-->Die Sozialstaatlüge 2/5
Zur politischen Ã-konomie des kapitalistischen Staates, Teil 2/5
Der erste Teil steht hier!
2. Armenfürsorge in kapitalistischen Gesellschaften
In kapitalistischen Gesellschaften, in denen die Masse der Bevölkerung besitzlos, also lohnabhängig ist, gab und gibt es folgende Optionen der Armenfürsorge:
1) Massenelend ohne organisierte Armenfürsorge,
2) freiwillig-kollektive Eigenvorsorge durch private Hilfskassen und Versicherungen
3) zwangsweise-staatliche Vorsorge durch eine staatliche Zwangsversicherung.
Diese drei Optionen wurden auch historisch in dieser Reihenfolge"erprobt" und der dritte Weg stellte sich dabei als die in kapitalistischen Verhältnissen nützlichste Option heraus.
2.1. Massenelend und Revolutionsangst
Kapitalistische Warenproduktion und Geldwirtschaft ruinierte die selbständigen Kleinproduzenten in Stadt und Land in Massen und führte zu einem Anschwellen der eigentumslosen Schichten."[i]Ab etwa 1770 sprechen die Zeitgenossen von 'Pauperismus' (Massenarmut). Ein großer Teil der Bevölkerung (nach Schätzungen bis zu zwei Dritteln) ist in der materiellen Existenz gefährdet.[/i]" [01]
<a name="1a"> In diesem sozialen Chaos des Frühkapitalismus paarten sich staatliche Polizeigewalt und staatliche Fürsorge zu dem Zweck der sozialen Sicherheit der kapitalistischen Reichtumsproduktion. </a>"[i]Führt Massenarbeitslosigkeit zu Unruhen, verabschiedet man gewöhnlich Hilfsprogramme, um genügend Erwerbslose einzubinden und zu überwachen, damit wieder Ordnung einkehrt; lassen die Krawalle nach, schrumpft das Fürsorgesystem, stößt jene aus, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden. Doch sogar in diesem geschrumpften Zustand dient es der Maßregelung. Ein Teil der Alten, Invaliden und Geisteskranken und andere, die nicht zur Arbeit taugen, bleiben von der Fürsorge abhängig. Man entwürdigt und drangsaliert sie hinreichend, um die arbeitenden Massen in ständiger Furcht vor dem Schicksal zu halten, das sie erwartete, sollten sie in Bettelei und Pauperismus abgleiten.[/i]" [02]
<a name="2a"> </a>Die Angst der Reichen und Mächtigen vor gewaltsamen Krawallen und Unruhen der notleidenden Besitzlosen blieb bis heute bestimmendes Element des modernen Staatsapparats. Aber diese Angst der Herrschenden verschwand in ruhigeren Zeiten hinter dem fiskalischen Gesichtspunkt einer möglichst sparsamen Armenverwaltung. Je nach wirtschaftlicher und politischer Lage werden heute wie damals Polizeiknüppel hervorgeholt oder öffentliche Almosen.
[i]
[/i]2.2. Freiwillig-kollektive Vorsorge durch selbstverwaltete und betriebliche Hilfskassen
Gegenüber vor- und frühkapitalistischen Zuständen erhielt die Armut im entwickelten Kapitalismus jedoch ein völlig verändertes Gesicht.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist Armut nicht mehr personell festzumachen an einem begrenzten Personenkreis mit identifizierbaren individuellen Eigenschaften: Bauern ohne Land, Handwerker ohne Markt, Alte ohne Besitz, Kranke und Kinder ohne Angehörige etc.
Im Kapitalismus liegt das Armutsrisiko im Zentrum der Ã-konomie und der Gesellschaft: Die Lohnarbeiter stellen Hunderttausende und Millionen von Menschen - bei uns in Deutschland rund 80% der Erwerbstätigen - und jeder von ihnen ist ein potentiell Armer, wenn er seinen Arbeitsplatz verliert, wenn er durch Krankheit seine Arbeitskraft einbüßt, wenn er im Alter aus dem Arbeitsleben ausscheidet.
"[i]In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er ein Armer ist, ein potentieller Armer. Er ist seinen ökonomischen Bedingungen nach bloßes lebendiges Arbeitsvermögen, also auch mit den Bedürfnissen des Lebens ausgestattet. Bedürftigkeit nach allen Seiten hin, ohne objektives Dasein als Arbeitsvermögen (= Produktionsmittel) zur Realisierung desselben. Kann der Kapitalist seine profitbringende Mehrarbeit nicht brauchen, so kann der Lohnarbeiter seine notwendige Arbeit als Gegenwert für seinen Lohn nicht verrichten; seine Lebensmittel nicht produzieren. Kann sie dann nicht durch den Austausch erhalten, sondern, wenn er sie erhält, nur dadurch, dass Almosen... für ihn abfallen.... Er ist also potentieller Armer.[/i]” [03]
<a name="3a"> </a>Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter sind allgemeine und normale Risiken der Lohnarbeit, weil der Lebensunterhalt eines Lohnarbeiters davon abhängt, dass er einen Kapitalisten findet, der ihm einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt und dafür Lohn zahlt. Der Kapitalist tut das nur so weit und so lange, als er davon Profit erwarten kann.
Zwar schaffen Kapitalisten zunächst Arbeitsplätze, aber sowohl der erfolgreiche Kapitalist wie der erfolglose Kapitalist beginnen bald damit, Arbeitsplätze zu beseitigen: der erfolglose, weil er in der Konkurrenz untergeht und seinen Betrieb schließen muss, der erfolgreiche Kapitalist, damit er produktiver und arbeitssparender produziert als die Konkurrenz. Je erfolgreicher ein Kapitalist oder eine Kapitalistennation ist, desto wird die Zahl der Arbeitsplätze vermindert. Die moderne Massenarbeitslosigkeit zeugt von einer erfolgreichen Profitproduktion.
Auf solche langfristig strukturelle wie auf kurzfristig konjunkturelle Veränderungen des Arbeitsplatzangebots haben die Lohnarbeiter keinerlei Einfluss. Hinzu kommt, dass sie Arbeitsplatz und Existenzsicherheit auch aus"individuellem Pech" verlieren können: durch Krankheit, Unfall, durch mangelnde Aus- und Weiterbildung, aber spätestens dann, wenn ihre Arbeitskraft alt und verbraucht ist.
Das Armutsrisiko bedroht alle Lohnarbeiter, nicht nur eine begrenzte Schicht von Besitzlosen wie in vorindustrieller Zeit. Gegen die moderne Armut der kapitalistischen Lohnarbeit ist mit Arbeitshäusern und Polizeirazzien gegen Vagabunden, Herumtreiber und Asoziale wenig auszurichten.
Aber die Lohnarbeiter fanden selber eine Antwort für die besonderen Risiken ihrer sozialen Existenz:"[i]Als städtische Fabrikarbeiter nicht mehr auf die bewährten Bräuche der Verwandtschaft oder Nächstenliebe, Gilden oder Bruderschaften vertrauen konnten, mussten sie den urbanen Lebensbedingungen gemäß Ersatzformen freiwilliger Kooperation finden.... So gründeten Arbeiter... in den neuen Industriezentren 'Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit'....
Viele Arbeiterhilfsvereine bezogen Arbeitslosenhilfe, Krankengeld, Medikamente und ärztliche Behandlung in die Vorsorge ein. Manchmal konnten sie sogar Invaliden- und Altersrenten auszahlen oder den Hinterbliebenen verstorbener Mitglieder mit Witwenrenten helfen.[/i]" [04]
<a name="4a"> </a>"[i]'Nach Schätzungen gehörten um die Jahrhundertmitte (des 19. Jahrhunderts, wb) fast die Hälfte aller erwachsenen Einwohner von England und Wales derartigen Vereinen an.'... Tennstedt dokumentiert, dass 45 Prozent aller Einwohner Preußens in Krankenkassen mit durchschnittlich je bloß etwa hundert Mitgliedern versichert waren. Starr erwähnt Schätzungen, wonach 25 bis 30 Prozent der amerikanischen Familien 'bruderschaftlichen Orden und Wohltätigkeitsvereinen' angehörten, die oft auch Versicherungen anboten. In Amsterdam waren Ende des 19. Jahrhunderts rund vierzig Prozent der Bevölkerung auf Gegenseitigkeit versichert.[/i]" [05]
<a name="5a"> </a>Ã-konomisch brachten diese freiwilligen Hilfskassen gegenüber der traditionellen Armenfürsorge eine fundamentale ökonomische Änderung: Nicht mehr die Reichen gaben aus ihrem Überfluss den Armen, wie es über Jahrhunderte und Jahrtausende üblich war, sondern die"potentiell Armen" sammelten untereinander aus ihren dürftigen Lohneinkommen und kamen selber für ihre Armutsrisiken auf."[i]In der Individualversicherung werden die versicherten Risiken, die den einzelnen treffen können und von ihm allein nicht zu bewältigen wären, zusammengelegt. Der Beitrag bemisst sich im Verhältnis zur individuellen rechnerischen Wahrscheinlichkeit, dass der Schadensfall für den Versicherten eintritt.[/i]" [06] <a name="6a"> </a>Die privaten Hilfskassen brachten also für die Kapitalisten die nützliche Nebenwirkung, dass sie nicht für die Kosten der Lohnarbeiterrisiken aufkommen mussten, die sie selber verursachten.
Man fragt sich also zu Recht:"Wie lässt sich erklären, dass diese Form der gegenseitigen Hilfe mittels unabhängiger, gemeinsamer Organisationen von der Bildfläche verschwand?" [07] <a name="7a"> </a>Dafür gibt es wichtige wirtschaftliche Gründe:
Die Arbeiter-Hilfskassen waren vergleichsweise teuer, unsicher und in ihren Leistungen begrenzt.
2.2.1. Hilfskassen schlossen hohe Risiken aus
"Im Rückblick wissen wir, dass die im 19. Jahrhundert entstandenen kleinen selbstverwalteten Hilfskassen auf Gegenseitigkeit zum Scheitern verurteilt waren, da autonome, freiwillige Vereine stets die Bedürftigsten als 'zu hohe Risiken' ausschließen." [08]"<a name="8a"> </a>Mit Gelegenheits- oder Saisonarbeitern fühlten sie sich ebenso wenig verbunden wie mit all jenen anderen, die ihnen als 'Abschaum der Gesellschaft' vorkamen: Sie würden bloß die gemeinsame Solidarität unterhöhlen und die kollektiv zu tragenden Risiken steigern." [09]
<a name="9a"> </a>2.2.2. Hilfskassen waren relativ teuer
Private Versicherungen und Hilfskassen waren relativ teuer, weil sie nach dem sogenannten Kapitaldeckungsverfahren arbeiten:"Unter anderem, um zu vermeiden, dass die alleinige Schadensdeckung aus den laufenden Prämien erfolgt, sind die Privatversicherungen (auch aus Gründen der sogenannten Mündelsicherheit) verpflichtet, ein Deckungskapital aufzubauen, auf das im Bedarfsfall zusätzlich zurückgegriffen werden kann." [10].
<a name="10a"> </a>Sie sind zweitens teuer, weil die Prämien Verwaltungsaufwand und - bei profitorientierten Versicherungen - auch Gewinn enthalten."Die Versicherungsprämie setzt sich... nicht nur aus den reinen Risikokosten...zusammen..., sondern deckt zusätzlich die Verwaltungs- und Betriebskosten sowie den Gewinn der Versicherung." [11] <a name="11a"> </a>Je kleiner der Personenkreis der Versicherten ist, desto höher ist der relative Verwaltungsaufwand:
2.2.3. Die Hilfskassen kumulierten Risiken
Die Mitglieder der Hilfskassen hatten meist den gleichen Beruf oder die gleiche Herkunft, und waren oft etwa gleichaltrig."homogene Mitgliedschaft bedeutete ähnliche Risiken. Beschäftigte der gleichen Branche waren gleichermaßen von typischen Berufskrankheiten bedroht und verloren ihre Arbeitsplätze oft gleichzeitig." [12] <a name="12a"> </a>Solche Fälle reduzierten die ausbezahlten Leistungen der Hilfskassen so weit, dass das Risiko kaum noch abgedeckt werden konnte.
Weder hielten die selbstverwalteten Arbeiter-Hilfskassen Schritt mit der Ausdehnung der Lohnarbeit, noch mit der Zunahme der Lohnarbeiter-Risiken."Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg die durchschnittliche Lebenserwartung für Arbeiter schneller als bei der Beitragsfestsetzung vorausgesehen, so dass arbeitsunfähige oder pensionierte Anspruchsteller länger Bezüge erhielten als erwartet. Aufgrund dieser demografischen Entwicklung kamen - besonders in Großbritannien - auch viele Arbeiterhilfsvereine in erhebliche Schwierigkeiten." [13]
<a name="13a"> </a>Staatliche Zwangsversicherungen, die einen viel größeren Personenkreis erfassten, konnten die Risiken breiter verteilen und hatten gleichzeitig ein höheres Beitragsaufkommen. So konnten sie im Vergleich zu selbstverwalteten und betrieblichen Hilfskassen bessere Leistungen mit niedrigeren Beiträgen bieten.
<a name="note01">[01] Kaufhold, Karl Heinrich: Die Epoche des Merkantilismus. In: Schäfer, Hermann Hrsg: Wirtschaftsgeschichte der deutschsprachigen Länder vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 1989: 51f.</a>zum Text
<a name="note02"> [02] Piven/Cloward, zit. n. de Swaan: 59</a>zum Text
<a name="note03"> [03] K. Marx, Grundrisse, S. 497. </a>zum Text
<a name="note04"> [04] de Swaan: 161. </a>zum Text
<a name="note05"> [05] de Swaan: 162</a>zum Text
<a name="note06"> [06] Petersen: 53</a>zum Text
<a name="note07"> [07] de Swaan: 162</a>zum Text
<a name="note08"> [08] de Swaan: 22. </a>zum Text
<a name="note09"> [09] de Swaan: 165. </a>zum Text
<a name="note10"> [10] Petersen: 57</a>zum Text
<a name="note11"> [11] Petersen: 54</a>zum Text
<a name="note12"> [12] de Swaan: 164</a>zum Text
<a name="note13"> [13] de Swaan: 190. </a>zum Text
Ende des zweiten Teils.
Wal Buchenberg, 6.7.03.
Benutzte Literatur
Borchert, Jürgen: Renten vor dem Absturz. Ist der Sozialstaat am Ende? Frankfurt 1993.
Buchenberg, Wal (Hrsg): Karl Marx, Das Kapital. Kommentierte Kurzfassung aller drei Bände. Verlag für Wissenschaft und Forschung VWF Berlin 2002. http://www.vwf.de/autoren/3-89700-360-0.php3[b]
Gillen, Gabi/Möller/Michael: Anschluss verpasst. Armut in Deutschland. Dietz Bonn 1992.
Hanesch, W. /Krause, P./Bäcker, G.: Armut und Ungleichheit in Deutschland. rororo Reinbek 2000.
Kaufhold, Karl Heinrich: Die Epoche des Merkantilismus. In: Schäfer, Hermann (Hrsg): Wirtschaftsgeschichte der deutschsprachigen Länder vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 1989
Lampert, Heinz: Staatliche Sozialpolitik im Dritten Reich. In: Bracher/Funke/Jacobsen (Hrsg): Nationalsozialistische Diktatur 1933 - 1945. Eine Bilanz. Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 1986: 177 - 205.
Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution? Leipzig 1899. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd.1.1.: 367 - 466.)
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ã-konomie (Rohentwurf). 1857/58. Berlin 1974.
Müller, Wolfgang: Die Grenzen der Sozialpolitik in der Marktwirtschaft. In: Schäfer, Gerd/Nedelmann, Carl: Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik. Bd.I. es Frankfurt 1969. 14 - 47.
Nolte, Detlev: Die Gesetzliche Rentenversicherung als unüberwindliche Barriere der Sozialpolitik? Analyse des Rentenversicherungssystems in Hinblick auf die Finanzierung der Sozialrenten. (Diss. Wiso Osnabrück 1987) Frankfurt 1988.
Petersen, Hans-Georg: Sozialökonomik. Stuttgart 1989.
Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. UTB 2. Aufl. 1987.
Strasser, Johano: Grenzen des Sozialstaats? Soziale Sicherung in der Wachstumskrise. EVA Köln 1979.
Swaan, Abram de: Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit. Frankfurt 1993. (Originalausgabe: Amsterdam 1989).
Ziegler, Gerhard: Alter in Armut? Das Fiasko der staatlichen Altersversorgung. Hamburg 1992.
Zöllner, Detlev: Sozialpolitik. In: Benz, Wolfgang (Hrsg): Die Bundesrepublik Deutschland. Geschichte in drei Bänden. Bd. 2: Gesellschaft. Frankfurt 1983.
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