachsende Bedrohung. Man erinnert sich am
Tigris an jene Phase des frühen Kemalismus, als Atatürk noch versuchte, die Erdöl-Region von Mossul
und Kirkuk seiner neugegründeten Republik einzuverleiben, und nur am Widerspruch der Briten
scheiterte. Nach Aussage Tariq Aziz' ist im kurdischen Grenzgebiet eine neue bedrohliche Situation
entstanden, seit israelische Antiterror-Spezialisten dem türkischen Geheimdienst zur Seite stehen, um die
Partisanen des PKK-Führers Ã-calan aufzuspüren. Da zeichne sich eine Komplizenschaft ab, die nichts
Gutes verheiße. Dennoch ist der Judenstaat - zumindest offiziell - kein großes Thema mehr für Bagdad.
»Die Palästinenser«, so betont Tariq Aziz, »sind natürlich unsere arabischen Brüder, und wir haben viel
Sympathie für Yassir Arafat. Aber der Irak hat nun einmal keine gemeinsame Grenze mit den Zionisten.
Sollten die Palästinenser mit den Israeli zu einer für sie befriedigenden Regelung kommen, wird der Irak
sich dem nicht in den Weg stellen.« Von terroristischen Aktivitäten habe Bagdad sich stets distanziert.
Tatsächlich hat sich in dieser Hinsicht seit meinem Aufenthalt im Sommer 1982 manches verändert.
Damals verfügte der pathologische Killer Abu Nidal noch über eine Operationszentrale in Bagdad, und
mir wurde die Wohnung gezeigt, in der die deutsche RAF-Aktivistin Brigitte Mohnhaupt Unterschlupf
gefunden hätte.
Der Frage nach dem Erstarken der koranischen Religiosität im Irak weicht Tariq Aziz aus. Der
Vize-Außenminister Riad-el-Qaissy hatte sich zu diesem Punkt freimütiger geäußert. Als surmitischen
Moslem konnte es ihn nicht stören, daß Saddam Hussein auf dem Höhepunkt des Golfkrieges - in Abkehr
von der säkularen Staatsdoktrin der »Baath« - den islamischen Kampfruf »Allahu akbar« in das Mittelfeld
der irakischen Fahne einfügen ließ. Riad-el-Qaissy betrachtet die islamische Rückbesinnung, die überall zu
spüren ist, als etwas Natürliches in Tagen der Not und Bedrängnis. »Der sogenannte Fundamentalismus,
die >Usuliya<, ist nicht immer mit Fanatismus und Extremismus gleichzusetzen«, betonte der erfahrene
Diplomat, der sehr britisch auftritt und seinen Oxford-Akzent pflegt. »Der arabische Nationalismus und
die islamische Wiedergeburt lassen sich ohne Schwierigkeiten vereinbaren. Wir werden uns vor der
Bewußtseinsspaltung hüten, die heute die Türkei heimsucht. Die kemalistischen Politiker von Ankara
haben sich offenbar damit abgefunden, die letzten in Europa zu sein, nachdem ihre osmanischen
Vorfahren die ersten im >Dar-ul-Islam< waren.« Mit Israel, so meinte er, erscheine jede Normalisierung
ziemlich aussichtslos. Die Juden würden nun einmal unter dem Trauma der Babylonischen
Gefangenschaft leben, und aus dieser psychischen Belastung könnten sie sich nicht lösen.
Ich habe weder von Tariq Aziz noch von Riad-el-Qaissy die geringste Bestätigung über diskrete
israelische Sondierungen in Bagdad erhalten. Aber das Gerücht geht um, eine als »Friedensbewegung«
getarnte zionistische Kontaktgruppe habe zu erfahren gesucht, zu welchen Zugeständnissen Saddam
Hussein sich aufraffen könne, wenn Israel sich mit Nachdruck für eine Beendigung des UNO-Embargos
und die Wiederaufnahme des Irak in die »Völkergemeinschaft« einsetzen würde. Die Juden, so munkelt
man am Tigris, hätten sogar angefragt, ob der Irak - im Falle einer positiven Kehrtwendung Jerusalems -sich
bereit fände, zwei Millionen ausgesiedelter Palästinenser aus dem Gaza-Streifen und vor allem aus
Judäa und Samaria in den fruchtbaren Weiten Mesopotamiens das Niederlassungsrecht als Neubürger zu
gewähren. Ein solcher Plan entbehrt wohl jeder Glaubwürdigkeit.
Aber es klingt zutiefst verstörend, daß überhaupt die Vermutung aufkommen kann, die jüdischen Opfer
der babylonischen Verbannung - die Nachfahren der Propheten Daniel und Ezra - könnten nun ihrerseits
erwägen, die Kanaaniter und Philister, die heute im Heiligen Land leben, an die Ufer von Euphrat und
Tigris zu verpflanzen. Indirekt ist Saddam Hussein solchen Spekulationen entgegengetreten. In einer
Anwandlung panarabischer Solidarität, die gar nicht in diese Zeit paßt, hat er allen Arabern zwischen
Maghreb und Golf das Angebot gemacht, die irakische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Nur den
Palästinensern wird diese Gunst verweigert.
Mutter der Schlachten -Mutter der Lügen
Bagdad, im August 1997
Wer in Bagdad nach Spuren des Golfkrieges und des sechswöchigen amerikanischen Bombardements
sucht, kommt nicht auf seine Kosten. Die US Air-Force hatte es nicht darauf angelegt, die irakische
Hauptstadt in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Ich wußte es zu schätzen, daß die
Informationsbehörden mich nicht drängten, zu der nationalen Trauerstätte von El Amiriya zu wallfahrten,
wo am 13. Februar 1991 ein amerikanisches Präzisions-Missile Hunderte von Zivilisten in einem angeblich
zerstörungssicheren Bunker getötet hatte.
War dort tatsächlich eine Kommando-Zentrale der irakischen Streitkräfte oder gar ein Hauptquartier
Saddam Husseins untergebracht, wie das Pentagon hartnäckig behauptet, oder hat der
Bundesnachrichtendienst mit seiner kühnen These recht, es sei der amerikanischen Luftwaffe bei diesem
Massaker darum gegangen, dem Diktator vor Augen zu führen, daß keine noch so dicke Betonmauer ihn
schützen könne? Die Frage bleibt offen. »Allahu wahduhu ya'rif - Allah allein weiß es«, sagen die Iraker
dazu.
Unbestritten ist die Zerstörung von zwei großen Krankenhäusern, darunter die größte
Entbindungsanstalt Mesopotamiens, durch alliierte Bomben. Hier handelte es sich jedoch nicht um einen
gezielten Akt von Mordlust, sondern um mangelnde Zielgenauigkeit. Die US-Flieger hatten das nahe
gelegene Gefängnis, eine berüchtigte Folteranstalt des Mukhabara, treffen wollen. Nachträglich hat das
»General Accounting Office« des amerikanischen Congress errechnet, daß Air-Force und Navy, darunter
auch die legendären Stealth-Maschinen, mit recht mäßigem Erfolg operiert, daß die viel gerühmten
Wunderwaffen und Smart-Bombs statt achtzig Prozent - wie offiziell verkündet wurde - nur vierzig
Prozent der Ziele erreicht hätten. Noch unbefriedigender waren die Resultate der »unfehlbaren«
Marschflugkörper.
Jedenfalls sind heute am Tigris keine Ruinen mehr zu entdecken. Nach Einstellung der
Kampfhandlungen lief die Behebung der Schäden auf Hochtouren. Wenn das Land sich so mühselig und
langsam vom Krieg erholt, dann liegt das vor allem am Embargo der Vereinten Nationen, das nunmehr
sieben Jahre andauert. Das Sanktionskomitee der UNO hat unter amerikanischem Druck eine schikanöse
»Rote Liste« von verbotenen Gebrauchsartikeln aufgestellt, der man beim besten Willen keine strategische
Bedeutung beimessen kann. Darunter befinden sich - wie eine Studie von »Foreign Affairs« feststellt -Glühbirnen,
Socken, Armbanduhren, Ã-fen, Autobatterien und Autoreifen, Nähmaschinen, Nadeln,
Spiegel, Nägel, Textilien, Eisschränke und vieles andere. Die Hauptleidtragenden dieser Willkür sind die
Schulen und die Hospitäler. Papier und Kugelschreiber stehen nämlich ebenfalls auf der »Red List«, und -um
nur ein Beispiel des sanitären Boykotts zu erwähnen - es fehlt den Krankenhäusern an
Betäubungsmitteln für Operationen, weil sämtliche Nitrate militärisch genutzt werden könnten. Laut
Aussage der »Washington Post«, die übertrieben sein mag, fordern die UN-Maßnahmen jährlich eine
Million Todesopfer, darunter sechzig Prozent Kinder.
Ich will hier nicht alle Absurditäten dieses Rachefeldzuges aufzählen, der natürlich die armen
Schichten der Bevölkerung am härtesten trifft. Die Bessergestellten, die Privilegierten des Regimes zumal,
können sich in Spezial-Läden, im Baladiya Shopping-Center zum Beispiel, mit Schmuggelware eindecken.
Dort ist auch Alkohol, der ansonsten streng verboten ist, in beliebiger Menge, aber gegen harte Devisen zu
haben. Beim Minister für Ã-l-Industrie, Amer Raschid, habe ich mich nach dem Stand der industriellen
Rekonstruktion erkundigt. Die Elektrizitätserzeugung wurde zu 90 Prozent, die Raffinerien zu 80 Prozent
zerstört. Die petrochemischen Komplexe und Telekommunikationseinrichtungen waren total vernichtet.
Amer Raschid, der in seiner grünen Uniform recht schneidig auftritt und vor Energie strotzt, kann eine
beachtliche Aufbauleistung vorweisen. Bei meinen Fahrten über Land - vom südlichen Zweistromland bis
nach Kurdistan - sollte ich mich selbst überzeugen, daß die meisten Industrieanlagen neu erstanden sind.
Die amerikanischen Experten hatten die irakische Selbsthilfe-Kapazität ebenso sträflich unterschätzt wie
seinerzeit Engländer und Franzosen die ägyptische Fähigkeit, ohne fremde Anleitung die Schiffahrt im
Suez-Kanal zu regulieren. »Wir hatten zwei Elemente des Erfolgs auf unserer Seite«, brüstet sich der
Minister; »zunächst besaßen wir nicht die geringste Hoffnung, daß man uns auch nur mit einem einzigen
Cent oder einem winzigen Ersatzteil beistehen würde.
Wir wußten von Anfang an, daß wir es aus eigener Kraft schaffen müßten. Und dann gab es den
Präsidenten, der für eine straffe, einheitliche Koordinierung sorgte, der keine Schlamperei aufkommen
ließ.«
Saddam Hussein hatte im März 1991 die Petroleumexperten seines Landes um sich versammelt.
»Wie lange braucht Ihr, bis sämtliche Raffinerien wieder arbeiten?« hatte er gefragt. Die vorsichtige
Antwort lautete: Ungefähr sechs Monate in Anbetracht der Tatsache, daß wir es in den meisten Fällen nur
noch mit verbogenen Blechstangen und mit Schrott zu tun haben. Der Befehl des Diktators war
kategorisch: »Ich verlange, daß binnen drei Monaten wieder eine normale Produktion aufgenommen
wird.« Im Rückblick reibt Amer Raschid sich die Hände: »Wir haben es tatsächlich geschafft; wir haben
Tag und Nacht geschuftet mit erbärmlichen Mitteln und Improvisationen, aber wir haben die gesetzte Frist
eingehaltene Am Tag der kompletten Aufhebung des Export-Boykotts wird die irakische Ã-lindustrie
jedenfalls gewappnet sein, gewaltige Förderungsreserven auf den Weltmarkt zu schleusen. Unterdessen
wird an den zahlreichen Tankstellen der Liter Benzin zum Preis von umgerechnet einem Pfennig
abgezapft.
Amer Raschid kann noch einen anderen Ruhmestitel für sich verbuchen. Er gilt als Vater des
irakischen Raketen-Krieges. Unter seiner technischen Leitung wurde der Radius der sowjetischen Scud-B
auf eine Reichweite von achthundert Kilometer erweitert. Damit war Saddam Hussein in der Lage, im
ersten Golfkrieg gegen den Iran des Ayatollah Khomeini die Städte Teheran und Isfahan unter Beschuß zu
nehmen. Im zweiten Golfkrieg richteten sich diese Trägerwaffen gegen Tel Aviv in Israel und Riad in
Saudi-Arabien. Die zahllosen Untersuchungstrupps der Vereinten Nationen, die unter der Abkürzung
UNSCOM seit sechs Jahren pausenlos nach versteckten Waffen, Rüstungsanlagen, chemischen Fabriken
oder bakteriologischen Laboratorien suchen und sich für keine Schnüffelei zu gut sind, dürften die
meisten Schlupfwinkel, die Saddam Hussein anlegte, inzwischen aufgestöbert haben. Sollte ihnen das
nicht gelungen sein, müßte man ihnen ein erbärmliches Zeugnis ausstellen. An den rastlosen Recherchen
von UNSCOM gemessen, waren die alliierten Kontrollkommissionen des Versailler Vertrages, die
Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg heimsuchten, relativ harmlose Institutionen. Da der irakischen
Regierung - bis zum immer wieder hinausgezögerten Abkommen »Oil for food« - alle Exportgeschäfte
untersagt und sämtliche Auslandsguthaben eingefroren waren, erwies sich das offizielle Zugeständnis der
UNO, Bagdad könne Nahrungsmittel und Medikamente nach Belieben einführen, als inhaltsloser ja
heuchlerische Geste. Für die Steigerung der eigenen Ernten fehlten dem fruchtbaren Zweistromland die
unentbehrlichen chemischen Düngemittel und Pestizide, die man in die Kategorie von »dual use«-Importen
einreihte.
Daß es diesem tyrannischen Regime dennoch gelang, mit Hilfe von kostenlosen Lebensmittel-Coupons
eine Hungersnot zu verhindern und jedem Iraker ein schmales Minimum an Nahrung zu
verschaffen, ist eine beachtliche Leistung, die nur unter Androhung drakonischer Strafe im Fall von
Veruntreuung erzielt werden konnte. Der Ã-lminister versucht, aus der Not eine Tugend zu machen.
»Unsere Bevölkerung, die durch den mühelosen Reichtum des Erdöls verwöhnt war, stand im Begriff, die
Landwirtschaft zu verlernen. Jetzt ist fast jeder Iraker darauf angewiesen, sein Gemüse selbst zu pflanzen,
kleine Felder zu bestellen und alle eßbaren Früchte zu ernten.« Wie lange auch die UNSCOM ihre
Schnitzeljagd fortsetzen mag, dem resoluten Raketen-Konstrukteur Amer Raschid und seinesgleichen
traut man zu, daß sie die Rüstungsindustrie des Irak schleunigst wieder auf Touren bringen, sobald der
Eifer der ausländischen Kontrolleure nachläßt oder Washington - aus welchem Grunde auch immer - in
seinem Vergeltungsaffekt erlahmt.
*
In diesem Buch ist von Lug und Trug die Rede. Dazu gehört eine besonders abscheuliche Irreführung,
deren sich die gesamte Staatengemeinschaft - inklusive Sowjetunion - im Verlauf der beiden Golfkriege
schuldig gemacht hat. Wer erinnert sich denn heute noch daran, daß der »neue Hitler« Saddam Hussein,
dem die USA seit 1990 in einer Art überdimensionalem Indianerkrieg nachstellen - als hieße er Sitting Bull
oder Geronimo - vorübergehend das Hätschelkind des Westens war. Im Sommer 1980 wurde der starke
Mann am Tigris als ehrenwerter, willkommener Partner von Amerika und den meisten arabischen Staaten
ermutigt, die verhaßte Mullahkratie von Teheran zu stürzen und die schiitische Revolution des Ayatollah
Khomeini auszumerzen. Der irakische Eroberungsfeldzug in der persischen Erdöl-Provinz Khusistan war
von Washington abgesegnet. Ich beabsichtige nicht, an dieser Stelle das Auf und Ab des achtjährigen
Vernichtungskrieges zu schildern, der mit der irakischen Aggression gegen die Islamische Republik Iran
begann. Erst im August 1988 kam endlich ein Waffenstillstand zustande, von dem Khomeini sagte, er
hätte lieber einen Becher mit Gift geleert.
In den Jahren 1980 bis 1988 wurde Saddam Hussein von den Präsidenten Ronald Reagan und
George Bush als Schwertträger der amerikanischen Golf-Politik hoch geschätzt. Von Premierminister
Jacques Chirac, der ihm modernste Waffen verkaufte, wurde der irakische Rais als »ami de la France«
gepriesen. Niemand nahm damals Anstoß daran, daß der »neue Nebukadnezar« weit und breit bekannt
und berüchtigt war für seine Brutalität, seine Menschenverachtung, für die fürchterlichen Methoden, mit
denen er die Macht über Mesopotamien errungen und dann konsolidiert hatte. Ursprünglich war Saddam
als Verbündeter der Sowjetunion aufgetreten, die ihn mit Rüstungslieferungen überschüttete und auch
noch im Kampf gegen Khomeini regelmäßig die aufgeriebenen Panzerdivisionen mit neuem Material
auffüllte. Entscheidend war jedoch - nach dem Sturz des Schah - die Gunst der westlichen
Führungsmacht, die ihre arabischen Golf-Vasallen zur Finanzierung der Bagdader Kriegsanstrengung
verpflichtete und in besonders kritischen Phasen der Schlacht mit eigenen Mitteln intervenierte. So
verhängte die US Navy de facto eine Blockade über die iranische Schiffahrt im Golf, und ihre schweren
Granaten schlugen in den persischen Ã-lhäfen ein. Amerikanische und russische Ingenieure wirkten an der
Weiterentwicklung der irakischen Boden-Boden-Raketen mit. Spezialisten aus den USA brachten den
irakischen Offizieren bei, wie sich solche Trägerwaffen gegen iranische Luftangriffe in der Wüste tarnen
ließen. Sie informierten Saddam Hussein mit Hilfe ihrer Satelliten-Beobachtung über persische
Truppenkonzentrationen am Schatt-el-Arab und deren offensive Bereitstellungen.
Dennoch war im August 1982, während ich mich in Bagdad aufhielt, die Befürchtung
aufgekommen, die Streitkräfte Khomeinis, die schiitische Revolutionstruppe der Pasdaran und das
jugendliche Volkssturmaufgebot der »Bassidschi«, die bereits das enorme Panzer-Potential Saddam
Husseins in Dezful und Khorramshahr vernichtet hatten, seien nunmehr in der Lage, die irakischen Linien
am Schatt-el-Arab zu durchbrechen. Ich erinnere mich lebhaft an eine Frontbesichtigung auf der
irakischen Seite im Sektor Qasr Schriin und Mandali.
Auf der Rückfahrt hatte der begleitende Offizier die Nachrichtensendung eingestellt. Der
Staatsrundfunk von Bagdad übertrug heldische Männerchöre, die vom gottgewollten Sieg der arabischen
Seite dröhnten. »Allahu akbar« klang es unentwegt im Programm dieses säkularen Staates. Dazwischen
die beschwörende, aufgeregte Stimme des Sprechers. Sondermeldungen jagten sich, untermalt mit
Marschmusik. Das Gesicht des irakischen Majors war plötzlich erstarrt. Jedes Gespräch verstummte.
Selbst die einfachen Soldaten in unserem Landrover hatten begriffen, daß die Armee Saddam Husseins
bei Khorramshahr am Schatt-el-Arab eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, daß der Kriegsausgang
auf des Messers Schneide stand.
Wenige Tage später hatte ich die Feldpostnummer gewechselt.
Über Ankara und Teheran war ich mit Genehmigung des Militärberaters Khomeinis, des General Zaher
Nejad, den ich in Iranisch-Kurdistan kennengelernt hatte, mit einer Sondermaschine nach Ahwas und
dann im Jeep bis in die vordersten Linien der Pasdaran befördert worden. Dort bot sich ein gespenstisches
Bild. Zahllose gefallene Iraker verwesten in der glühenden Sonne. Hunderte ihrer schweren Tanks waren
von den Bassidschi geknackt worden, von todesmutigen Halbwüchsigen, ja Knaben, die sich mit ihren
Panzerfäusten wie Mammutjäger auf diese stählernen Ungetüme gestürzt hatten. Wäre in jenen Tagen der
Rat Zaher Nejads befolgt und der Vormarsch auf Basra, die Metropole des Süd-Irak, ohne Zögern
vorgetragen worden, hätte er vermutlich die Kriegsentscheidung zugunsten Teherans davongetragen. Aber
die hohen Mullahs befahlen ihm, auf der Stelle zu treten, in der irrigen Annahme, die überwiegend
schiitische Bevölkerung Süd-Mesopotamiens werde sich wie ein Mann gegen die sunnitische Herrschaft
Saddam Husseins erheben und weiteres Blutvergießen überflüssig machen. Der Aufstand der »Partei
Alis« fand jedoch nicht statt.
Die iranische Führung war einem verhängnisvollen Irrtum erlegen.
Als nämlich die persischen Pasdaran und Bassidschi nach einer Periode nutzlosen Wartens erneut
zum Angriff antraten, auf Schnellbooten und schwankenden Behelfsstegen versuchten, die morastige
Schilfwüste östlich von Ahwas und im Abschnitt der Madschnun-Inseln zu überwinden, hatte der Gegner
sich wieder gefangen. In selbstmörderischem Ansturm gelang es den Iranern, die irakischen Hafenplätze
El Fao und Umm-eI-Qasr vorübergehend zu besetzen, ja vier Stunden lang behaupteten sie sich auf einem
Abschnitt der Autobahn Bagdad-Basra. Aber Saddam Hussein verfügte über eiserne Nerven.
Die unverhoffte Atempause hatte er genutzt. Aus der Sowjetunion waren Massenlieferungen von Panzern
und Artillerie eingetroffen. Amerika koordinierte die Hilfe der Golfstaaten. Bei den Kriegern der
schiitischen Revolution setzte die Losung des Ayatollah Khomeini »Der Weg nach Jerusalem führt über
Bagdad« zwar unvorstellbare Energien, hemmungslose Bereitschaft zur Selbstaufopferung frei, doch da
brach ein entsetzliches Unheil über die Perser herein. Unter Mißachtung der Haager
Kriegsrechtskonvention befahl Saddam Hussein den massiven Einsatz von toxischen Waffen. Tausende
von Giftgas-Granaten gingen über den »Revolutionswächtern« nieder. In dichten Schwaden breitete sich
der chemische Tod über den Sümpfen aus. Die Gefolgsleute Khomeinis, die weder über Gasmasken noch
Schutzanzüge verfügten, erstickten in diesem mörderischen Nebel, ihre Haut wurde verätzt, sie
erblindeten. Mehrere Jahre lang hat diese barbarische Kriegführung gedauert. Zehntausende wurden auf
grausame Weise verseucht.
Im Westen regte sich keine einzige berufene Stimme des Protests.
Keine Human-Rights-Organisation oder Friedensbewegung meldete sich zu Wort, um diese flagrante
Mißachtung des elementarsten Völkerrechtes anzuprangern. Der Einsatz von Giftgasen unterschiedlicher
Zusammensetzung wurde von der internationalen Staatengemeinschaft geflissentlich ignoriert. Es kam zu
keiner entrüsteten UNO-Debatte, denn es galt ja, das Übergreifen der schiitischen Gottesstaats-Idee auf
Mesopotamien mit allen Mitteln zu verhindern. Die Stabilität am Golf wäre durch einen Waffenerfolg
Khomeinis erschüttert worden. Die reibungslose Petroleum-Produktion der ganzen Region stand auf dem
Spiel. Da drückte man allenthalben die Augen zu vor dem fürchterlichen Spektakel und ignorierte
geflissentlich die Vergasung Tausender iranischer Soldaten. Die Granaten, mit Lost, Sarin, Tabun und
anderen Kampfstoffen gefüllt, stammten ursprünglich aus der Sowjetunion, ehe Saddam seine eigene
Produktion aufnehmen konnte.
Auch deutsche Firmen und amerikanische Chemiker sollen am Bau irakischer C-Waffen-Fabriken
maßgeblich beteiligt gewesen sein. Gegen Ende des ersten Golfkrieges, als die Scud-B-Raketen immer
häufiger in Teheran einschlugen, mußte Ayatollah Khomeini damit rechnen, daß deren Sprengköpfe
demnächst auch toxische Stoffe freisetzen würden. Schon breitete sich Panik unter der Zivilbevölkerung
der persischen Hauptstadt aus. Massenflucht setzte ein. Keine westliche oder östliche Staatsführung kann
heute behaupten, von diesen mörderischen Vorbereitungen nichts gewußt zu haben. Für die Islamische
Republik Iran schlug die schmerzliche Stunde des Einlenkens, der demütigenden Feuereinstellung.
Saddam Hussein hatte die Prüfung überlebt. Im ganzen Land ließ er sich in der Pose des
kriegerischen Triumphators akklamieren. Er verglich sich mit dem zweiten Kalifen Omar, dessen Beduinen
im Jahr 636 in der Schlacht von Qadissiya das mächtige Perserreich der Sassaniden zerschlagen und den
Iran zum Islam zwangsbekehrt hatten.
Nach einer Neugruppierung seiner Streitkräfte ging der Iraker mit 60000 Soldaten gegen die
aufständischen Kurden in den eigenen Nordprovinzen vor, und als dieses Unternehmen mehr Verluste
forderte als erwartet, wendete er gegen die einheimischen »Peschmerga« die gleiche ruchlose Strategie an,
die sich bei der Abwehr der persischen Pasdaran so glänzend bewährt hatte. Er beschoß im Frühjahr 1988
die Kurdendörfer und vor allem die Stadt Halabja mit seinen Giftgas-Granaten. Mindestens 5000 Zivilisten
- in der Mehrzahl Frauen und Kinder - kamen dabei unter schrecklichen Qualen ums Leben. Doch dieses
Mal hatte der Diktator von Bagdad die Rechnung ohne die selektive Entrüstung und die doppelte Moral
der amerikanischen und europäischen Ã-ffentlichkeit gemacht. Im Gegensatz zu den Leichenhaufen
vergaster Iraner, die niemand sehen wollte, wurden die Bilder der vergifteten Kurden-Familien in
sensationeller Presse- und Fernsehaufmachung publiziert. Für Saddam Hussein, der das militärische
Potential seiner persischen Todfeinde unter immensen eigenen Opfern auf einen bescheidenen
Restbestand reduziert, der dem fundamentalistischen Drachen die Zähne gezogen hatte, galt nunmehr das
Schiller-Wort: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan... « Die sowjetische Hegemonialmacht, die bisher -im
Zuge eines ausgeklügelten Pendelspiels - ihre schützende Hand über Bagdad gehalten hatte, befand
sich 1989 bereits in einem fortgeschrittenen Stadium interner Zersetzung. Michail Gorbatschow dachte gar
nicht daran, dem Präsidenten George Bush in den Arm zu fallen. Plötzlich wollte niemand mehr etwas zu
tun haben mit dem »Killer von Bagdad«, zumal der Irak aufgrund seiner ungeheuren Rüstungsausgaben
nicht einmal mehr in der Lage war, seine Verschuldungsraten fristgerecht abzutragen.
Am 3. Juni 1989 war Ayatollah Ruhollah Khomeini in tiefem Gram über das Scheitern seines
»Heiligen Experiments« gestorben. Der iranischen Massen bemächtigte sich eine an Hysterie grenzende
Welle der Trauer und Verzweiflung. Niemand stand jetzt mehr in Teheran zur Verfügung, um mit
vergleichbarer Autorität »den Weg nach Jerusalem« zu weisen. Die »Neue Friedensordnung« im Nahen
und Mittleren Osten, die George Bush propagierte und die als Kernstück eine israelisch-arabische
Versöhnung enthielt, konnte von der schwer angeschlagenen persischen Mullahkratie nicht länger in Frage
gestellt werden. Statt dessen erhob sich nunmehr an den Ufern von Euphrat und Tigris das Gorgonen-Haupt
einer unberechenbaren irakischen Herausforderung. Die Raketen und die chemischen Kampfstoffe,
die Saddam Hussein so überaus nützlich zur Eindämmung des schiitischen Fundamentalismus eingesetzt
hatte, wurden zur unerträglichen Bedrohung, falls sie sich eines Tages gegen den mit den USA aufs engste
verknüpften Judenstaat oder gegen den saudischen Vorzugsalliierten richten sollten.
Angeblich war der Irak der Atomschwelle bedenklich nahe gerückt. Im Weißen Haus wurde man
sich bewußt, daß man in der Person Saddam Husseins ein orientalisches »Frankenstein-Ungeheuer«
herangezüchtet hatte. Der Rais von Bagdad mußte seinerseits mit Verblüffung registrieren, wie die
Stimmungsmache der amerikanischen Medien sich schlagartig und mit aller Wucht gegen den Irak und
dessen furchterregendes Kriegspotential richtete. Diese Kehrtwendung wurde vollzogen, als von einem
Konflikt um Kuweit noch überhaupt nicht die Rede war. Meine Gesprächspartner im Irak, mit denen ich
im August 1997 immer wieder die Hintergründe der Operation »Desert Storm« aufzuhellen suche, äußern
ausnahmslos die Überzeugung, daß der Feldzug gegen Saddam Hussein, zumindest seine Reduzierung
auf die Rolle eines gefügigen Satrapen der USA, beschlossene Sache war, lange bevor die irakische
Annexion des Scheikhtums Kuweit der amerikanischen Machtentfaltung am Golf eine weltweit
akzeptierte Rechtfertigung verschaffte.
Wenn ich die Schwelle zum Hotel Raschid überschreite und mit meinen Fußsohlen auf das Antlitz des
Präsidenten Bush trete, muß ich gelegentlich an den CNN-Korrespondenten Peter Amett denken, der -obwohl
US-Bürger - mit stoischer Gelassenheit in Bagdad ausgeharrt und sich zu Beginn des Jahres 1991
durch eine ebenso mutige wie ausgewogene Berichterstattung ausgezeichnet hatte. Mir war der gebürtige
Neuseeländer seit dem amerikanischen Vietnam-Krieg als Korrespondent des Nachrichtenbüros der
Associated Press von Saigon in positiver Erinnerung. Daß Peter Amett, weil er sich nicht an der
Irreführung der öffentlichen Meinung beteiligte und in das Triumphgeheul der Anti-Saddam-Koalition
einstimmte, später zur Zielscheibe »patriotischer« Vorwürfe und kollegialen Neides, daß seine CNN-Karriere
sich davon nie erholen würde, konnte damals niemand ahnen.
Ich selbst hatte das spektakuläre Feuerwerk über Bagdad, den Auftakt der »Mutter der
Schlachten«, in Florida, an der Küste des Golfs von Mexiko, erlebt, wo ich ein paar Ferientage verbringen
und nebenbei auch das Ohr an das imperial schlagende Herz Amerikas legen wollte. Dort, in der heilen
Welt eines subtropischen Luxus-Resorts mit Blick auf den schimmernden Golf, auf weißen Strand,
Mangrovendickichte, Palmenhaine und üppige Villen - umgeben von den Repräsentanten einer
demonstrativen Freizeitgesellschaft -, hatte mich die Nachricht vom Ausbruch des Golfkrieges schon in
der Nacht meiner Ankunft erreicht. Die drei nächsten Tage verbrachte ich vor dem Bildschirm. Ich ergab
mich dem CNN-Syndrom, ließ das Computerspiel einer manipulierten Kriegsberichterstattung über mich
ergehen.
In unserem amerikanischen Bekanntenkreis von Naples, der sich abends im Royal Club traf, herrschte in
jenen Januartagen Hochstimmung. Die Amerikaner waren offenbar noch einer nationalen Begeisterung
fähig, die den Kontinentaleuropäern längst abhanden gekommen war. Unsere engsten Gesprächspartner,
mehrheitlich als wohlhabende Geschäftsleute oder Anwälte etabliert, hatten in ihrer Jugend als Offiziere
bei den US Marines gedient. Eine geradezu Victorianische Erfolgszuversicht kam auf. »By Jingo«, so hatte
man wohl unter der großen Queen and Empress of India gesungen, »we have the men, we have the ships,
and we have the money too.« Jetzt hatte George Bush Männer und Schiffe in einem Umfang gegen die
weit überschätzte Armee Saddam Husseins aufgeboten, wie das nach dem Vietnam-Debakel, dessen
Trauma es zu überwinden galt, sich niemand mehr vorgestellt hätte. Das Geld für die Monster-Expedition
am Golf, so sickerte bereits durch, würde er sich aber bei den Erdöl-Potentaten der Arabischen Halbinsel,
bei den Japanern und bei den Deutschen holen. In der zuversichtlichen Anfangsphase der Operation
»Wüstensturm« wäre jeder von einem Ausländer geäußerte Zweifel an der Fähigkeit Amerikas, nach der
Niederschlagung des Paranoikers von Bagdad im ganzen Orient eine »Neue Friedensordnung« zu
schaffen, als Ausdruck von Neid und Häme gewertet worden.
Mich drängte es, an den Ort des Geschehens zu eilen. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich bereits
erwiesen, daß Riad, daß Dhahran, daß die ganze Golfregion lausige Korrespondentenplätze waren, daß
eine bleierne Zensur verhängt, wenn nicht gar eine systematische Desinformation gestreut wurde.
Lediglich sorgsam gesiebte »Pools« - unter Bevorzugung der amerikanischen Medien - durften einen
Zipfel der »Frontlinie« im Wüstensand besichtigen. Ich entschloß mich deshalb, nach Amman in
Jordanien zu fliegen, wo König Hussein sich unter dem Druck seiner überwiegend palästinensischen
Untertanen mit der irakischen Sache solidarisiert hatte. Seit im Küstengebiet von Tel Aviv die ersten Scud-B-
Raketen eingeschlagen waren, mußte überdies mit einer radikalen Gegenaktion Zahals, der israelischen
Streitmacht, gerechnet werden. In diesem Fall hätte man sich in Amman in der vordersten Loge befunden.
Vorsorglich beschaffte ich mir auch noch ein Visum für die Arabische Republik Syrien. Vielleicht würde
sich ja in der Stunde des Zusammenpralls die Straße nach Damaskus als einziger Ausweg aus der
jordanischen Mausefalle anbieten.
Das wirkliche Menetekel, das in jenen Tagen über den Höhen von Judäa aufleuchtete, war die
Fähigkeit Saddam Husseins, den Ablauf des Krieges auch mit chemischen Waffen zu beeinflussen und
dadurch den jüdischen Staat zu schrecklicher Vergeltung zu zwingen. So wurde die gelassene Stimmung,
mit der ich mich nach Amman auf den Weg machte, am Abend vor meinem Abflug ein wenig getrübt, als
es zu später Stunde an meiner Zimmertür klopfte und der Portier des Münchner »Vier Jahreszeiten« mir
im Auftrag des ZDF ein quadratisches Paket überreichte. Es enthielt, wie ich der Aufschrift entnahm, eine
Gasmaske und einen Schutzanzug gegen chemische Kampfstoffe. Eine neue, besonders heimtückische
Fratze des Krieges wurde hier plötzlich sichtbar.
Bei der Ankunft in Amman stellte sich Ernüchterung ein. Die Normalität der Verhältnisse in der
jordanischen Hauptstadt stand in krassem Gegensatz zu den angespannten Erwartungen und Exzessen
des Sensationsjournalismus. Die Zoll-Abfertigung verlief völlig reibungslos, und in den Außenbezirken
der Stadt war auch zu dieser späten Stunde keinerlei militärisches Aufgebot zu entdecken. Außer der
Hektik der Presseleute, die ohne ein Minimum an Wichtigtuerei offenbar nicht auskommen können,
wirkte die Atmosphäre und die Stimmung der Bedienung im mir vertrauten Hotel »Intercontinental«
freundlich und durchaus normal. Wenn später behauptet wurde, den alliierten Stäben sei es im Golfkrieg
gelungen, sämtliche beruflichen Informanten hinters Licht zu führen und den Nimbus der »war
correspondents« ein für allemal anzuschlagen, so kann ich dem in keiner Weise zustimmen. Für geübte
Beobachter hatte der unabänderliche Wille des US-Präsidenten, den militärischen Schlag auch zu Lande
zu führen, von jenem Tag an festgestanden, da mehr als 500 000 GIs ihre Bereitschaftsstellungen in der
Wüste bezogen. Wer Indochina erlebt hatte, mußte eine Analogie zum Vietnam-Krieg, die von den
europäischen Medien immer wieder aufgetischt wurde, schon aus Gründen der Topographie weit von sich
weisen. Ebenso unseriös wirkten Spekulationen auf einen unmittelbar bevorstehenden Kompromiß der
letzten Minute, den der sowjetische Unterhändler Primakow aus der Tasche ziehen werde. Das
Ausharrungsvermögen Saddam Husseins wurde sträflich unterschätzt. Lange bevor General Schwarzkopf
zu seinem Panzerblitzkrieg ausholte, waren sich alle Experten einig, daß das Ziel einer grundlegenden
Veränderung verfehlt würde, falls ein Teil der Präsidenten-Garde überlebte und Bagdad von jeder alliierten
Truppenpräsenz verschont bliebe. Auch in Amman wurden die Bilder des Krieges über den CNN-Nachrichtenkanal
übertragen und mit extremer Spannung verfolgt. Die Aufnahmen kamen meist in der
seltsam abstrakten Form elektronischer »war games« zu uns. Sie entbehrten jeder Realität. Wir verfügten
jedoch über die Augenzeugenberichte jener Journalisten, die auf der Wüstenstraße von Rafat nach
Bagdad gefahren waren und sich im benachbarten Irak relativ ungestört umgesehen hatten. Auf diese
Weise waren wir über den Stand und die Wirkung des Luftkrieges ziemlich wahrheitsgetreu informiert.
Vergeblich starrten wir im Februar 1991 zum Nachthimmel hoch, um eine Scud-B bei ihrem
Anflug auf Tel Aviv zu beobachten. Der Raketenkrieg, den Saddam Hussein mit kläglicher militärischer
Wirkung, doch gewaltigem Propagandaeffekt gegen Israeli und Amerikaner führte, elektrisierte die
jordanische Bevölkerung. Mittelpunkt einer jeden Kundgebung, die von der PLO, der »Organisation zur
Befreiung Palästinas«, gegen die »US-Aggressoren« veranstaltet wurde, Waren silberbepinselte Blech-oder
Papp-Attrappen, die die Raketen Saddams darstellen sollten. In den jordanischen Palästinenser-Lagern
wurden vor einer begeisterten Menge Wrackteile abgeschossener amerikanischer Flugzeuge
versteigert.
Sogar in den Villenvierteln kamen die Schulkinder der ortsansässigen Bourgeoisie im kalten
Winterregen zusammen, um sich unter Anleitung ihrer Lehrer politisch zu engagieren. Gewiß, einige
Schüler trugen Abbildungen von Friedenstauben oder Transparente mit der aus Vietnam vertrauten
Inschrift: »give peace a chance«. Aber weitaus zahlreicher waren kindliche Zeichnungen mit
explodierenden Raketen, die den Judenstaat zerstören sollten. »Ya Saddam, ya habib«, kreischten die
»little darlings«, wie Mariam, unsere palästinensischchristliche Aufnahmeleiterin, sie spöttisch nannte,
»Ya Saddam, ya habib, udrub, udrub Tel Abib - 0 Saddam, unser Liebling, hau doch drauf, hau auf Tel
Aviv!« Es bedeute allerhand, kommentierte Mariam, daß die reichen Leute ihre kleinen Lieblinge in das
garstige Wetter hinausgelassen hatten. Meine tiefe Abneigung gegen Eltern, die ihre Kinder zu politischen
Kundgebungen mitnehmen, und seien deren Zielsetzungen noch so edel, wurde hier bestärkt. Ob die
wehrlosen Minderjährigen den Völkerfrieden oder den Völkerhaß akklamieren.
wird ihnen schließlich immer von den Erwachsenen suggeriert.
Bei allen Massenversammlungen, die wir in jenen Tagen erlebten, ist uns nie wirkliche
Feindseligkeit entgegengeschlagen. Uns störte es wenig, wenn ein Chor alter Männer unter dem rot-weißen
Keffiyeh, dem landesüblichen Kopftuch, den amerikanischen Präsidenten »Bosch«, wie sie ihn
aussprachen, als ein »Stück Scheiße« bezeichneten. In Mafraq, der nördlichen Grenzstadt zu Syrien,
waren gleich zwei säuberlich getrennte Demonstrationszüge angetreten. Beide führten
Raketennachbildungen mit sich, doch während die einen unter roten Fahnen marschierten - das waren die
Kommunisten -, führten die anderen die grüne Fahne des Propheten mit und gaben sich als Moslem-Brüder
zu erkennen. Die jordanischen Sicherheitsbehörden verloren zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle
über diese Kundgebungen. In Mafraq war der zuständige Polizeimajor, sehr britisch auftretend, um unsere
Sicherheit besorgt. Er werde uns diskret schützen lassen, sagte er.
Die Extremisten des »Heiligen Krieges«, in der militanten Palästinenser-Organisation »Dschihad«
zusammengeschlossen, scharten sich um eine malerische Patriarchengestalt, Scheikh Assad el-Tamimi.
Dieser zornige Eiferer, mit Prophetenbart und dröhnender Stimme, rühmte Saddam Hussein als Hoffnung
der Araber und des Islam. Er sah in dem irakischen Diktator einen neuen »Saladin«, der Jerusalem, »die
Heilige«, den Ungläubigen entreißen würde. Doch der kämpferische Greis wirkte zu theatralisch, um
wirklich ernst genommen zu werden. Beunruhigender waren seine Leibwächter, junge bleiche Leute mit
starrem Blick, spärlichem Bartwuchs und pubertären Pickeln, die mit ihren Kalaschnikows hantierten.
Offenbar sah der ehrwürdige Scheikh in jedem Deutschen einen potentiellen Judenvernichter. Er selbst
gab sich »nuancierter«. Natürlich müsse der Staat Israel zerstört werden. Die Zionisten müßten »Filistin«
verlassen, sonst würden sie umgebracht. Im Lande bleiben dürften nur jene Söhne Israels, »Banu Israil«,
deren Familien dort bereits vor 1918 ansässig gewesen seien.
Zuletzt schreckte Tamimi nicht davor zurück, Saddam Hussein - trotz dessen Zugehörigkeit zur wenig
islamischen Baath-Partei - als künftigen Kalifen für die gesamte Umma anzupreisen.
*
Warum hat George Bush die Bodenoffensive der amerikanischen Streitkräfte und ihrer zahlreichen
Verbündeten am Morgen des 28. Februar 1991 nach hundert Stunden abgebrochen? Die Iraker leisteten
keinerlei Widerstand mehr, sondern flüchteten in aufgelösten Scharen nach Norden. Der militärische Sieg
konnte nicht kompletter sein. Die spärlich bewaffnete französische Golfkriegs-Division »Daguet«, die am
nördlichsten Sektor durch die Wüste in Richtung Bagdad vorstieß, hatte nur einen Soldaten durch Land-Minen
verloren und stand kurz vor dem Euphrat. Der Sturz Saddam Husseins schien besiegelt. Dennoch
wurde das Unternehmen »Wüstensturm« überstürzt abgeblasen, wohl sehr zur Verärgerung des
amerikanischen Oberbefehlshabers Norman Schwarzkopf Wie oft bin ich nach Vorträgen über die Lage
im Orient nach den Gründen dieses verfrühten Waffenstillstands gefragt worden. Die Erklärungen sind
vielfältig und oft widersprüchlich. Der damalige Stabschef der US-Streitkräfte, General Colin Powell,
wollte bei einer Besetzung Mesopotamiens offenbar nicht in einen »protracted warfare«, in einen
»quagmire«, so hieß es in Vietnam, verwickelt werden. Häuserkämpfe in Bagdad hätten verlustreich
werden können, nachdem bisher nur 126 Soldaten gefallen waren, darunter 79 Amerikaner. Diese Verluste
waren zudem noch überwiegend durch sogenanntes »friendly fire« oder Unfälle verursacht worden. Die
Scud-B-Raketen Saddam Husseins wurden erst dann wirklich gefährlich, wenn sie von dem völlig
unzureichenden Abfangsystem »Patriot« zufällig getroffen wurden und mit erhöhter Splitterkraft
einschlugen.
Die offiziellen Sprecher des Weißen Hauses haben behauptet, der Krieg und vor allem die
Luftangriffe gegen die flüchtenden Iraker seien eingestellt worden, um kein namenloses Gemetzel beim
Gegner anzurichten. Diese Darstellung, die von manchen deutschen Kolumnisten nachgebetet wurde,
kann niemanden überzeugen, der Augenzeuge der amerikanischen Bombardements am 17. Breitengrad in
Vietnam oder im Mekong-Delta war. Die Schätzungen über die im Krieg getöteten Iraker schwanken
erheblich, variieren zwischen 85 000 und 150000 Opfern. Aber sie bezogen sich fast ausschließlich auf das
gewöhnliche Fußvolk, auf die Masse der schlecht ausgerüsteten Divisionen, die im südlichsten Abschnitt
von Kuweit und Umgebung massiert waren. Die Elite-Einheiten des Regimes, die »Republikanische
Garde«, etwa 80000 Mann mit ihren modernen T-72-Panzern, waren auf Anordnung Saddam Husseins in
rückwärtigen Stellungen disloziert worden und wurden von der US Air-Force aus mysteriösen Gründen
verschont.
Eine andere offizielle Erklärung besagt, George Bush habe vom Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen lediglich den Auftrag zur Befreiung Kuweits und nicht zum Vormarsch auf irakisches
Territorium erhalten. Doch wer wäre schon dem US-Kommando in den Arm gefallen, als es um die
Eliminierung des »Kriegsverbrechers« Saddam ging, und seit wann schert Washington sich so skrupulös
um UN-Resolutionen? Im Gegenteil, es kam weltweite Enttäuschung auf, als sich herausstellte, daß der
Diktator von Bagdad sich an der Macht behaupten würde. Schon bekamen die amerikanischen Strategen
den Vorwurf zu hören, den einst ein karthagischer Unterführer an den siegreichen Feldherrn Hannibal
gerichtet hatte, als dieser sich nach einer Serie beispielloser Siege weigerte, ohne Verzug zur Eroberung
Roms auszuholen: »Vincere scis, Hannibal, victoria uti nescis - Zu siegen verstehst du, Hannibal, den Sieg
zu nutzen verstehst du nicht.«
Die wirklichen Überlegungen, die dem plötzlichen Stillhalten der US-Streitkräfte zugrunde lagen,
hatte ich bereits in meinen Fernsehkommentaren angekündigt, die ich Mitte Februar 1991, also zwei
Wochen vor Beginn des Blitzfeldzuges zur Befreiung Kuweits, vom Dach des Hotel Intercontinental in
Amman per Satellit nach Deutschland übermittelte. Weder die USA noch deren saudi-arabische
Verbündete besaßen irgendein Interesse an der staatlichen Auflösung der irakischen Republik. Ein Sturz
Saddam Husseins, eine entscheidende Schwächung der tyrannischen Zentralgewalt in Bagdad hätte
diversen separatistischen Tendenzen freien Lauf gelassen. Die Bevölkerung des Zweistromlandes setzt
sich zu sechzig Prozent aus Schiiten zusammen, die vor allem südlich der Hauptstadt und im Umkreis von
Basra eine erdrückende Mehrheit bilden. Die Gründung eines schiitischen Gottesstaates im Süd-Irak nach
dem Vorbild der Khomeini-Revolution wäre in Teheran zwar mit Begeisterung aufgenommen worden,
hätte jedoch beim saudischen Königshaus die Befürchtung genährt, nun werde diese religiöse
Hochstimmung auch auf jene Schiiten übergreifen, die ausgerechnet in der saudischen Erdöl-Provinz El
Ahsa stark vertreten sind.
Im Norden wiederum wäre die Auflösung des Bagdader Staatsapparates von den Kurden genutzt
worden, um im Raum von Mossul, Kirkuk, Suleimaniyeh und Halabja eine souveräne Republik zu
proklamieren. Was wiederum die türkische Regierung in Ankara und die dortige Armeeführung, die in
Ost-Anatolien in einen endlosen Partisanenkrieg gegen die Stalinisten der PKK verstrickt sind, zur
militärischen Intervention, ja vielleicht zur dauerhaften Okkupation der irakischen Nordprovinzen
bewogen hätte. Kurzum, die Erhaltung des territorialen Status quo erschien den geopolitischen Planern in
Washington als das geringere Übel. Der Geheimdienst CIA ging im übrigen von der Gewißheit aus, daß
Saddam Hussein nach seiner schmählichen Niederlage vom eigenen Offizierskorps gestürzt würde und
daß man sehr bald in Bagdad mit einem neuen Machthaber verhandeln könne. Am Tigris ist mir versichert
worden, der irakische Staatschef habe höchstpersönlich das Gerücht dieses unmittelbar bevorstehenden
Militärputsches den amerikanischen Agenten zuspielen lassen, um George Bush in Sicherheit zu wiegen
und sein eigenes Überleben zu ermöglichen.
Der babylonische Präzed
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-->Sorry, habe ich gar nicht gemerkt, hier der Rest des Kapitels:
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Im Norden wiederum wäre die Auflösung des Bagdader Staatsapparates von den Kurden genutzt
worden, um im Raum von Mossul, Kirkuk, Suleimaniyeh und Halabja eine souveräne Republik zu
proklamieren. Was wiederum die türkische Regierung in Ankara und die dortige Armeeführung, die in
Ost-Anatolien in einen endlosen Partisanenkrieg gegen die Stalinisten der PKK verstrickt sind, zur
militärischen Intervention, ja vielleicht zur dauerhaften Okkupation der irakischen Nordprovinzen
bewogen hätte. Kurzum, die Erhaltung des territorialen Status quo erschien den geopolitischen Planern in
Washington als das geringere Übel. Der Geheimdienst CIA ging im übrigen von der Gewißheit aus, daß
Saddam Hussein nach seiner schmählichen Niederlage vom eigenen Offizierskorps gestürzt würde und
daß man sehr bald in Bagdad mit einem neuen Machthaber verhandeln könne. Am Tigris ist mir versichert
worden, der irakische Staatschef habe höchstpersönlich das Gerücht dieses unmittelbar bevorstehenden
Militärputsches den amerikanischen Agenten zuspielen lassen, um George Bush in Sicherheit zu wiegen
und sein eigenes Überleben zu ermöglichen.
Der babylonische Präzedenzfall des Frevlers Belsazar, den die Bibel schildert und den Heinrich Heine in
seiner Ballade popularisierte, hat sich nicht wiederholt: »... Belsazar ward aber in selbiger Nacht von
seinen Knechten umgebrachte Aus dem Blitzsieg von »Desert Storm« war ein Pyrrhus-Sieg geworden.
Daran konnte auch der römisch anmutende Triumphzug des General Schwarzkopf an der Spitze seiner
Soldaten auf der Fifth Avenue von New York nichts ändern.
*
Nichts liegt mir ferner, als das Lied des »ugly American«, des häßlichen Amerikaners, anzustimmen. Aber
mit allen Registern ist im Golfkrieg gegen Irak »foul« gespielt worden. Die Irreführung der Medien und
der Weltöffentlichkeit hat vor, während und nach dem Unternehmen »Wüstensturm« groteske Ausmaße
angenommen. Wer konnte während des US-Bombardements noch unterscheiden zwischen realen
Luftaufnahmen und Computer-Simulierungen? Die Zahl der rund um Kuweit massierten irakischen
Truppen wurde extrem aufgebauscht. Nach ihrem Einmarsch in Kuweit haben sich die Soldaten Saddam
Husseins ganz bestimmt nicht wie Gentlemen aufgeführt. Aber sie waren auch nicht die Bestien in
Menschengestalt, als die sie von der amerikanischen Greuelpropaganda dargestellt wurden. Plünderungen
in großem Ausmaß fanden statt, und das Beutegut ist teilweise heute noch - vom Kühlschrank bis zum
Kronleuchter aus Kristall - in gewissen Valuta-Kaufhäusern Bagdads zu erstehen. Oft waren jedoch
ortsansässige Kuweiti an diesen Seriendiebstählen beteiligt. Ich habe mich von libanesischen Kaufleuten,
die den ganzen Krieg im okkupierten Scheikhtum miterlebt haben, ausführlich informieren lassen. Die
Iraker sollen sich nicht wesentlich schlimmer aufgeführt haben, als das andere arabische Eroberer in
vergleichbarer Situation getan hätten. Die Verschleppung und die Hinrichtung potentieller politischer
Gegner, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, sind leider geläufige Praxis im ganzen Orient.
Es gibt Situationen, in denen die Europäer ihrem übermächtigen Bündnispartner jenseits des
Atlantiks nicht jeden Streich durchgehen lassen sollten. Eine Portion Gaullismus stünde den
verantwortlichen Politikern unseres alten Kontinents gut zu Gesicht, was eine tief verankerte Solidarität
mit Amerika keineswegs ausschließt. Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise, als die Welt sich am Rande
des Atomkrieges befand, hatte Charles de Gaulle - bei all seinen Vorbehalten gegen den westlichen
Hegemonen - dem Emissär John E Kennedys, Dean Acheson, auf englisch, was für ihn äußerst
ungewöhnlich war, deklariert: »If there is a war, we shall be with you - Wenn es zum Krieg kommt, stehen
wir auf Eurer Seite.« Aber gewisse »dirty tricks« können einfach nicht hingenommen werden. Ein
Paradebeispiel dieser geheimdienstlichen Abgefeimtheit war wohl die Horror-Erfindung von den
Brutkästen für Säuglinge in einem Kuweiter Krankenhaus, die von den Irakern angeblich zertrümmert
wurden. Die Babys seien dann von diesen Sadisten an den Wänden zerschmettert worden. Um diesen
Behauptungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, war eine englische TV-Produktionsfirma speziell beauftragt
und bezahlt worden, das Gruselspiel absichtlich verwackelt und leicht verzerrt mit Schauspielern zu
inszenieren und den Säuglingsmord anhand von Puppen zu simulieren. Dazu gesellte sich die Tochter des
Botschafters von Kuweit in den USA, um über sämtliche Fernsehkanäle mit tränenerstickter Stimme
Greuelmärchen zu verbreiten, die sie im fernen New York frei erfunden hatte.
Nach Ende der Bodenoffensive kam die Sensationsnachricht von irakischen Giftgas-Anschlägen
gegen die vorrückenden Amerikaner auf. In Wirklichkeit hatte die US Army - von ihrem voll informierten
Nachrichtendienst unzureichend gewarnt - Bunkerstellungen des Gegners gesprengt, in denen
Gasgranaten und Sarin-Kampfstoff lagerten. Seitdem ist in den USA der Streit im Gang um die
Entschädigung der durch eigenes Verschulden verseuchten amerikanischen Soldaten, deren Zahl von
gewieften Anwälten beliebig in die Höhe getrieben wird. Nur ein geringer Teil der Lügen und
Fehlleistungen, die den strahlenden Sieg George Bushs ins Zwielicht rücken, sind bekannt geworden.
Man erinnere sich zum Beispiel an die Tatarenmeldung von der totalen Ã-lverschmutzung des Persischen
Golfs durch auslaufendes Petroleum. Als dazu eine drastische Illustration fehlte, wurde die Fernseh-Aufnahme
eines im Ã-l ertrinkenden Kormorans aus der französischen Bretagne zu Hilfe genommen. um
die Entrüstung der Umweltschützer anzufachen.
In einem mit Hilfe des deutschen Nachrichtendienstes entstandenen Sachbuch des FAZ-Redakteurs
Udo Ulfkotte, dessen Lektüre für naive Gemüter überaus heilsam wäre, sind die von mir
summarisch aufgezählten Pannen mit detaillierter Sachkenntnis aufgelistet. Verblüffend an dieser
Veröffentlichung sind nicht so sehr die Fakten selbst, die in der amerikanischen Presse längst ausführlich
behandelt wurden, sondern die Tatsache, daß ausgerechnet der BND zu einer so schonungslosen
Kampagne gegen seine Kollegen der CIA ausholte. In Pullach - das wäre das wahre Hintergrundthema
besagten Buches - scheint eine gewisse Schizophrenie vorzuherrschen. Einerseits stellt man die US-Agenten
als Stümper und Killer dar, andererseits wird jedoch von Ulfkotte versichert, daß über den BND
seit geraumer Zeit sämtliche deutschen Botschaftsberichte an den israelischen Nachrichtendienst
»Mossad« weitergeleitet werden. Nun ist aber die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und
israelischen »Spooks« aufs engste verzahnt, so daß die Enthüllungen Pullachs, die streng vertraulichen
Lagebeurteilungen des Auswärtigen Amtes, zweifellos über Jerusalem ihren Weg nach Langley finden.
Das erträgliche Maß an Skrupellosigkeit und »intoxication« wurde vollends überschritten, als das
US-Kommando die Regimegegner Saddam Husseins - insbesondere die Schiiten im Süden und die
Kurden im Norden - zum offenen Aufstand gegen den Diktator aufrief und sie dann ihrem tragischen
Schicksal überließ. Die Kurden, die im Westen über eine beachtliche Anzahl von Sympathisanten bei
linken Alternativen und »Friedenskämpfern« verfügen, kamen noch relativ glimpflich davon. Sie
profitierten von den amerikanischen Schutzmaßnahmen, die im Stil der üblichen Schönfärberei mit dem
Namen »Northern Shield« und »provide comfort« bezeichnet wurden. Eine schreckliche Untat wurde
hingegen an den schiitischen Gegnern Saddam Husseins begangen. Es war nämlich zur Volkserhebung in
den meisten Provinzen südlich von Bagdad gekommen. Die Anführer der bislang streng geheimen
Untergrund-Organisationen, insbesondere der militanten Gruppe »El Dawa«, tauchten aus ihren
Schlupflöchern und ihrer Anonymität auf. Die Geheimpolizei Bagdads hatte schon in den siebziger und
Achtziger Jahren zur erbarmungslosen Repression gegen die Mullahs und jene schiitischen Intellektuellen
ausgeholt, die man als Feinde des säkularen Baath-Regimes, als heimliche Befürworter eines Gottesstaates
à la Khomeini verdächtigte. Der oberste Würdenträger der »Partei Alis«, Ayatollah Uzma Mohammed
Baqr Sadr, war 1980 hingerichtet worden. Der nächste hohe schiitische Geistliche des Irak, Mohammed
Baqr-el-Hakim, entkam nach Teheran, wo er eine »Armee der islamischen Mobilisierung« unter den
schiitischen Kriegsgefangenen aus Mesopotamien zu rekrutieren suchte. Viel effektive Hilfe haben die
Aufständischen des Süd-Irak von ihren persischen Glaubensbrüdern dennoch nicht erhalten, als die
Revolte sich im März 1991 in Windeseile ausbreitete. Teheran hatte sich noch längst nicht von den
horrenden Verlusten des ersten Golfkrieges erholt.
Auch ohne nennenswerten äußeren Beistand hatten sich die schiitischen »Gotteskrieger« der
südlichen Hälfte des Zweistromlandes bemächtigt. Nach heftigen Gefechten hatten sie die Großstadt Basra
von den Schergen Saddam Husseins befreit, die heiligen Pilgerstätten Nedschef und Kerbela für die
»Schiat Ali« zurückgewonnen. Ihre Anführer vertrauten darauf, daß Präsident Bush die irakische Armee
zumindest daran hindern würde, eine Gegenoffensive in Gang zu setzen und blutige Vergeltung zu üben.
Doch in diesem Punkt hatten sich die Schiiten geirrt. Sie waren auf abscheuliche Weise getäuscht worden.
Die Kein- und Verfügungstruppe des Saddam-Regimes, die Divisionen der »Republikanischen Garde«,
waren ja von amerikanischen Luftangriffen verschont geblieben. Sie standen fast unversehrt bereit, um mit
schwerem Material gegen die Aufrührer vorzugehen. Amerika hatte die Volkserhebung gegen den »Hitler
von Bagdad« mit allen Mitteln der Propaganda ermutigt. Als aber die Perspektive einer schiitischen
Loslösung von der irakischen Zentralmacht sich abzeichnete und die Konturen eines islamischen
Gottesstaates in Süd-Mesopotamien Gestalt annahmen, rührten die Streitkräfte des General Schwarzkopf
keinen Finger, um diesen Irregeleiteten zu Hilfe zu kommen. Sie sahen taten- und wortlos zu, wie die
Revolutionsgardisten unter Befehl des als Schlächter berüchtigten General Ali Hassan el-Madschid die
Straßen von Basra in Schutthalden verwandelten, die heilige Stadt Nedschef verwüsteten und das höchste
schiitische Sanktuarium von Kerbela, das Grab des Imam Hussein, in Brand schossen.
Washington hat die rebellischen Schiiten ihrem Todfeind Saddam Hussein bewußt ans Messer
geliefert. Zwar war von der US Air-Force über breite Streifen im Norden und im Süden des Landes ein
Flugverbot für irakische Kampfflugzeuge verhängt worden. Aber über eine nennenswerte Luftwaffe
verfügte Bagdad seit Kriegsbeginn ohnehin nicht mehr - die Maschinen waren nach Iran ausgeflogen
worden -, und das Startverbot galt nicht für die Hubschrauber, die der Diktator durch geschickte Tarnung
gerettet hatte. Die gepanzerten Helikopter stießen nunmehr wie mörderische Raubvögel auf die schlecht
bewaffneten Schiiten nieder. Es fand ein entsetzliches Gemetzel statt. Letzte Zuflucht fanden die
Aufständischen in jener malerischen Sumpflandschaft, wo sich das Leben der »Marsh«-Araber seit
prähistorischen Zeiten nicht geändert hatte. Umgehend ordnete Saddam Hussein an, die potentiellen
Widerstandsnester, dieses einzigartige Naturreservat durch Kanalbau und Drainage auszutrocknen und der
Versteppung auszuliefern.
Die amerikanische Orient-Politik hatte einen doppelten, zutiefst dubiosen Erfolg verbucht:
Saddam Hussein war - mehr noch als bei der Besetzung Kuweits - als grausamer Unhold diskreditiert, und
die Schiiten des Irak wurden als potentielle Verbündete des iranischen Gottesstaates ausgeschaltet. Die
Vasallen der USA am Persischen Golf - Kuweiti und Saudi zumal - konnten aufatmen. Kein
amerikanischer oder europäischer Medien-Kommentator wagte die Feststellung zu treffen, daß das US-Kommando
sich gegenüber den Schiiten des Irak ähnlich verhalten hatte wie die Rote Armee Josef
Stalins, als deren Divisionen im Warschauer Stadtteil Praga östlich der Weichsel wie gelähmt, ohne auch
nur eine Granate abzufeuern, zusahen, wie Wehrmacht und Waffen-SS den patriotisch und katholisch
motivierten Aufstand des Oberst Bór-Komorowski zusammenkartätschten, die polnische Widerstands-Elite
füsilierten und Warschau in eine Mondlandschaft verwandelten. Ob ein solcher Zynismus sich am
Ende auszahlt? Die »glorreiche Sowjetmacht« ist - trotz oder wegen des stalinistischen Verbrechens an
der Weichsel - zumindest partiell an der ungebrochenen Beharrungskraft Polens gescheitert. Heute deutet
einiges darauf hin, daß das skrupellose Doppelspiel zwischen Euphrat und Tigris, dessen sich die USA
schuldig machten, ihnen keinen dauerhaften Vorteil bei der angestrebten »Neuen Friedensordnung«
verschaffen wird.
Blutgericht und Sektentaumel
Bagdad, im August 1997
Der Traum Saddam Husseins, Bagdad in eine strahlende Megapolis zu verwandeln wie zu Zeiten des
Kalifen Harun-al-Raschid, hat sich nicht erfüllt. Sieben Jahre Wirtschaftsembargo haben sich wie Mehltau
auf die Stadt am Tigris gelegt. Wer möchte sich heute noch mit den wuchtigen Wohnblocks des
Außenviertels »Saddam City« brüsten, das ursprünglich »Madinat-el-Thaura - Revolutionsstadt« heißen
sollte und nun zum Schauplatz ganz gewöhnlicher Kriminalität verkommt. Auch die stattlichen
Apartment-Häuser von Haifa-Street - die Namensgebung erinnert an den unverzichtbaren Anspruch auf
die israelische Hafenstadt - beeindrucken nicht mehr. Sie sind - wie so viele Neubauten - einer
schleichenden Abnutzung ausgeliefert.
Bagdad im Sommer 1997 wirkt weit weniger protzig als fünfzehn Jahre zuvor. Dafür hat die
Kapitale zu einer anheimelnden orientalischen Menschlichkeit zurückgefunden. Plötzlich stelle ich fest,
daß die alte Hauptstraße parallel zum Strom, die nach Harun-al-Raschid benannt ist, sich seit meinem
ersten Besuch im Sommer 1951 kaum verändert hat. Sie ist noch ebenso verdreckt, übervölkert und laut
wie wohl schon zur Osmanischen Epoche. Manches offizielle Gespräch führe ich in renovierten,
kasernenähnlichen Ziegelbauten, die aus der Zeit der türkischen Sultansverwaltung stammen. Vor 46
Jahren ließen dort die Beamten des Haschemitischen Königshauses dem Besucher von sudanesischen
Dienern Kaffee servieren, während dieser auf die Erledigung endloser Formalitäten wartete. Von der
Pracht des Abbassiden-Kalifats sind allenfalls ein paar Grabkuppeln und ein Stück Festungsmauer übrig.
Der zweifache Mongolensturm - einmal unter dem Dschinghis Khan-Enkel Hülagü, das zweite Mal unter
dem grausamen Welteroberer Tamerlan - hatte die Metropole fast ausgelöscht.
Die Backsteine Mesopotamiens zerbröckeln allzu schnell unter der brütenden Sonnenglut.
Die Denkmäler zu Ehren Saddam Husseins, die seit der Golf-Niederlage in unverminderter
Devotion errichtet werden, fallen heute weniger pompös aus. Aber der starke Mann von Bagdad, der -wenn
er lächelt und sich leutselig zeigt - ein wenig an den Filmschauspieler Clark Gable erinnert, bleibt
allgegenwärtig. Er winkt auf zahllosen Wandgemälden und Plakaten seinen Untertanen mit der typisch
steifen Armbewegung zu. Immer häufiger zeigt er sich in der Tracht des Beduinen oder in der frommen
Verbeugung des Beters. Als Kriegsheld oder gar als Exzentriker mit Tirolerhut läßt er sich kaum noch
feiern. Seine Auftritte in der Ã-ffentlichkeit, die aus Sicherheitsgründen niemals angekündigt werden, sind
selten geworden. Er soll jede Nacht in einer anderen Residenz schlafen. Immerhin sah man ihn - inmitten
einer gesiebten Zahl von Anhängern - bei der Grundsteinlegung einer Moschee, die im Herzen von
Bagdad entsteht und deren gewaltige Ausmaße die stolzen Konturen der Moschee Hassans II. von
Casablanca noch überragen sollen. Der Rais, so wurde mir mehrfach versichert, wende sich mit
fortschreitendem Alter einem frommen Lebensstil zu, er habe seinen Alkoholkonsum, der früher erheblich
gewesen sei, stark reduziert.
Im Fernsehen kann man ihn auch bewundern, wie er nach der UN-Vereinbarung »Ã-l für Nahrung«, die
dem Irak pro Halbjahr einen Petroleumexport im Gegenwert von zwei Milliarden Dollar erlaubt, mit
energischem Ruck den Verschluß der Pipeline von Kirkuk aufdreht. Noch spektakulärer sind seine
sportlichen Darbietungen. Der Diktator - immer noch athletisch gewachsen - stürzt sich an der Spitze
seiner verschüchterten Getreuen in die Fluten des Tigris, erreicht mit kräftigen Schwimmstößen als erster
das Gegenufer und übertrifft mit seiner ungebrochenen physischen Kraft sein Modell Mao Zedong, der zu
Beginn der Kulturrevolution Chinas in den Fluten des Yang Tsekiang gebadet hatte. Irgendwie imponiert
dieser Kraftkerl vom Tigris auch.
Seit dem Desaster von 1991 hat sich sein Charakterbild in der Geschichte allmählich verändert.
Gewiß, selbst in Damaskus, wo Präsident Hafez-el-Assad - unter dem Zwang der Umstände - mit dem
früheren Todfeind von Bagdad wieder eine diplomatische Normalisierung einleitet, den Handel mit
Mesopotamien aktiviert und auf strategische Vorteile bedacht ist, herrscht immer noch keine positive
Meinung vor.
Ein sehr hoher syrischer Beamter hatte mir unverhohlen erzählt, wie der irakische Staatschef bei gastlichen
Empfängen im Kreise seiner Mitarbeiter und Günstlinge unversehens die Pistole zieht und einen
vermeintlichen Gegner abknallt, nur weil ihm dessen Auftreten suspekt, der Blick verschlagen erschien.
Für viele Iraker, die unter dem Boykott der UNO stöhnen, präsentiert er sich als fürchterlicher, aber
unbezwingbarer Fels, der der Koalition von dreißig Feind-Nationen, angeführt durch den Koloß USA,
erfolgreich die Stirn geboten hat. Die Legendenbildung sprießt im Orient noch üppiger als andernorts.
Jedenfalls tritt Saddam nicht nur in den Augen seiner Untertanen, sondern auch in der Einschätzung vieler
Beobachter des arabischen Auslandes neuerdings in der Rolle des »Batal« auf, des Helden, an dem alle
Komplotte der amerikanisch-zionistischen Verschwörung unrühmlich zerschellen.
Die Versuche der CIA-Agenten, den Tyrannen vom Tigris auf die eine oder andere Weise zu
liquidieren, sind nur zum geringsten Teil bekannt geworden. Jeder dieser Anschläge endete mit einer
fürchterlichen Blamage. Dank der amerikanischen Presse - die »New York Herald Tribune« brachte eine
umfangreiche Titel-Story - wurde der Riesen-Flop des US-Geheimdienstes im irakischen Kurdistan
während des Sommers 1996 in vollem Ausmaß publik. Die Bevölkerung von Bagdad ihrerseits hat sich
weit mehr über die konspirativen Eskapaden der Schwiegersöhne des Diktators amüsiert und erregt, die
sich im August 1995 - begleitet von zwei Töchtern Saddams - nach Amman absetzten und den
Amerikanern geheimste Rüstungsdaten lieferten. Im Gespräch bleibt vor allem Hussein Kamil, der als
engster Vertrauensmann des Präsidenten und schlimmster Henker galt. Die öffentliche Verblüffung war
total, als besagter Schwiegersohn, nachdem man ihm in Bagdad Straffreiheit zugesichert hatte, tatsächlich
in die Höhle des Löwen zurückkehrte und dort - angeblich nicht von den zuständigen Staatsorganen,
sondern von Mitgliedern des zutiefst entehrten Familien-Clans - schleunigst umgebracht wurde. Ich habe
gefragt, wie eine solche psychologische Fehlleistung eines intimen Kenners des Regimes überhaupt zu
erklären sei, und erhielt folgende Antwort: Hussein Kamil stammte aus kleinsten, ja erbärmlichen
Verhältnissen. Er hatte durch Skrupellosigkeit und Grausamkeit die höchste Gunst des Serail erworben. In
völliger Überschätzung seiner eigenen Bedeutung für die amerikanischen Spezialdienste hatte er wohl
gehofft, seinen Schwiegervater an der Spitze des Staates ablösen zu können und selbst Präsident zu
werden. Sämtliche irakischen Exil-Politiker jedoch - von den Schiiten bis zu den Kommunisten - wandten
sich mit Abscheu von dieser Verrätergestalt ab. Angeblich hat Hussein Kamil - nun auch von seinen »US-Betreuern«
mit Mißachtung gestraft - sich mit der Bedeutungs- und Mittellosigkeit im Exil nicht abfinden
können. In seiner Verblendung redete er sich ein, sein ehemaliger Wohltäter würde doch noch Gnade
walten lassen. Diesen monumentalen Irrtum hat er mit dem Leben bezahlt.
Damit sind die Gerüchte nicht zu Ende. Als im Dezember 1996 Udai, der älteste Sohn Saddam
Husseins, bei einer abendlichen Vergnügungstour am Steuer seines Turbo-Porsche im Stadtkern von
Bagdad durch ein Attentat schwer verletzt wurde, brachte man diesen Überfall mit dem Drama Hussein
Kamils und einer Familien-Vendetta in Zusammenhang. Der verwöhnte Playboy Udai war sogar seinem
Vater mit seiner Brutalität, seiner manischen Mordlust lästig geworden. Nach mehreren Operationen der
Wirbelsäule tritt der mißratene Sprößling, der seine Teil-Lähmung durch wallende Beduinenkleidung zu
verstecken sucht, wieder im Fernsehen auf, um seine fortschreitende Gesundung zu demonstrieren. Dem
Zuschauer fällt selbst bei diesen Propaganda-Szenen die Vulgarität des Gesichtsausdrucks, das grausame,
erzwungene Lächeln auf.
Bagdad ist in den Prüfungsjahren seiner weltweiten Ächtung wieder eine zutiefst orientalische,
eine durch und durch islamische Stadt geworden. Die vielen ausländischen Handelsvertreter, Ingenieure
und Finanziers - es war nicht immer die Elite des westlichen Unternehmertums - sind verschwunden.
Auch die zahllosen Fremdarbeiter - Süd-Koreaner, Pakistani, Inder, vor allem drei Millionen Ägypter -haben
den Irak fluchtartig nach der Niederlage von 1991 verlassen oder wurden ohne Entgelt davongejagt.
Geschlossen sind auch die anrüchigen Kasinos und Amüsier-Lokale am Ufer des Tigris. Auf dem
Höhepunkt des Gemetzels an der persischen Front floß dort der Alkohol in Strömen, und die
Kriegsgewinnler starrten gierig auf die zierlichen asiatischen Tänzerinnen aus Bangkok oder Manila, die
sich halbnackt auf der Bühne produzierten, ehe sie mit zahlungskräftigen Kunden in ihren Absteigen
verschwanden. Dem Skandal dieses Vergnügungsrummels, der angesichts der fürchterlichen
Verlustzahlen auf dem Schlachtfeld zum Himmel schrie, wurde abrupt ein Ende bereitet. Die durch das
Embargo bedingte Armut hat es allerdings mit sich gebracht, daß heute junge Irakerinnen, oft
Studentinnen, sich als Prostituierte anbieten, um ein bescheidenes Auskommen zu finden.
Die offizielle Entlohnung vom Professor bis zum Hilfsarbeiter - in total entwerteten 250 Dinar-Scheinen
ausgezahlt - bewegt sich zwischen zwei und fünf Dollar pro Monat, falls man den realen Wechselkurs
zugrunde legt. Es handelt sich um ein symbolisches Entgelt, und wie immer bei solchen extremen
wirtschaftlichen Engpässen fragt sich der Außenstehende, wie der normale Sterbliche im Irak überleben
kann. Die Familienbande sind eben noch intakt, und der Orient ist in dieser Hinsicht manchen Kummer
gewöhnt. Der französische Nahost-Experte Eric Rouleau verweist zu Recht darauf, daß noch kein Land
der Dritten Welt durch Wirtschaftsboykott allein in die Knie gezwungen wurde.
Auf dem Gemüsemarkt und im Bazar von Bagdad geht es so lebhaft und lärmend zu wie zu
Zeiten Sindbads des Seefahrers. Das Angebot an Lebensmitteln ist überreich, doch selbst der Preis für
Datteln und Grieß ist für den Durchschnittsverbraucher fast unerschwinglich, ganz zu schweigen vom
Hammelfleisch, das sich nur die Privilegierten leisten können. Viele Verkaufsstände des Suq stehen leer.
Die Textilhändler breiten billige Stoffballen aus China auf ihren Regalen aus.
Am schlimmsten ist es um die Medikamente bestellt, weil fast jedes chemische Produkt - dazu zählen
auch Dünge- und Pflanzenschutzmittel - auf der »Roten Liste« steht. Im Irak herrscht keine akute
Hungersnot, aber das Trinkwasser verfault und Infektionskrankheiten breiten sich aus. Ich sollte im
nördlichen Mossul erleben, wie mein Gastgeber, einer der reichsten Männer der Stadt, schier verzweifelte,
weil er für seinen Vater, der gerade einen schweren Herzanfall erlitten hatte, kein
Blutverdünnungsprodukt, ja nicht einmal Valium auftreiben konnte. Ähnlich wie im post-kommunistischen
Rußland sind im Irak vor allem die Angehörigen des Kleinbürgertums zu bemitleiden.
Mit den kümmerlichen Resten ihres Besitzes stehen sie als Trödler am Straßenrand und warten
schicksalsergeben auf einen Interessenten.
Vergeblich habe ich im ganzen Land nach Schmähschriften gegen Saddam Hussein Ausschau
gehalten. Daran erkennt man die Omnipräsenz der diversen Überwachungsdienste - es sind insgesamt
sechzehn - die fast nirgendwo sichtbar in Erscheinung treten, aber die Gewähr dafür bieten, daß jeder
aktive Oppositionelle unverzüglich am Galgen hängt. Der Staatschef soll gegenüber den Angehörigen
seines Clans und seiner Sippe nach den letzten Enttäuschungen wachsenden Argwohn hegen und sich
wieder auf die verschworene Gemeinschaft der alten Baath-Gefährten verlassen. Die akute materielle
Bedrängnis seines Volkes hindert ihn nicht, großartige Bauprojekte zu lancieren.
Der neue Präsidentenpalast übertrifft an Pracht und Ausdehnung alle bisherigen Staatsschlösser.
Eine große Ausstellungshalle ist in Auftrag gegeben. Der einst viel geschmähten Dynastie der
Haschemiten, die hier zu Zeiten des britischen Mandats auf einen wackeligen Thron gehoben wurde, ist
nachträglich - im Zeichen der nationalen Versöhnung - ein ansehnliches Mausoleum errichtet worden. An
die Toten des ersten Golfkrieges gemahnt eine geborstene Kuppel mit grüner Kachelverkleidung. Sie
ersetzt die zahlreichen schwarzen Trauertücher, die im Sommer 1982 an so vielen Häusern aushängen und
auf denen geschrieben stand: »El schuhada akbar minna dschami'an« - »die Märtyrer« - gemeint waren
die Gefallenen - »sind größer als wir alle zusammen.«
Der Irak befindet sich in einem eigenartigen Schwebezustand. Da werden mir im engsten
Gassengetümmel jene Verstecke gezeigt, wo - während des zweiten Golfkrieges - die Sprengköpfe der
Scud-B-Raketen tagsüber in menschenwimmelnder Umgebung gelagert wurden. Die Abschußrampen
waren in der Wüste verscharrt. Jedes Kind in Bagdad wußte um diese hochexplosive Präsenz, aber die
CIA hat davon nie erfahren. Was den Amerikanern, die mit allen Mitteln der Elektronik und des High-Tech
ausgestattet sind, schmerzlich fehlt, ist die sogenannte »human intelligence«, die unersetzbare
Agententätigkeit vor Ort. Trotz aller Stimmungsmache gegen die USA, trotz der astronomischen
Reparationsforderungen, die von der gefügigen UNO eingeklagt werden, stößt der westliche Ausländer auf
keinerlei Feindseligkeit. Die Freundlichkeit der Menschen ist entwaffnend und fast beschämend.
Insgeheim - bei allen Haßtiraden gegen die USA - bewundern ja die Orientalen diese verfluchten
Amerikaner. Viele junge Leute ahmen den Lebensstil nach, soweit die Mittel dazu reichen, und so
mancher träumt davon, eines Tages in »God's own country« auswandern zu können. Deshalb würde ein
abrupter Kurswechsel Washingtons, ein Verzicht auf die kleinliche, die bösartige Diskriminierung und
Auspowerung eines ganzen Volkes vermutlich mit großer Erleichterung, ja möglicherweise mit
Versöhnungsangeboten quittiert werden. Das »big business« in den USA käme sehr schnell auf seine
Kosten. Die Europäer, insbesondere die Deutschen, könnten ganz plötzlich mit ihrer pedantischen
Vorschriftserfüllung, ihrer außenpolitischen Zaghaftigkeit wie überraschte Tölpel dastehen.
Diese etwas heruntergekommene Millionen-Stadt am Tigris hat ihren geheimen Charme. Die
Bessergestellten treffen sich abends in zerfallenen Restaurants am großen Strom. Da geht es lärmend und
nicht sonderlich hygienisch zu. An wackligen Tischen sitzen die Männer in der weißen Dischdascha,
schmauchen ihre Wasserpfeifen, plaudern, spielen Trik-Trak und warten geduldig auf die Zubereitung der
Fische, die ihnen der schweißtriefende Wirt eben noch lebend in einem Bassin zur Auswahl gezeigt hat.
Diskret werden Bier und Whisky serviert. Da stört es wenig, daß die Katzen sich um die Fischköpfe
streiten und Scharen von Ratten die Böschung des Stroms erklettern, um sich erwartungsvoll neben die
Gäste zu ducken.
*
Am Nachmittag habe ich mich nach Ktesiphon fahren lassen. Die Besichtigung der antiken Banketthalle,
das größte Rundgewölbe, das je von Menschenhand - dazu noch aus Lehmziegeln - gebaut wurde, lohnt
den Ausflug zur ehemaligen Hauptstadt des Parther- und Sassaniden-Reiches. Dieses Symbol persischen
Widerstandes gegen die römische Allmacht ist nur vierzig Kilometer südlich von Bagdad gelegen. Meine
Aufmerksamkeit gilt jedoch vorrangig einem anderen überdimensionalen Projekt der jüngsten
Vergangenheit. Etwa auf halber Strecke ist ein riesiges, verwahrlostes Areal durch Stacheldrahtverhaue,
Wachtürme und andere Schikanen abgeschirmt. Dahinter türmen sich formlose Lehmhaufen und ein paar
verlassene Baracken.
An dieser Stelle hatte sich die Nuklear-Aufbereitungsanlage »Ozirak« befunden. Hier hatte
Saddam Hussein mit Hilfe französischer Experten den Durchbruch zur Atom-Rüstung forcieren wollen.
Die Laboratorien und Werkstätten waren im zentralen Krater einer künstlich aufgeschütteten Erd-Pyramide
pharaonischen Ausmaßes verborgen und schienen unverwundbar. Dennoch ist es der
israelischen Luftwaffe im Sommer 1981 gelungen, diese unheimliche Waffenschmiede in einem perfekt
inszenierten Überraschungsangriff lahmzulegen. Die vernichtende Bombenlast wurde von den
Kampfmaschinen mit dem David-Stern in elliptischer Bahn wie beim Basketball-Wurf oder beim
Granatwerfer-Abschuß ins Ziel gesetzt. Seitdem ist das Terrain geräumt, der Witterungserosion
preisgegeben. Der künstliche Berg brach in sich zusammen. Im Sommer 1982, bei meiner letzten
Besichtigung, hatte Ozirak trotz der Volltreffer noch einen ganz anderen Anblick geboten. Auf der Höhe
der Sandburg zeichnete sich eine Vielzahl von Flakbatterien und Raketenstellungen ab. Der Himmel
wurde durch knallrote Fesselballons verstellt, als solle die Arbeit bei nächster Gelegenheit
wiederaufgenommen werden.
Die Nuklear-Proliferation bleibt das alles beherrschende Gespräch in den Militärstäben dieser
Region. Jedermann ist überzeugt, daß der irakische Rais seine nuklearen Ambitionen - trotz Niederlage
und Sanktionen - nicht aufgesteckt hat. In der Zwischenzeit richten sich die Blicke vornehmlich auf die
Islamische Republik Iran, über deren atomare Rüstungsvorhaben angeblich präzise Berichte deutscher
Kundschafter vorliegen. Doch es wäre nicht das erste Mal, daß den Mullahs und Pasdaran von Teheran
gezielte Irreführungen gelängen.
Der lukrative Handel mit angereichertem Plutonium oder miniaturisierten Sprengköpfen aus russischen
oder kasachischen Arsenalen kann jederzeit für Überraschungen sorgen.
Im Anschluß an den Abstecher nach Ktesiphon haben mir meine beiden Gönner in Bagdad, der
deutsch-irakische Arzt Saad Darwish und der Rektor der alt-ehrwürdigen Mustansiriyeh-Universität,
Riadel-Dabagh, eine abendliche Rundfahrt durch die Stadt Harun-al-Raschids vorgeschlagen. Gemeinsam
mit dem deutschen Orientalisten Walter Sommerfeld, der sich um die Entzifferung der babylonischen
Keilschrift verdient macht, fördern sie unverdrossen eine »Deutsch-Irakische Gesellschaft« und sind
bemüht, nicht alle Fäden Mesopotamiens zur Bundesrepublik abreißen zu lassen. »Die größte Gefahr
besteht darin, daß die jungen Akademiker aufgrund der drakonischen Sanktionsmaßnahmen von jedem
Kontakt mit dem westlichen Ausland abgeschnitten werden und daß sich eine dauerhafte psychologische
Entfremdung einstellte, hatte sich Walter Sommerfeld vor meinem Aufbruch nach Bagdad beklagt.
Während dieses Irak-Aufenthalts werde ich mir durchaus bewußt, daß ich ein bevorzugtes
»Treatment« genieße. Das Informationsministerium hat mir sogar die Erstattung meiner persönlichen
Ausgaben angeboten, was ich natürlich strikt ablehnte. Dank meiner beiden Betreuer habe ich binnen
kürzester Frist mit fünf irakischen Ministern - darunter Tariq Aziz - lange Gespräche führen können. Es
wurde mir absolute Reisefreiheit gewährt, und niemand hat versucht, mich mit plumpen Propaganda-Parolen
zu belästigen. Eine solche Liberalität ist um so beachtlicher, als die Bagdader Behörden über
meine bisherige Orient-Berichterstattung offenbar gut informiert sind. Sie wissen, daß ich im ersten
Golfkrieg engen Kontakt zur militärischen Führung Irans unterhielt und im Februar 1979 mit Ayatollah
Khomeini im gleichen Flugzeug von Paris nach Teheran gekommen war. Auch meine Kommentare zum
Unternehmen »Wüstensturm« sind in Bagdad registriert worden. Mit Kritik an Saddam Hussein hatte ich
nie gespart. Doch so klug ist man immerhin in der Umgebung des Rais, daß man sich von den nuancierten
Aussagen eines unvoreingenommenen, erfahrenen Beobachters und deren Wirkung auf die deutsche
Ã-ffentlichkeit mehr verspricht als von schön geschminkten Reportagen irgendwelcher »newcomer« in
dieser Region.
Der Abend hat sich über das Zweistromland gesenkt. Durch ein unvorstellbares Menschengewühl
bahnen wir uns den Weg zur schiitischen Moschee von Qadhimain jenseits des Tigris, wo die beiden
Imame Musa-eI-Qadhim und Muhammad-el-Jawad unter Gold und Silber bestattet sind. Saad Darwish
und Riad-el-Dabagh verweisen mich auf die Zunahme der religiösen Inbrunst, die in allen
Bevölkerungsschichten, Sunniten wie Schiiten, bei den Alten und plötzlich auch bei den Jungen
festzustellen ist. Es ist wohl eine Folge der materiellen Not, aber auch der ideologischen Ratlosigkeit.
Arabischer Nationalismus und Sozialismus, die die Baath-Partei - von dem syrischen Christen Michel
Aflaq gegründet - einst prägten, haben eben an Glaubwürdigkeit und Attraktivität verloren. Bleibt der
Islam als geistliche und moralische Zuflucht, als »feste Burg« in einer schwankenden Welt. Hinzu kommt
ein schwindelerregender Bevölkerungszuwachs. »Als wir zur Schule gingen«, berichtet Saad Darwish,
habe er gelernt, daß es im Irak fünf Millionen Einwohner gebe. Im Sommer 1982 wurde mir die Zahl von
dreizehn Millionen Irakern genannt, und heute schätzt die UNO die Bevölkerung Mesopotamiens auf
dreiundzwanzig Millionen.
Mit dem Überschreiten der Schwelle zur Moschee Qadhimain hat mich die Zauberwelt des
schiitischen Totenkultes aufgenommen. Das Gebäude ist hell angestrahlt, leuchtet mit seiner riesigen
Goldkuppel wie ein Juwel in der Dunkelheit unter dem Halbmond. Die Menge der Frommen umkreist
dichtgedrängt die Sarkophage ihrer heiligen Märtyrer. Sie klammern sich segenheischend an das schwere
Silbergitter, sinken in schluchzender Trauer vor den massiven Goldtafeln der Grabkammer nieder. Die
zahllosen Spiegelfacetten, die mit leuchtenden Kaskaden die Illusion von Jenseitigkeit vermitteln, würden
an anderer Stelle kitschig wirken. Hier schimmern sie wie ein Stück Paradies. Es ist stets das gleiche,
magische Dekorationsmuster, das die »Partei Alis« zur Ehrung ihrer Imame aufbietet. Ähnlich glitzern die
Grabeshöhlen von Meschhed und Qom, von Kerbela, Nedschef und Samara, wo der Zwölfte der
Auserwählten, »Mehdi« genannt, sich seinen sunnitischen Verfolgern durch die Flucht in die
»Verborgenheit« entzog. Aus dieser Okkultation, so lautet der Glaube, wird der Zwölfte Imam, der »Herr
der Zeiten« eines Tages wiederkehren, um das Reich Gottes und der Gerechtigkeit zu errichten. Der
Messianismus ist nicht auf das Judentum beschränkt. Warum spüre ich an diesem Abend die Faszination
der schiitischen Klage- und Trauergemeinde besonders intensiv? Warum entsinne ich mich plötzlich in
aller Deutlichkeit der Hafenstadt Khorramshahr am Schatt-el-Arab, die von den Irakern nach kurzfristiger
Eroberung plattgewalzt worden war. »Ya Allah« - stand dort auf einer Banderole, die den Mihrab einer
zerschossenen Moschee verdeckte: »Oh Allah, erhalte uns Ruhollah Khomeini bis zur Revolution des
Imam Mehdi - hatta el thaura el Imam el Mehdi!« Nicht als Erlöser, sondern als Revolutionär wird der
Zwölfte Imam seine Parusie vollziehen.
Saad Darwish schätzt den schiitischen Bevölkerungsanteil von Bagdad auf fünfzig Prozent. Er
zeigt mir auch das Mausoleum des Scheikh Abu Hanifa, des Gründers der weit verbreiteten hanefitischen
Rechtsschule oder »Madhhab« der Sunniten. Doch diese Gedenkstätte wird kaum besucht. Ich frage den
Rektor der Mustansiriyeh-Universität nach dem mittelalterlichen Mystiker El Halladsch, der zur Zeit der
Abbassiden gekreuzigt und in Stücke gerissen wurde, weil er mit blasphemischer Arroganz behauptet
hatte: »Ana el haq - ich bin die Wahrheit«. Riad-el-Dabagh äußert seine Verwunderung. »Ich weiß, daß
dieser Exzentriker im Westen, vor allem bei den deutschen Orientalisten, eine erstaunliche Bewunderung
genießt, fast zur Kultfigur der deutschen Sufi geworden ist. Hier in Bagdad spielt er keine Rolle, hat sie
auch nie gespielt. Das Volk hat sogar seinen Namen vergessene Ähnlich verhalte es sich ja mit anderen
muslimischen Mystikern, Gründern von Derwisch-Orden oder »Tariqat«, die im Abendland aufgrund
ihrer Beteuerungen der kosmischen Liebe, der »Mahabba«, in pantheistisch anmutender Abweichung
vom Koran als Repräsentanten eines alles verzeihenden, alles erduldenden »Herz-Jesu-Islam« stilisiert
würden. Dabei hatten die Bedeutendsten unter ihnen doch nur die »Ruhe in Gott« gesucht, um dann »auf
dem Wege Allahs« um so wackerer streiten zu können. »Nur Narren können den Quietismus dieser
islamischen Vordenker mit Pazifismus gleichsetzen«, sagt der Rektor. »Im Gegenteil, die Inspiratoren
dieser religiösen Männerbünde - von den schiitischen Safawiden, den sunnitischen Naqschbandi bis zu
den Senussi der Neuzeit - haben unvermeidlich zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufgerufene
Was konnte die strikte, auf das ungeschaffene Wort Allahs festgelegte Deutung des Koran durch die
Ulama mit der Aussage eines Außenseiters anfangen, der sich anmaßte, die göttliche Wahrheit zu
verkörpern. »Quid est veritas? - Was ist die Wahrheit?« hatte schon der ratlose Pro-Consul Pontius Pilatus
einen angeblichen »Rex ludaeorum« gefragt, der von sich selbst sagte: »Ich bin die Wahrheit und das
Leben.«
Mein wirkliches Eindringen in die geistlichen Abgründe des Orients findet erst am folgenden Tag
statt. Von weit her leuchtet das auf Isfahan verweisende, farbenprächtige Blumenornament einer
wunderschönen Kuppel über dem alten Stadtkern von Bagdad. Sie schwebt über dem Wallfahrtsort des
Scheikh Abd-eI-Qadir-el-Keilani, der im zwölften Jahrhundert am Tigris seine Jünger, seine »Muriden«,
um sich sammelte. Dröhnende Paukenschläge hallen durch die Nacht.
Weißgekleidete, überwiegend männliche Beter strömen von allen Seiten - zu Fuß, in Bussen, in Taxis -zum
Gedächtnisritual. Der Geburtstag des Gründers der Qadiriya-Bruderschaft, eine fast
weltumspannende Tariqat des sunnitischen Islam, wird wie ein Volksfest und - je geheimnisvoller die
Dämmerung sich senkt - als exotisches Mysterienspiel gefeiert. Dieses Mal haben zahlreiche Soldaten der
Republikanischen Garde die Sicherung übernommen. Sie tragen Tarnuniform und ein rotes Barett. Die
Kalaschnikow halten sie schußbereit auf der Hüfte. Gemeinsam mit dem Arzt Darwish dränge ich mich
ins Gewühl, und niemand scheint Notiz von dem Ungläubigen zu nehmen. Es herrscht eine verwirrende,
kollektive Erregung. Mit einem Schlag fühle ich mich in eine irreale Welt versetzt, in eine andere Epoche
der Menschheit. Ekstatischer Rausch bemächtigt sich der jungen bärtigen Männer in schneeweißer
Dischdascha. Viele tragen einen Fez mit Stickereien auf dem Kopf. Auch Kurden - an ihrer Tracht zu
erkennen - sind zahlreich vertreten.
Gleich nach ihrer Ankunft bilden die Beter einen Doppelkreis, dessen Tänzer sich in
entgegengesetzter Richtung bewegen. Die Pauken geben den Rhythmus dieses zunehmend schnellen
Reigens an. Über den Köpfen schwenken die Muriden grüne Fahnen, und aus ihren Kehlen dringt die
unaufhörlich wiederholte Beteuerung: »La illaha illa Allah - es gibt keinen Gott außer Gott!« Diese Übung
des »Dhikr« habe ich in fast identischer Form in ganz anderen Weltgegenden - auch in Schwarzafrika -bereits
erlebt. Doch die eindrucksvollste Begegnung hat vor genau einem Jahr - der Krieg gegen die
Russen war noch im Gange - in Tschetschenien stattgefunden. In den Dörfern rund um Grosny waren die
kaukasischen Krieger zum selben Ritual, zum Klang des gleichen Glaubensbekenntnisses und dröhnender
Trommeln zusammengekommen, hatten den wirbelnden Ring zu Ehren Allahs geschlossen und die grüne
Fahne des Propheten hochgehalten, die zusätzlich mit dem Totem-Tier der Tschetschenen, dem grauen
Wolf, geschmückt war. In der westlichen Berichterstattung ist kaum einem Reporter aufgefallen, daß der
Widerstand der Kaukasier gegen Rußland - wie schon zu Zeiten des Imam Schamil - sich mehr noch aus
dem Geist des Koran als aus dem nationalen Instinkt dieser Bergvölker nährte. Die Geheimbünde, die
Tariqat, die geistlichen Derwisch-Orden, hatten dem Islam erlaubt, die siebzigjährige von den
Kommunisten verordnete Gottlosigkeit zu überleben und nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums
plötzlich wieder präsent zu sein. In der Türkei war die säkulare Islam-Feindlichkeit des Kemalismus auf
den gleichen unterirdischen Widerstand gestoßen. Auch dort fanden die Muriden unmittelbar nach dem
Tod Atatürks zur Religiosität der Väter zurück. Die Tschetschenen gehören mehrheitlich der »Qadiriya«
an, so hatten sie mir versichert. Sie waren Gefolgsleute des Scheikh Abd-eI-Qadir-el-Keilani aus Bagdad,
vor dessen Grab ich nun stehe.
Im Unterschied zu den relativ nüchternen Gebetsübungen im Kaukasus ist hier gleich von Anfang
an eine exaltierte Stimmung aufgekommen. Neben mir geraten mehrere junge Männer in Trance, winden
sich wie Epileptiker, verfallen in krampfartige Zuckungen und werden von ihren Gefährten festgehalten.
»Je weiter die Nacht fortschreitet, desto intensiver wird sich dieser Zustand der Verzückung der feiernden
Qadiri bemächtigen, kommentiert Saad Darwish. Er bedauert, daß er mich aus Zeitgründen nicht zu einer
sakralen Zusammenkunft der »Rifaiya«-Sekte mitnehmen kann. Es fällt schwer, den Rifai, die sich wie
hinduistische Fakire aufführen, den Titel von Muriden, von »Gottsuchern«, zuzuerkennen. Bei den
Gauklern der Rifaiya-Gemeinschaft wird die pseudo-religiöse Halluzination so weit getrieben, daß
frömmelnde Exhibitionisten sich - nach Erreichung des Trance-Zustandes - Messer in den Schädel
rammen, sich von Säbeln durchbohren lassen und Neonröhren schlucken. Diese Beleuchtungskörper, die
angeblich eine besondere Anziehungskraft auf das Marterbedürfnis der Sektierer ausüben, werden wie
Leckerbissen zerkaut.
Die geschilderten Extravaganzen sind durch Photos, Filmaufnahmen und auch durch das Zeugnis des
nüchternen Professors Sommerfeld belegt, der - wie er mir erzählte - einen dieser Tollwütigen an der
Schulter festhielt, während eine stählerne Stange in seinen Brustkorb eindrang.
Die deutschen Sufi-Bewunderer sind sich wohl nicht bewußt, zu welcher Scharlatanerie die
mystische »Weltliebe« ihrer hehren islamischen Vorbilder bei den heutigen Derwischen allzuoft
verkommen ist.
Selbst das touristisch ausgerichtete Spektakel der tanzenden Derwische von Konya hat nur noch wenig
mit der tiefgründigen Meditation des Meisters Dschallal-el-Din-el-Rumi zu tun. Wer ist schon zugegen,
wenn die Drehübungen dieser »Mönche« sich - fern von fremden Blicken - zum unerträglichen Delirium
steigern? Die nüchternen »Fundamentalisten« wollen mit diesen obskurantistischen
Degenerationserscheinungen des Glaubens aufräumen und zur koranischen Reinheit zurückführen. Da ist
das individuelle »Ruhen in Gott« nur im engen Rahmen der anerkannten Offenbarung erlaubt. Der
»Idschtihad« wird auf die Interpretation des Koran und des »Hadith« begrenzt. »Alles steht im Koran«, so
lautet die Losung, und das Treiben der Sufi gerät - wie zu Zeiten des Ibn Taimiya - in den Verdacht der
sträflichen Glaubensabweichung.
Vermutlich ist diese rigorose Verwertung des »Tariqa-Wesens« durch die Fundamentalisten und
Integristen ein entscheidender Grund für die erstaunliche Toleranz, die Saddam Hussein und so manch
anderes Staatsoberhaupt des Dar-ul-Islam - ich denke dabei insbesondere an Islam Karimow in
Usbekistan - den Aktivitäten der Derwisch-Bünde entgegenbringen. Mit Hilfe dieser volksverbundenen
Wirrköpfe möchte der Rais von Bagdad das Hochkommen jener unerbittlichen Rigoristen verhindern oder
zumindest hinauszögern, in deren Idealstaat kein Platz mehr wäre für sein säkulares Baath-Regime und für
die religionsfremde Willkür seiner Machtausübung.
Am Rande vermerkt sei die Tatsache, daß israelische Propagandisten, wenn sie in gezielten
Filmproduktionen die religiösen Eiferer von Hamas diskreditieren wollen, mit Vorliebe auf die
Gruselbilder rasender »Pseudo-Fakire« zurückgreifen. Dabei unterstellen sie, daß solche Exzesse bei den
koranischen Erneuerungsbewegungen gang und gäbe seien. Das Gegenteil ist der Fall. Für den
Spezialisten eröffnet sich hier ein interessantes Beobachtungsfeld: Wie wird es den islamischen Puristen,
den Anhängern der »Salafiya«, die in den streng koranischen Bewegungen Palästinas, Algeriens,
Ägyptens, Afghanistans, Palästinas und der Türkei den Ton angeben, am Ende gelingen, mit den
altehrwürdigen Erscheinungsformen des Volks-Islam - ich denke hierbei nicht an dessen groteske
Auswüchse - fertig zu werden? Wie wollen sie die weitverzweigten Männerbünde der Tariqat integrieren
und auf ihre religiöse Linie bringen? Dieses Problem wird sich zumal in den jungen islamischen
Republiken der einstigen Sowjetunion stellen.
Mit dem Namen des hochverehrten Scheikh Abd-el-Qadir-el-Keilani verbindet sich die
Erinnerung an eine kuriose Episode des Zweiten Weltkrieges. Ein direkter Nachfahre dieses heiligen
Mannes, Raschid-el-Keilani, hatte sich als arabischer Nationalist und Gegner der britischen Mandatsmacht
auf die Seite Groß-Deutschlands geschlagen. Er war der ideologische Inspirator jener Militärrevolte, die im
Frühjahr 1941 vorübergehend die Macht in Bagdad an sich riß und ein Bündnis mit den Achsenmächten
einging. Diese antibritische Erhebung fügte sich in den paranoid anmutenden Eroberungsplan Hitlers ein,
der über Ägypten und die Levante einerseits, den Kaukasus andererseits seine Armeen so weit nach Asien
vertreiben wollte, bis sie sich in Indien mit den japanischen Soldaten des Tenno treffen würden. In einer
ersten Phase ließ sich dieses grandiose Projekt sogar recht günstig an: Im französischen Mandatsgebiet
Syrien und Libanon behauptete sich der Vichy und Pétain ergebene General Dentz gegen eine Minderheit
von Gaullisten. In Ägypten stand Erwin Rommel mit seinem Afrikakorps bei El Alamein vor den Toren
Kairos. Im Kaukasus hatten deutsche Gebirgsjäger die Reichskriegsflagge auf dem Elbrus gehißt und
drängten zum Kaspischen Meer.
Doch der britische Löwe kannte sich aus im Wüstensand Arabiens. Einige Regimenter des
Empire, unterstützt durch einen Trupp »Freier Franzosen« und israelische Haganah-Kämpfer - darunter
Moshe Dayan, der dabei ein Auge verlor -, zwangen General Dentz in Damaskus zur Kapitulation. Gegen
den Iraker Raschid-el-Keilani wurde die »Arabische Legion« des Emirats Transjordanien unter dem
Befehl des Engländers Glubb Pascha in Bewegung gesetzt. Diese vorzüglich gedrillte Beduinen-Einheit
setzte dem Treiben der arabischen Nationalisten am Tigris ein jähes Ende und hob dort die pro-britische
Dynastie der Haschemiten wieder in den Sattel. Vor den »Glubb-Girls«, wie man sie ihrer malerischen
Tracht wegen nannte, mußte Raschid-el-Keilani über die Türkei nach Berlin flüchten. Nach dem Krieg ist
er in seine Heimat zurückgekehrt und als angesehener Patriot gestorben.
US-Protektorat Kuweit
Kuweit, im Februar 1997
Die irakischen Behörden konnten aus meinem Paß ersehen, daß ich im Februar 1997 das Scheikhtum
Kuweit aufgesucht hatte. Aber niemand hat mir eine Frage gestellt nach den aktuellen Zuständen in
diesem Nachbarland, das vorübergehend als neunzehnte Provinz des Irak annektiert worden war.
Niemand schien sich für die artifizielle Staatskonstruktion zu interessieren, die eine so disproportionierte
internationale Bedeutung gewonnen hatte.
Aus dieser jüngsten Erfahrung fällt mein Urteil über Kuweit noch negativer aus, als es vor dem
Golfkrieg ohnehin schon war. Für die Erhaltung des Mini-Gebildes am nördlichen Ende des Persischen
Meerbusens, das von Anfang an auf Lug und Trug gebaut war, ist die halbe Welt in die Bresche
gesprungen. Gewiß, der irakische Überfall auf das Scheikhtum hatte dem Westen kaum Alternativen
gelassen. Doch an dem gigantischen Einsatz der Operation »Desert Storm« gemessen, war das Ergebnis
zutiefst deprimierend. Alles erschien nunmehr doppelt hohl und gekünstelt. Das prätentiöse Gehabe der
einheimischen Ã-l-Barone, die sich als Beduinen kostümierten wie auf einem Faschingsball, kontrastierte
mit der Unterwürfigkeit ihrer Fronarbeiter aus Indien und Südostasien, die drei Viertel der Bevölkerung
ausmachten. Als Wüsten-Nomaden waren die Vorfahren des heutigen Herrscherhauses El Sabah einst aus
der Einöde des Nedschd gekommen. Damals war die »Piratenküste« nur wegen ihrer barbarischen
Rückständigkeit und ihrer Perlenfischerei bekannt. Diese Eroberer aus dem Nichts waren im
Handumdrehen zu Marionetten Großbritanniens, dann zu Handlangern der USA geworden. Ihren
unermeßlichen Petroleum-Reichtum hätten die Kuweiti ohne die Ankunft amerikanischer Prospektoren
überhaupt nicht wahrgenommen. Jetzt saßen diese Usurpatoren in ihren vergoldeten Prunksesseln - Stil-Epoche
»Louis XV.« - wie fette, kastrierte Kater auf ihren riesigen Vermögen.
Ohne die wallende Dischdascha, die goldgerandete Abayah und das weiße, feierliche Kopftuch würde
man sie auf den ersten Blick als Hinterhof-Bazari entlarven.
Es lohnt sich kaum, die seltenen Gespräche wiederzugeben, die ich mit diesen opportunistischen
Nutznießern des »Schwarzen Goldes« führen konnte. »Die USA sind allmächtige, tönte es da, »Präsident
Clinton wird den Friedensprozeß in Palästina schon erzwingen. Die US Navy beherrscht den Golf, und
dagegen hat niemand eine Chance.« Die Kontakte zu Kaufleuten aus der schiitischen Minderheit - sie
macht ungefähr dreißig Prozent der Staatsangehörigen mit kuweitischem Paß aus - waren etwas
aufschlußreicher. »Ob Saddam Hussein stürzt oder nicht«, wurde mir da anvertraut, »die Baath-Partei
wird in Bagdad an der Macht bleiben und mit den gleichen Methoden weiterregieren. « - »Die Amerikaner
werden das Embargo gegen den Irak sofort aufheben, wenn ihnen Saddam Hussein die volle Nutzung
seiner Energie-Vorkommen zusichert, ihnen den größten Anteil am Kuchen läßt.« Eine solche Perspektive
beunruhigte den Herrscher Salehel-Jaber-el-Sabah und dessen Familien-Clan, denn das Zweistromland
besitzt mit 112 Milliarden Barrel Rohöl die bislang zweitgrößten Petroleum-Reserven der Welt, und in den
vergangenen Jahren hatten die Feinde Bagdads das irakische OPEC-Kontingent, das durch das Embargo
blockiert war, lukrativ untereinander aufgeteilt. Am Rande erfuhr ich, daß - bis zur UN-Resolution 986, die
den Rahmen für das Abkommen »Oil for food« festlegte - ausschließlich das Königreich Jordanien über
eine von den Vereinten Nationen genehmigte Importquote irakischen Ã-ls verfügte und diese Lizenz
benutzte, Schwarzmarkt-Lieferungen von täglich 20000 Barrel preisgünstig an Israel zu verhökern.
Ich neige nicht zu tugendhafter Entrüstung. Dafür habe ich in allzu vielen Ländern allzu
Schändliches beobachtet und erlebt. Aber der Gedanke, daß das Scheikhtum Kuweit nunmehr die »Neue
Ordnung« für den Mittleren Osten verkörpern, gewissermaßen als Leuchtturm der Pax Americana
herhalten soll, wirkt unerträglich. Für diese Schmarotzer amerikanischer Macht lohnte es sich wahrhaftig
nicht, die Knochen eines einzigen pommerschen, kalifornischen oder bretonischen Grenadiers zu
riskieren. Für die Streitkräfte Kuweits, für Armee und Nationalgarde, waren - wie in den anderen Emiraten
der Piratenküste - ausländische Söldner, überwiegend Pakistani, angeworben worden. Der Kampfwert der
Truppe ist extrem niedrig, obwohl sie von der US-Rüstungsindustrie mit modernstem und teuerstem
Kriegsmaterial überschüttet wird. Wehe, wenn der kleine Schützling ausnahmsweise ein paar Haubitzen
bei der Volksrepublik China bestellt mit dem Hinweis, Peking habe sich während des Golfkrieges im
Weltsicherheitsrat doch sehr kooperativ verhalten. Der Zorn des US Congress pocht dann unerbittlich an
die Pforten der El Sabah-Paläste.
Es wäre müßig, die scheindemokratische Fassade des Emirats auf irgendeinen Wirklichkeitswert
abzuklopfen. Gelegentlich wird in den bestechlichen Presse-Erzeugnissen Kuweits über die Einführung
der koranischen Rechtsprechung diskutiert. In Wahrheit geben die Stammesstrukturen, die Clan- und
Familienbande weiterhin den Ausschlag. Amerikanische Waffen werden in den Wüstendepots in Hülle
und Fülle gelagert, um den Marines und Luftlandetruppen eine sofortige Interventions-Entfaltung im
nördlichen und östlichen Grenzstreifen zu erlauben.
Schon am zweiten Tag habe ich ein komfortables Auto gemietet. In Begleitung eines
dunkelhäutigen Tamilen-Chauffeurs aus Sri-Lanka habe ich das Schlachtfeld von 1991, den verlustreichen
Rückzugsweg der irakischen Divisionen besichtigt. Die gläsernen Hochhäuser, die künstlichen
Grünanlagen und Shopping Malls von Kuweit-City lagen bald hinter uns. Die wahre Landschaft nahm uns
auf, eine schmutziggelbe Wüste. Hier und dort wuchs graues Gestrüpp, dann drängten sich große Herden
schwarzer Kamele an das kümmerliche Futter.
Noch nie war mir die saurierähnliche Form des Dromedar-Kopfes so deutlich aufgefallen. Vor einem
Kraftwerk mit vier gigantischen Kühltürmen kauerten Beduinenzelte in der Ã-de. Daneben parkten
fahrbare Wasserbehälter, ohne die die Nomaden von heute nicht mehr auskommen. Rundum waren
Plastiktüten und leere Konservenbüchsen verstreut. Das perfektionierte Sicherheitssystem eines
umfangreichen Compounds signalisierte die Präsenz einer amerikanischen Armee-Einheit. Darüber
schwebte zu Beobachtungszwecken ein knallroter Fesselballon.
Je weiter wir uns nach Norden bewegten, desto einsamer und düsterer dehnte sich die Sandfläche.
Es war ein nebliger Tag. Am Horizont ballten sich Wolken wie Atompilze. Der sympathische, höfliche
Tamile machte mich auf eine langgestreckte Hügelkette, die »Mutla-Ridge«, aufmerksam, der wir
nunmehr folgten. »Hier lagen nach dem Krieg Tausende irakischer Fahrzeuge und Panzer im Sand. An
dieser Stelle haben die Iraker auf ihrer heillosen Flucht die schwersten Verluste erlitten.« Das zerstörte
Material ist abgeräumt worden. Keinerlei Waffenschrott war mehr zu entdecken. Nur ein paar
Stacheldrahtverhaue mit roten Dreieck-Schildern warnten vor Minen.
Zur Rechten dehnte sich die zementgraue Wassermasse des Golfs. Ich hatte als Reiseziel die Insel
Bubiyan angegeben. Eine weitgeschwungene, kilometerlange Brücke setzte zu diesem flachen Eiland über.
Der Boden dort soll mit Petroleum getränkt sein. Der Territorialstreit zwischen Bagdad und Kuweit ist in
diesem Winkel noch keineswegs beigelegt. Die Brücke war an zwei Stellen gesprengt. Am Ufer verfaulte
das Wrack eines muschelverkrusteten Fischerbootes. Eine arabische Inschrift untersagte die Annäherung.
Ein paar zerbombte Betonhütten hatten Squatter angezogen: Beduinen, die sich an einem fahrbaren
Verkaufsstand mit billigen Gebrauchswaren eindeckten, und Fremdarbeiter aus der nahen Industriezone.
Letztere stammten mehrheitlich aus Bangladesch. Mein Chauffeur unterhielt sich kurz mit ihnen. »Wir
haben uns auf Hindi verständigte, beantwortete er meine Frage.
Wir bogen nach Norden ab, in Richtung irakische Grenze. Die Beklemmung unter dem schweflig
gelben Himmel nahm noch zu. Ein kalter Wind war aufgekommen. Die Asphalt-Piste nach Umm-el-Qasr,
dem irakischen Hafen am Eingang des Schatt-el-Arab, wurde nachlässig von Blauhelmen der
Waffenstillstands-Organisation UNIKOM überwacht. »United Nations Kuwait Observation Mission«,
heißt das im Klartext. Die Soldaten stammten aus aller Herren Länder. Für die Staaten der Dritten Welt ist
die Truppen-Entsendung im Dienst der Vereinten Nationen ein einträgliches Geschäft. Der weitaus
größere Teil des stattlichen Wehrsoldes wird von den Heimatbehörden einbehalten, aber für die
Muschkoten aus diesen meist bettelarmen Gegenden lohnt sich der langweilige Dienst immer noch, zumal
der Schwarzhandel blüht. Sie kampierten unter weißen Zelten. Viele Stellungen waren verlassen und zur
Hälfte vom Wüstensand bedeckt. Ganz in der Ferne konnte ich mit dem Feldstecher ein paar Gerüste,
einen Sendemast, die Ladekräne des irakischen Hafens Umm-eI-Qasr entdecken. So nah war das Reich
Saddam Husseins. Während des ersten Golfkrieges war Umm-el-Qasr vorübergehend von den persischen
Pasdaran erobert worden. Sie wichen erst zurück, als sie im Giftgas der Iraker zu ersticken drohten. Der
Tamile gab mir zu verstehen, daß er nicht weiterfahren durfte.
Wie gern hätte ich diesen Ausflug fortgesetzt. Nur eine relativ kurze Entfernung trennte uns ja von
dem immer noch eindrucksvollen »Ziggurat« und den Königsgräbern, die letzte Kunde von dem uralten
Herrschaftssitz Ur in Chaldäa geben. In diesem Raum war der Patriarch Abraham geboren worden, den
die Muslime als »Hanif« verehren. Hier wurde dem Erzvater die erste Offenbarung zuteil von der Existenz
des einzigen Gottes, der keine Götzen neben sich duldet, eines himmlischen Alleinherrschers und
Erbarmers, der weder ergründet noch dargestellt werden darf. Dieser Durchbruch zum Monotheismus war
eine Schicksalsstunde in der Geistesgeschichte der frühen Menschheit, die bislang in Verehrung und
Furcht vor einem Pandämonium tierähnlicher Idole, blutgieriger Monster oder ausschweifender
Fruchtbarkeitssymbole dahindämmerte. Eine solche Erleuchtung konnte wohl nur in der asketischen
Einsamkeit der Wüste und ihrer mineralischen Unendlichkeit aufkommen.
Ich warf noch einen Blick auf die Insel Bubiyan, auf die Traurigkeit dieses »letzten Ufers« an
einem Meer, das zu Blei erstarrt schien. Die blaue UNO-Fahne und die grün-weiß-rote Trikolore Kuweits
mit dem schwarzen Dreieck bildeten die einzigen Farbtupfer. An den zerschossenen Häuserwänden von
El Mutla entzifferte ich mühsam ein paar Inschriften. Sie waren politisch bedeutungslos, priesen die Größe
Allahs und seines Propheten. Dabei kam mir eine Episode aus dem Herbst 1956 in den Sinn. Der kurze
Offensiv-Krieg der Engländer, Franzosen und Israeli am Suez-Kanal war noch im Gange; die Alliierten
rückten auf Ismailia vor und der ägyptische Widerstand brach zusammen. Da hatten die pan-arabischen
Nationalisten, unentwegte Parteigänger Gamal Abdel Nassers im Libanon, eine trotzige Parole an die
Mauern von Saida, Tyros und Tripoli gepinselt: »La tantahi ma'rakat el qanat - der Krieg um den Kanal ist
noch nicht zu Ende.« Wenige Tage später sollten sie recht behalten. Die Invasions-Truppen der Entente-Mächte
und Israels wurden durch massive Drohungen Washingtons und Moskaus zum Rückzug
gezwungen. Am liebsten wäre ich am tristen Meeresstrand von Kuweit aus dem Auto gestiegen und hätte
in großen Lettern eine ähnlich lautende Mahnung in den Sand gemalt: »La tantahi ma'rakat el khalidsch -der
Krieg um den Golf ist noch nicht zu Ende.«
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