Amanito
20.06.2003, 15:05 |
@Historiker: war was Besonderes 1751-1758 auf der Makro-/monetären Ebene? Danke (owT) Thread gesperrt |
-->
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dottore
20.06.2003, 15:37
@ Amanito
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Re: Irgendwie war da ein 'Loch' |
-->Hi,
habe beim kurzen Kramen in Gehirn usw. nichts Nenneswertes gefunden.
Irgendwie saß alles in den Startlöchern (Watt, Smith). In Nordamerika der Siebenjährige Krieg (Ende 1763?), aber das war nicht so doll.
Immerhin wurde in den 1750ern den Penns ihr Land besteuert und damit völlig freies und privates Territorium staatsuntertänig gemacht. Aber das ist keine Großklamotte, sondern eher etwas, das die Property-Theoretiker interessiert.
Gern schau ich noch mal in Spezial-Literatur nach (gerade nicht zur Hand). Aber vielleicht gibt's wirklich was Großes? Hast Du einen Hinweis?
Gruß!
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NaturalBornKieler
20.06.2003, 15:52
@ dottore
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Der siebenjährige Krieg war für damalige Verhältnisse ein Weltkrieg,... |
-->zumindest, wenn man sich die geografische Ausdehnung der Kriegshandlungen ansieht. Natürlich hatte es noch nicht die mörderischen Ausmaße der Weltkriege.
Siebenjähriger Krieg, Bezeichnung für den 3. Schlesischen Krieg und den gleichzeitig zwischen Frankreich und Großbritannien in den amerikanischen Kolonien ausgefochtenen Krieg. Als Großbritannien am 16. 1. 1756 ein Bündnis mit Preußen schloss, verbündeten sich Ã-sterreich und Frankreich (Versailler Vertrag vom 1. 5. 1756), mit diesem"Renversement des Alliances" hoffte W. A. Kaunitz, Schlesien wiederzugewinnen. Als auch Russland und Schweden dem Bündnis beitraten, fiel König Friedrich II. von Preußen am 19. 8. 1756 in Kursachsen ein, worauf die Reichstagskollegien die Exekution gegen Preußen beschlossen. Friedrich zwang am 1. 10. 1756 bei Lobositz die Sachsen zur Kapitualtion, siegte gegen die Ã-sterreicher bei Prag (6. 5. 1757), wurde von L. Graf Daun am 18. 6. 1757 bei Kolin besiegt und musste Böhmen, Niederschlesien und die Lausitz räumen. Die Russen fielen in Ostpreußen, die Schweden in Pommern ein, ein österreichisches Korps stand vor Berlin. Durch Siege bei Roßbach (5. 11. 1757) gegen Franzosen und Reichstruppen und bei Leuthen (5. 12. 1757) gegen die Ã-sterreicher konnte Friedrich die drohende Niederlage abwenden, fiel 1758 in Mähren ein, unterlag aber am 15. 8. 1758 bei Zorndorf den Russen und am 14. 10. 1758 bei Hochkirch den Ã-sterreichern, am 12. 8. 1759 bei Kunersdorf den Russen, siegte am 15. 8. 1760 bei Liegnitz und am 3. 11. 1760 bei Torgau gegen die Ã-sterreicher. Der Tod der Zarin Elisabeth II. am 5. 1. 1762 brachte die Wende, Russland schloss mit Preußen Frieden und ein Bündnis, worauf Schweden ebenfalls Frieden schloss. Nachdem sich auch Frankreich und Großbritannien verständigt hatten, stimmte Maria Theresia dem am 15. 2. 1763 auf Schloss Hubertusburg (Sachsen) unterzeichneten Friedensschluss zu. Preußen behielt Schlesien, verpflichtete sich aber, der Wahl Josephs II. zum Römischen König zuzustimmen.
<ul> ~ liest Du hier</ul>
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Wal Buchenberg
20.06.2003, 16:14
@ NaturalBornKieler
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Re: Der 7-jährige Krieg war für damalige Verhältnisse ein Weltkrieg. Richtig! |
-->Der 7-jährige Krieg war sowohl politisch ein Weltkrieg, weil er über die Aufteilung der Welt zwischen England und Frankreich entschied, und er war ökonomisch ein weltweiter Katalysator, indem er die Herausbildung kapitalistischer Strukturen und moderner Staatlichkeit beschleunigte.
(War Thema meiner Diplomarbeit:"Volkswirtschaft und Rüstungspolitik im absolutistischen Preußen")
Gruß Wal
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dottore
20.06.2003, 16:35
@ Wal Buchenberg
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Re: Dann ist Dir doch gewiss auch der Jude... |
-->>(War Thema meiner Diplomarbeit:"Volkswirtschaft und Rüstungspolitik im absolutistischen Preußen")
Hi Wal,
...Ephraim übern Weg gelaufen? Schreib' doch mal a bisserl was dazu; da gibt's sicher manche, die sich wieder mal"bestätigt" sehen. Du musst mehr Freude bereiten, Wal, und nicht immer so viel im Kapallismus rumstochern.
Gewiss hast Du dann auch schon was von der einschlägigen Tradition in diesen Sachen drauf.
Denk mal an den Juden Lippold und beschreib's dessen Gschäfterln gleich mit.
Gegen diese Cracks war der Süß doch fast ein Waisenknabe - oder, was meinst Du Wal?
JeFra wird es vermutlich anders sehen.
Gruß!
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Wal Buchenberg
20.06.2003, 16:52
@ dottore
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Re: Dann ist Dir doch gewiss auch der Jude... |
-->>>(War Thema meiner Diplomarbeit:"Volkswirtschaft und Rüstungspolitik im absolutistischen Preußen")
>
>Hi Wal,
>...Ephraim übern Weg gelaufen? Schreib' doch mal a bisserl was dazu; da gibt's sicher manche, die sich wieder mal"bestätigt" sehen. Du musst mehr Freude bereiten, Wal, und nicht immer so viel im Kapallismus rumstochern.
>Gewiss hast Du dann auch schon was von der einschlägigen Tradition in diesen Sachen drauf.
>Denk mal an den Juden Lippold und beschreib's dessen Gschäfterln gleich mit.
>Gegen diese Cracks war der Süß doch fast ein Waisenknabe - oder, was meinst Du Wal?
>JeFra wird es vermutlich anders sehen.
>Gruß!
Hallo dottore,
ja, mit der Rolle der Juden hatte ich mich am Rande befasst. Aber sie spielten eine höchst nützliche und fortschrittliche Rolle - sie waren in den Worten von Goethe eine"Kraft, die das Böse will und das Gute schafft".
Bei den Judenhassern war - und ist - es ziemlich umgekehrt.
Also nichts, was hier die Vorurteile bedienen könnte.
Gruß Wal
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Amanito
20.06.2003, 16:59
@ Wal Buchenberg
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danke an alle, gute Hinweise |
-->>>>(War Thema meiner Diplomarbeit:"Volkswirtschaft und Rüstungspolitik im absolutistischen Preußen")
>>
>>Hi Wal,
>>...Ephraim übern Weg gelaufen? Schreib' doch mal a bisserl was dazu; da gibt's sicher manche, die sich wieder mal"bestätigt" sehen. Du musst mehr Freude bereiten, Wal, und nicht immer so viel im Kapallismus rumstochern.
>>Gewiss hast Du dann auch schon was von der einschlägigen Tradition in diesen Sachen drauf.
>>Denk mal an den Juden Lippold und beschreib's dessen Gschäfterln gleich mit.
>>Gegen diese Cracks war der Süß doch fast ein Waisenknabe - oder, was meinst Du Wal?
>>JeFra wird es vermutlich anders sehen.
>>Gruß!
>Hallo dottore,
>ja, mit der Rolle der Juden hatte ich mich am Rande befasst. Aber sie spielten eine höchst nützliche und fortschrittliche Rolle - sie waren in den Worten von Goethe eine"Kraft, die das Böse will und das Gute schafft".
>Bei den Judenhassern war - und ist - es ziemlich umgekehrt.
>Also nichts, was hier die Vorurteile bedienen könnte.
>Gruß Wal
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R.Deutsch
20.06.2003, 17:02
@ Amanito
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Der Krieg wurde mit Falschgeld finanziert |
-->Ich füge mal die einschlägige Stelle aus der „Geldfalle“ hier an:
Im August 1756 besetzte Friedrich II das Nachbarland Sachsen, womit der Siebenjährige Krieg begann. Sachsen besass reiche Silbervorkommen im Erzgebirge. Noch im gleichen Jahr verpachtete Friedrich die Leipziger Münzstätte an den Juden Veitel Ephraim. Der Vertrag sah vor, bei der Prägung das Münzbild des sächsischen Kurfürsten beizubehalten, den Silbergehalt der Geldstücke jedoch um ein Viertel zu verringern - eine bewusste Verfälschung der sächsischen Landeswährung. Für so hergestellte neue Münzen im Nennwert von je 1 Million Reichstaler sicherte Ephraim dem preussischen König einen Schlagschatz von 200.000 Reichstaler zu. Daraufhin begann in der Leipziger Münzstätte ab Januar 1757 die Prägung von unterwertigen Groschen. Um die Bevölkerung über den Zeitpunkt der Herausgabe zu täuschen, versah man die Geldstücke mit den Jahreszahlen 1753, 1754 und 1756. Auch sächsisch polnische Sorten wurden mit diesen Jahreszahlen geprägt.
Diese Münzen wurden in der Folgezeit die häufigsten Kriegsmünzen, ihr Umlauf in Preußen jedoch zunächst verboten. Allerdings lies sich der edle Vorsatz, das eigene Land vor Münzverschlechterungen zu verschonen, auf Dauer nicht aufrecht erhalten. Bereits 1758 verpachtete Friedrich auch alle preußischen Münzstätten an ein Konsortium, das sich aus Veitel Ephraim, Moses Isaac und Daniel Itzig zusammensetzte. Anstelle des 1750 eingeführten 14 Taler Fußes prägte man ab 1759 einen 19 3/4 Taler-Fuß, womit ein Taler nur noch 11,8 statt 16,7 Gramm Silber enthielt. Ab 1760 sank der Silbergehalt gar auf 7,8 Gramm und noch schlechter. Auch die Goldmünzen Friedrichsdor und den sächsischen Augustdor liess er ausprägen, allerdings mit um 30 % verringerten Feingehalt. Zur Täuschung wurden wieder die Jahreszahlen 1755, 1756 und 1757 verwendet. Die minderwertigen Kriegsmünzen, im Volksmund als „Ephraimiten“ bezeichnet, behielten ihr ursprüngliches Rauhgewicht. Verschlechtert wurde nur der Feingehalt, so dass sie mit der Münzwaage kaum von vollwertigen Stücken unterschieden werden konnten. Die Verbreitung auch in neutrale und feindliche Territorien gelang so gut, dass zeitweise sogar die Ã-sterreicher ihre eigenen Truppen damit entlohnten. Man hielt es wohl mal wieder nicht für möglich, dass Friedrich der Große so etwas machen würde.
Zur Ehrenrettung Friedrichs muss man allerdings sagen, dass er am Ende des Krieges mit einer Sanierung der preußischen Währung begann. Mit dem Münz-Edikt vom März 1764 erfolgte die Rückkehr zum 14 Taler Fuß mit 16,7 gr. Die Kriegsmünzen wurden eingezogen. Ihr Umtausch bei den Staatskassen erfolgte allerdings in Anlehnung an den Metallwert. Die Besitzer der Kriegsmünzen verloren damit einen beträchtlichen Teil ihres Geldvermögens, im Höchstfall bis zu knapp Drei Viertel. Die Geldreform gelang ebenfalls. Bis etwa 1770 war die Umprägung der Kriegsmünzen abgeschlossen. Friedrich war ein sparsamer Fürst. Als er 1786 starb hatte er es immerhin geschafft, einen Staatsschatz in Höhe von 55 Mio Reichstalern anzulegen, was etwa 30 - 40 % des preußischen Volkseinkommens entsprach. Außerdem empfand man damals noch Falschgeld als moralisch bedenklich. Im Jahre 1777, also noch zu Lebzeiten Friedrichs, schrieb die Preußische Akademie der Wissenschaften die bereits erwähnte Preisaufgabe über die Frage aus, ob es nützlich sei, das Volk zu betrügen, woraus sich eine umfangreiche philosophischen Debatte zur Aufklärung überhaupt entwickelte. Eine solche Debatte wäre heute sicher wieder nützlich.
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dottore
20.06.2003, 17:47
@ R.Deutsch
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Re: Nu beurteile doch mal die Rolle des / der Münz-Juden |
-->Schönen Dank für die Stelle, aber da ohnehin jeder hier die Geldfalle in- und auswendig intus hat, führt das ja beim Thema nicht weiter, das von Amanito angeschnitten wurde: Big Event ("Mega"!) in den 1750ern und zwar ökonomisches. Die Frage kommt doch nicht aus"heiterem Himmel" - oder Amanito?
Frage also: Sind die Jungs jene, die hier ein Mega-Event zelebriert hatten oder waren diese Münzereien Petitessen?
Falls Mega-Event (und die Landkarte wurde ja verschoben), dann muss man doch wohl sagen: So wie Ephraim, Itzig & Co. den Großen Fritz in den Sattel gehoben bzw. dort gehalten haben, dann war das mit Jud Süß, der ebenfalls Münzpächter war und zwar in Stuttgart, und seinem Carl Alexander nicht anderster - oder?
Und sicher wird dann der groooße Bogen zu schlagen sein zu den"jüdischen Kräften", die Hitler finanziert haben (was ja auch immer wieder tüchtig behauptet wird). Stichwort Warburg.
Waren diese"geheimen Kräfte im Hintergrund" Mitglieder einer bereits laufenden, einer möglicherweise erst heraufziehenden oder sonstwie zu benennenden gigantischen Weltverschwörung mit dann entsprechenden Auswirkungen?
Als Anti-Offenbarungsreligiösem fällt Dir sicher dazu etwas Feines ein. Danke, falls Du es hier wissen lässt.
Gruß!
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R.Deutsch
20.06.2003, 18:35
@ dottore
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Geheime Kräfte im Hintergrund |
-->Ich sehe das viel simpler. Nix geheim und im Hintergrund. Es sind immer wieder die gleichen simplen Tricks, die immer wieder neu funktionieren. (wie bei den Zaubertricks auch). Heute kann sich nun wirklich jeder über diese Tricks ( bei Geld, Religionen, Kriegsgründen etc.) kundig machen - wenn er will.
Tarnung und Täuschung gibt es im Tierreich auch schon immer und folglich bei den Menschen erst recht. Allerdings wären die Menschen in der Lage, dank ihrer Vernunft, einzusehen, dass dies ein dummes Verhalten ist, wenn es alle machen. Eine Gesellschaft, auf Betrug und Täuschung aufgebaut, ist nicht sehr effektiv.
Es funktioniert also nur, wenn sich der größere Teil der Menschen aus Bequemlichkeit täuschen lassen - womit wir wieder bei der Aufklärung wären. Immerhin wurde das Thema, ob es nützlich sei, das Volk zu betrügen, 1777 sehr leidenschaftslos und auf hohem Niveau diskutiert. Wäre schön, wenn es gelänge, eine solche Debatte wieder in Gang zu bringen, z.B. im Zusammenhang mit den WTC.
Also etwa die Frage, wäre eine Sprengung der WTC zu rechtfertigen, wenn die daraus folgenden Kriegshandlungen zu einer friedlichen und prosperierenden Welt (pax americana) führen? Schreib doch mal einen Preis zur Klärung der Frage aus.
Mal sehen, was wir heute abend im WDR erfahren:-)
Fein genug?
RD
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monopoly
20.06.2003, 19:40
@ dottore
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Re: Nicht zu vergessen der 17.Juni 53 und die DDR Juden |
-->>Schönen Dank für die Stelle, aber da ohnehin jeder hier die Geldfalle in- und auswendig intus hat, führt das ja beim Thema nicht weiter, das von Amanito angeschnitten wurde: Big Event ("Mega"!) in den 1750ern und zwar ökonomisches. Die Frage kommt doch nicht aus"heiterem Himmel" - oder Amanito?
>Frage also: Sind die Jungs jene, die hier ein Mega-Event zelebriert hatten oder waren diese Münzereien Petitessen?
>Falls Mega-Event (und die Landkarte wurde ja verschoben), dann muss man doch wohl sagen: So wie Ephraim, Itzig & Co. den Großen Fritz in den Sattel gehoben bzw. dort gehalten haben, dann war das mit Jud Süß, der ebenfalls Münzpächter war und zwar in Stuttgart, und seinem Carl Alexander nicht anderster - oder?
>Und sicher wird dann der groooße Bogen zu schlagen sein zu den"jüdischen Kräften", die Hitler finanziert haben (was ja auch immer wieder tüchtig behauptet wird). Stichwort Warburg.
>Waren diese"geheimen Kräfte im Hintergrund" Mitglieder einer bereits laufenden, einer möglicherweise erst heraufziehenden oder sonstwie zu benennenden gigantischen Weltverschwörung mit dann entsprechenden Auswirkungen?
>Als Anti-Offenbarungsreligiösem fällt Dir sicher dazu etwas Feines ein. Danke, falls Du es hier wissen lässt.
>Gruß!
Auf der anderen Seite der Barrikade
Der"Volksaufstand" vom 17. juni 1953 und die Juden
Am Abend des 16. Juni hatten dreitausend SED-Funktionäre am kurzfristig einberufenen Parteiaktiv teilgenommen. Mit der Ermahnung"Morgen tiefer in die Massen!" waren die Agitatoren von Ulbricht in die Nacht entlassen worden. Die Genossen hatten nach der Veranstaltung die"Internationale" angestimmt und sich vom Berliner Friedrichstadtpalast aus zu einem Demonstrationszug formiert. Alexander Abusch und Klaus Gysi - beide wurden später Kulturminister der DDR - waren im Auto vorausgefahren, um sich ihm auf der Höhe des Zeughauses anzuschließen. Aus dem Fahrzeug heraus - geschützt und gefangen zugleich - wurden sie Zeugen einer Massenschlägerei zwischen"guten" Genossen und einer anrückenden Kolonne von jungen Radfahrern, die sofort als Provokateure aus dem Westen identifiziert wurden. Im Gedächtnis der beiden jüdischen Kommunisten verknüpfte sich die Szene nächtlicher Gewalt mit Ereignissen, die über dreißig Jahre zurücklagen. Die jungen Westberliner erinnerten Abusch an die Freikorps im Frühjahr 1920 und an den Fackelzug der SA im Januar 1933.
Die Ereignisse am 17. Juni 1953 weckten bei jüdischen Kommunisten in der DDR unliebsame Erinnerungen.
Foto: dpa
Auch zu den legendären Bauarbeitern der Stalinallee gingen die Funktionäre auf Distanz. Bis dahin waren sie besonders klassenbewußte Arbeiter an der Schaumeile des Sozialismus gewesen. Doch nun bildeten sie die Vorhut des Aufstands. Die"Helden" rissen sich gewissermaßen die Maske vom Gesicht und offenbarten ihre feindliche Haltung: zum Vorschein kam der Faschist und Mitläufer von gestern. Nicht nur Funktionäre wie Abusch oder Kurt Barthel dachten so. Der parteilose Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Leipzig, Eugen Gollomb, der Auschwitz überlebt hatte, wurde beim Anblick von verprügelten SED-Mitgliedern, die das Parteiabzeichen trugen, von Ängsten heimgesucht, daß der Aufruhr zuletzt in den Gaskammern enden könnte. Der Neubürger Stefan Heym, der erst Anfang der fünfziger Jahre aus den USA in die DDR übergesiedelt war, fühlte sich in seinem sozialistischen Wunschbild erschüttert. Ihm war am 17. Juni ähnlich zumute wie in der Ardennenschlacht, beim Durchbruch der Nazis. Er verspürte vor allem Empörung über"die Deutschen". Und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer erinnerte noch Jahre später ein diffuses Glücksgefühl über die Rückkehr zur bürokratischen Tagesordnung nach der Niederschlagung des Aufstands.
Auch die literarischen Verarbeitungen des 17. Juni sprechen vom Trauma der Verfolgung. In Jurek Beckers Roman Der Boxer ist der Hauptfigur Aron an der Beibehaltung des Status quo gelegen, weil sich der Haß wieder gegen die Juden richten könnte.
Juden in der DDR nahmen den eskalierenden Aufruhr in spezifischer Weise als Gefahr wahr. Er galt ihnen weniger als Ausdruck eines Freiheitswillens, sondern als Vorbote des Unheils. Kommunisten jüdischer Herkunft und parteilose Juden dachten an mögliche Pogrome. Was sie sahen, fügte sich nahezu bruchlos in die kollektive jüdische Erfahrung ein. Die Ereignisse evozierten Erinnerungen: Bilder der"Machtergreifung", Bilder der"Kristallnacht", zeitlose Bilder vom Judenhaß. Der Volksaufstand weckte spontane Ängste. Er führte die Urszenen der Verfolgung vor Augen. Für jüdische Kommunisten rückte das Objekt ihrer assimilatorischen Sehnsucht - die Arbeiterklasse, das Volk - in schmerzliche Entfernung.
Keiner von ihnen schloß sich den Demonstranten an. Die gewerkschaftlichen Forderungen nach Rücknahme der Normerhöhungen waren augenblicklich diskreditiert durch die Verwandlung der Arbeiterklasse in eine feindliche, streikende Masse. Jüdische Kommunisten standen auf der anderen Seite der Barrikade.
Der 17. Juni war für sie Schlußakkord und Zäsur: Bis 1949 hatten die Remigranten und Überlebenden versucht, die Erschütterungen ihres marxistischen Weltbildes zu verarbeiten. Die Nachrichten vom Völkermord an den Juden hatten vor allem unter den Westemigranten die ökonomistische Faschismusanalyse ins Wanken gebracht und auch die biographische Entscheidung zum Kommunismus in Frage gestellt. Nur mühsam und mit inneren Konflikten gelang ihnen die Integration in die deutsche Nachkriegsgesellschaft.
Andererseits gehörten Kommunisten jüdischer Herkunft bald zu den ersten Patrioten des zweiten deutschen Staates. In der neuen politischen und kulturellen Elite waren sie zahlreich vertreten. Da die SED bei der Besetzung von Ämtern dringend auf Professionalität angewiesen war, stand es um die Karrierechancen der Remigranten und Überlebenden nicht schlecht. Als Partei- und Kulturfunktionäre, ergebene Juristen, Diplomaten, Außenhandelsexperten, Journalisten und Künstler liehen sie einem kleinen Teilstaat von zweifelhafter Legitimität, beschränkter Souveränität und fehlender Anerkennung ihre Stimme.
Doch zur selben Zeit begannen die Säuberungen, die erst mit Stalins Tod zu einem Ende kamen. Die Moskauer Politemigranten konstruierten eine verdächtige Erfahrungsgemeinschaft: die Westemigranten. Betroffen waren vor allem jüdische Genossen. Sie galten als infiziert mit dem Lebensstil und dem politischen Denken des Westens. Als mutmaßliche Agenten des amerikanischen Imperialismus wurden Funktionäre aus Führungspositionen abgezogen und zum Teil verhaftet.
Im Herbst 1952 gerieten jüdische Kommunisten in die antizionistische Kampagne. Zwar wurde in der DDR mit Paul Merker ein Nichtjude zum Hauptangeklagten eines Geheimprozesses ausgewählt. Dennoch befanden sich jüdische Kommunisten in der prekären Defensive. Im Kern lautete der Vorwurf, jüdische, bürgerliche"Elemente" hätten die Arbeiterpartei infiltriert. Ihre Pläne einer Vermögensrestitution an Überlebende des Holocaust und an ihre Nachkommen galten ebenso wie Reparationen an Israel als Ausverkauf von Volksvermögen. Die Flucht von über fünfhundert Juden - darunter fast allen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden -, war aus Sicht der SED ein untrüglicher Beweis für den Verrat. Kurz vor ihrer Enttarnung entlarvten sich die mutmaßlichen Agenten durch ihre Flucht selbst.
Doch der Zionismusverdacht trieb nur wenige jüdische Parteifunktionäre außer Landes. Die meisten blieben, kooperierten und versuchten, sich vom unsichtbaren gelben Fleck durch Selbstkritik oder Denunziation zu reinigen. Wiederholt bekräftigten sie die biographische Entscheidung ihrer Jugend für die rote Assimilation. Wer die antizionistischen Säuberungen politisch degradiert oder kaltgestellt, aber physisch unversehrt überlebt hatte, dem war nur wenig später, am 17. Juni, Gelegenheit zur Bewährung gegeben. Der Volksaufstand schmiedete jene affektive Loyalität mit der SED, die sich auch künftig bewähren sollte.
Mit umso größerer Verve führten jüdische Kommunisten nach 1953 den Kampf gegen die bürgerliche Demokratie. Der Antifaschismus, der in der DDR nun endgültig zur Staatsdoktrin geworden war, machte ehemalige Nazis und Militaristen ausschließlich in der Bundesrepublik aus. Die Konstellation komplementärer Zweistaatlichkeit wirkte psychologisch und ideologisch überaus entlastend. Und sie machte es jüdischen Kommunisten leichter, sich überhaupt als Deutsche fühlen zu können.
www.juedische-allgemeine.de
Geschf. M.F.
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