-->(c) DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26
<div class="supertitle"><font face="Arial, Helvetica, sans-serif" size="+2">Verlagsleben</font></div>
<div class="title">
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif" size="+1">Im Dienst der Vorschrift
</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif" size="+1">Das Parlament macht die
Gesetze, der C. H. Beck Verlag druckt sie alle.</font><font face="Arial, Helvetica, sans-serif">
Besuch bei einer Firma, die dem Regulierungswahn unendlich viel zu verdanken
hat </font>
</div>
<div class="subtitle"> <font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Von Michael Schwelien</font></div>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Es klingt wie Gemurmel, aber wenn
man näher kommt, hört man, dass wohlakzentuierte Worte gesprochen werden. Korrektoren
lesen einander Texte vor. Sie sitzen in Vierergruppen in einem langen Archivraum.
Jeweils einer liest laut, die drei anderen lesen leise mit, um akribisch genau
arabische und römische Zahlen, Akronyme, Abkürzungen und Buchstabenfolgen zu
überprüfen. Das Gemurmel der Korrektoren ist das lauteste Geräusch in dem Steingebäude,
dessen Fassade von wildem Wein bewachsen ist.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Nebenan macht zwischen Bücherregalen,
die bis zur Decke reichen, ein Lektor geheimnisvolle Eintragungen in einen dicken
Folianten. Wieder eine Tür weiter sortiert ein Kollege Bündel billigen, schmutzig
wirkenden Papiers: Gesetzestexte. Die einen sollen von den rund fünfzig rechtskundigen
Kommentatoren analysiert, andere von fünfzig juristisch bewanderten Fachlektoren
auf Fehler überprüft, nach Themenbereichen gegliedert und zu handlicher Form
weiterverarbeitet werden. In diesen stillen Hallen dienen alle dem einen Ziel:
Das Volk muss die Gesetze kennen, die es zu achten hat.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Der C. H. Beck Verlag publiziert
alle Gesetze Deutschlands. Alle. Sobald sie verabschiedet sind. Von der Rezession
auf dem Buchmarkt ist hier nichts zu spüren. Die Flut von Gesetzestexten lässt
nie nach. Im Gegenteil: Die Vielfalt der Systemkrisen scheint den Arbeitseifer
der Gesetzgeber noch zu erhöhen, ob im Bundestag, in den Länderkammern oder
im Europäischen Parlament. Die Frage, ob die Quantität auch für die Qualität
der Gesetze steht, stellt sich kaum für deren Multiplikatoren. Man könnte den
Verlag getrost die einzig profitable Regulierungseinrichtung Deutschlands nennen.
</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Wollte einer den Deutschen Bundestag
motivieren, dass er das Volk endlich von der ungeheuren Last überflüssiger und
unverständlicher Gesetze befreit, sollte er einen erfahrenen Abgeordneten zur
Feldforschung in die Wilhelmstraße9, 80801 München, aussenden. Nicht in den
bekannten Publikumsverlag C. H. Beck, sondern in den gleichnamigen juristischen
Teil des Unternehmens, mit dessen Erträgen die bedeutenden historischen Werke
des Ersteren finanziert werden.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Dort würde der Abgeordnete auf Armin
L. Trautmann treffen, den Leiter des Lektorats Amtliche Texte. Wenn Trautmann
einen Witz macht, senkt er unwillkürlich die Stimme. »Welches ist der deutsche
Bestseller schlechthin?«, raunt er. »Ein Roman von Heinrich Böll? Nein das
BGB!« Der Deutsche Taschenbuchverlag dtv, bei dem C.H. Beck Gesellschafter ist,
hat das Bürgerliche Gesetzbuch inzwischen in der 53. Auflage herausgebracht.
Ein dünnes Bändchen von 735 Seiten. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Gut 4200 Seiten umfasst dagegen die
von Heinrich Schönfelder begründete Textsammlung <em>Deutsche Gesetze. </em>Das
»Markenzeichen für Juristen« schleppt jeder Student mit sich herum. »Der Schönfelder«
hat Gardemaß im Beck Verlag, auf dem Exerzierplatz des deutschen kodifizierten
Rechts steht er nicht alleine Spalier. Mit den Ergänzungsbänden Schönfelder
I und II bringt er es auf 9500 Seiten deutscher Gesetze. Jeder von uns dürfte
einige übertreten haben, und sei es ahnungslos. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Das Arbeitszimmer von Cheflektor
Burkhard Schulz ist eine Art Zentralarchiv des Rechts. In diesem Raum wird man
leicht erschlagen, von der Bücherwand mit sämtlichen bei C. H. Beck erschienenen
juristischen Titeln. Unter anderem: »Der Sartorius« drei Bände Verfassungs-
und Verwaltungsgesetze, inklusive der Internationalen Verträge, des Europarechts
und des fortgeltenden, länderübergreifenden DDR-Rechts. Knapp 9000 Seiten. »Der
Nipperdey« Arbeitsrecht, 4000 Seiten. »Der Aichberger« Sozialgesetzbuch,
3000 Seiten. Ergänzt durch 2520 Seiten zur gesetzlichen Krankenversicherung
und Pflegeversicherung. Dazu kommen die Loseblatt-Textsammlungen mit den Gesetzen
der einzelnen Bundesländer. Brandenburg stellt mit 4110 Seiten die Vorhut, Hamburg
ist mit 2250 Seiten Schlusslicht.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Schönfelder, Sartorius, Nipperdey
und Aichberger kurz auch: »die Ziegel« sowie eine Sammlung mit Landesgesetzen
passen mühelos auf ein einziges Bord in der Regalwand von Burkhard Schulz. Der
Platz reicht, weil der Beck Verlag es schafft, unendlich viel Text auf kleinstem
Raum unterzubringen. Hergestellt werden die Bände in der eigenen Nördlinger
Druckerei, die auf ein Dünndruckverfahren und eine ausgeklügelte Steckmechanik
in Plastikordnern spezialisiert ist. Die Werke werden ständig aktualisiert.
Zwei-, dreimal im Jahr hat der Abonnent sein Päckchen zu tragen. Wenn er eine
Sekretärin mit dem Einsortieren von zwei-, drei-, oder gar vierhundert Seiten
beauftragt, dann ist diese ihm tagelang gram. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Neben den Ziegeln stehen blaue, graue,
weiße Bände: Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Zivilverfahren,
Arbeitsrecht, Sozialrecht, Ã-ffentliches Recht, Strafrecht, Europarecht, Steuerrecht
und so fort. Und Rechtslexika, ohne die man die anderen Werke nicht versteht.
Spätestens hier wird der Abgeordnete seinem Lernziel näher gekommen sein: Es
scheint, als sei längst die Menge, nicht die Sinnhaftigkeit der Gesetze das
entscheidende Kriterium für die erfolgreiche parlamentarische und ministerielle
Arbeit. Wer, um Himmels willen, muss, ja, wer kann überhaupt all diese Gesetze
kennen? Und seien es nur diejenigen, die ihn angehen? Ein Baumeister beispielsweise
sollte, wenn ihm schon nicht alle 11850 Seiten des Baugesetzbuchs gegenwärtig
sind, doch zumindest wissen, in welchem der fünf Bände er die für ihn geltenden
Vorschriften findet. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Gut, meist stellen sich klare Fragen.
Ein Kioskbesitzer etwa, der in den Sommermonaten seine Ehefrau zum Verkauf von
Erfrischungsgetränken einstellen will, muss die GeringfügigkeitsRL 4/21 kennen;
die »Richtlinien für die versicherungsrechtliche Beurteilung von geringfügigen
Beschäftigungen« vom 25. Februar 2003. Die 47 Seiten kann man mühelos an einem
Tag lesen. Aber auch verstehen? Warum beispielsweise reichte es dem Gesetzgeber
nicht, einfach festzuhalten, dass ein Einkommen bis zu 400 Euro im Monat als
geringfügig gilt und deshalb steuerfrei, aber versicherungspflichtig ist? </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Stattdessen legt er minutiös fest,
dass eine Beschäftigung » nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV wegen der geringen
Höhe des Arbeitsentgelts (geringfügig entlohnte Beschäftigung) oder nach Abs.
8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV wegen ihrer kurzen Dauer (kurzfristige Beschäftigung)«
geringfügig sein kann. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">»Es ist daher zu unterscheiden, ob
es sich bei der zu beurteilenden Beschäftigung um eine geringfügig entlohnte
Beschäftigung oder um eine kurzfristige Beschäftigung handelt.«</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Aber warum? Und muss tatsächlich
selbst jede Einzelheit der Bezahlung gesetzlich geregelt werden? »Beginnt oder
endet die Beschäftigung im Laufe eines Kalendermonats, ist von einem anteiligen
Monatswert auszugehen (vgl. Beispiel 2)«, erfährt der Kioskbesitzer. Aber nicht
nur das: »Dieser ist wie folgt zu ermitteln: 400 EUR x Kalendertage = anteiliger
Monatswert geteilt durch 30.« So etwa hatte er sich das gedacht. Doch Vorsicht:
»Einmalige Einnahmen, deren Gewährung mit hinreichender Sicherheit & mindestens
einmal jährlich zu erwarten sind &, sind zu berücksichtigen.« Aber nicht
alle! Jubiläumszuwendungen zum Beispiel bleiben » &außer Betracht, weil
es sich um nicht jährlich wiederkehrende Zuwendungen handelt«. Alles klar. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Der Arm des Gesetzes reicht eben
überall hinein. Oder drum herum, bis zum Würgegriff. So muss ein Student oder
Schüler, der Bafög beantragt, ein 33 Seiten starkes Antragsformular einreichen.
Will er an einer weit von zu Hause entfernten Fachschule studieren, wird ihm
mit Wohngeld geholfen »wenn Sie bei der Benutzung der günstigsten Verkehrsverbindungen
mindestens an drei Wochentagen für Hin- und Rückweg eine Wegezeit von mehr als
zwei Stunden benötigen«. Man sieht den Sachbearbeiter vor sich, wie er streng
nach Vorschrift kalkuliert: »Zur Wegezeit gehören auch die notwendigen Wartezeiten
vor und nach dem Unterricht. Die Wegestrecke zwischen der Haltestelle des Verkehrsmittels
und der Ausbildungsstätte bzw. zurück gilt als Wartezeit. Jeder angefangene
Kilometer Fußweg wird mit 15 Minuten berechnet.« Geradezu eine Aufforderung,
schnell zu gehen. </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Oder: Es mag eine Errungenschaft
sein, dass von Arbeitgebern generell verlangt wird: »Stillenden Müttern ist
auf ihr Verlangen die zum Stillen erforderliche Zeit & zu gewähren.« Aber
das Dutzend Zusatzregeln? Den »in Heimarbeit Beschäftigten und den ihnen Gleichgestellten«
hat »der Auftraggeber oder Zwischenmeister & für die Stillzeit ein Entgelt
von 75 vom Hundert eines durchschnittlichen Stundenverdienstes, mindestens aber
0,38 Euro für jeden Werktag zu zahlen«. Dann aber öffnet der penible Gesetzgeber
amtlicher Willkür Tür und Tor: »Die Aufsichtsbehörde kann in Einzelfällen nähere
Bestimmungen über Zahl, Lage und Dauer der Stillzeiten treffen.«</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Armin L. Trautmann, besagter Leiter
des Lektorats Amtliche Texte, würde den Gesetzgeber niemals kritisieren. Nichts
stünde ihm ferner. Aber unüberhörbar ist die Ironie, wenn er sagt: »Der Gesetzgeber
arbeitet schnell.«</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">»Wie schnell?« </font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">»Nun, er hebt einen Absatz auf, den
er schon einmal aufgehoben hat. Oder er ändert einen Verweis nicht ab.« Trautmann
würde es nicht, wir aber dürfen es sagen: Der Gesetzgeber arbeitet ausgesprochen
widersprüchlich und schluderig. Sein Gesetzeserneuerungssyndrom wirkt zwanghaft.
Bei der Dritten Verordnung zur Änderung der Rückstands- und Höchstmengenverordnung
hält er es für notwendig, dort, wo er eine »Höchstmenge 1mg/kg« bei Gurken erlaubt
hatte, noch einzufügen: »außer Einlegegurken«. Ein Einkommensteuergesetz wurde
im Jahr der Beschlussfassung 13 Mal geändert, dreimal schon zwischen Verkündigung
und Inkrafttreten. Im 54. Jahr der Bundesrepublik, die ja die Rechtsfolge des
Deutschen Reichs angetreten hat, also auch die meisten von dessen Gesetzen noch
mit sich schleppt, sollte der Maßstab des Erfolgs endlich ein anderer werden:
dass es gelänge, in einer Legislaturperiode möglichst viele überflüssige und
behindernde Gesetze zu streichen.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Die deutschen Gesetze sind so umfangreich
und kompliziert, dass sie kein Mensch mehr alle kennen, geschweige denn beachten
kann. Das widerspricht dem Verfassungsgrundsatz, wonach das Verhältnis zwischen
dem Bürger und seinem Staat per Gesetz zu regeln ist. Ein Regelwerk mit Totschlageffekt
kann keines sein. Armin L. Trautmann kann mit einer schlichten Grafik aufwarten
graue Balken, die, wenn man so will, die Jahresproduktion des Bundestags aufzeigen.
Vor jeder Wahl wird es hektisch: Gesetze als Fleißnachweis. Trautmanns Statistik
zeigt deutlich, dass während des »Kohl-Stillstands«, als im Bundesrat ein Patt
herrschte, nur halb so viele Gesetze verabschiedet wurden wie zu anderen Zeiten;
aber es waren immer noch mehrere tausend Seiten. Das »Dauerfeuer« von Rot-Grün
vor der vergangenen Bundestagswahl ist dokumentiert in einem Gesetzgebungsrekord,
der zugleich Beckscher Buchdruck-Rekord ist.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Carl Gottlob Beck gründete den Verlag
1763 in Nördlingen. Der Name stammt von dessen Sohn und Nachfolger Carl Heinrich
Beck. Die Gründung des Deutschen Reiches, 1871, gab dem Unternehmen großen Auftrieb.
Damals entstanden die Zivilprozessordnung, das Bürgerliche Gesetzbuch und das
Handelsgesetzbuch, die für ganz Deutschland galten und dem C. H. Beck Verlag
wie von selber eine permanente Nachfrage nach seinen Erzeugnissen bescherten.</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Was Überregulierung bedeutet, wird
einem erst richtig klar, wenn man den Cheflektoren ins Archiv folgt. Dort stehen
in der schönen alten Bibliothek die gebundenen Ausgaben des Reichsgesetzblatts
und des Bundesgesetzblatts, beginnend mit dem Jahr 1896. Generationen von Beck-Lektoren
haben mit Bleistift fein säuberlich alle bis heute erlassenen Änderungen eingetragen.
Die Bände mit den deutschen Gesetzen umfassen zwölf Regalmeter. Im Nebenraum,
einer größeren, moderneren Bibliothek, steht das europäische Gegenstück, die
in blaue Plastikbände und Leitz-Ordner eingebundene Sammlung der EU-Amtsblätter.
Sie beginnt mit dem Jahr 1976, ist also 80 Jahre jünger als das deutsche Recht.
Aber sie umfasst jetzt schon fünfzig Regalmeter. Diese Tatsache entlockt selbst
Cheflektor Schulz ein Kopfschütteln: »Ob da nicht die Qualität leidet?«</font>
<font face="Arial, Helvetica, sans-serif">Ein alter Juristenspruch lautet:
Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung ungemein. Wenn man nach ein
paar Stunden im C. H. Beck Verlag wieder ins Freie tritt, fragt man sich unwillkürlich:
In welches Gesetz?</font>
<ul> ~ Im Dienst der Vorschrift</ul>
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