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Wahn und Wirklichkeit
Wie imperiale Hybris zum Alptraum gerinnt
von Dipl.-Päd. Jürgen Rose, Deutschland*
Die anglo-amerikanischen Besatzungstruppen im Irak geraten immer tiefer in
den Sumpf eines Kolonialkrieges.
Die tagtäglichen Verlustmeldungen vornehmlich der amerikanischen
Okkupationsstreitkräfte im Irak wecken Reminiszenzen an eine beklemmende
Szene aus dem Stalingrad-Epos «Hunde, wollt ihr ewig leben?»: Die Rote
Armee hatte in Hörweite der eingekesselten Wehrmachtstruppen Lautsprecher
in Stellung gebracht, um deren Widerstandswillen zu zermürben. In endloser
Wiederholung ertönte das Paukenschlagmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie,
verknüpft mit der Sentenz: «Alle sieben Sekunden stirbt ein deutscher Soldat -
Stalingrad - Massengrab.» Im Irak stirbt derzeit alle 24 Stunden ein
amerikanischer Soldat, und mit der unerbittlichen Präzision eines Uhrwerks
nähert sich die Verlustmarge, die in den Reihen der anglo-amerikanischen
Besatzungstruppen zu verzeichnen ist - seit US-Präsident George W. Bush am
1. Mai in theatralischer Inszenierung das offizielle Ende der Kampfhandlungen
erklärt und seinen grandiosen Sieg verkündet hatte - der Zahl der während des
vierwöchigen Eroberungskrieges Gefallenen an.
Derweil meldet sich aus dem Off der angeblich entmachtete Diktator zu Wort.
Mehrfach strahlte der arabische TV-Sender al-Jazzera letzte Woche Tonbänder
aus, auf denen Saddam Hussein alle Iraker aufruft, sich am Widerstand gegen
die Besatzungsmächte zu beteiligen. Geheimdienstkreise gehen davon aus,
dass die erst im Juni aufgezeichneten Tonbänder authentisch sind. Gleichzeitig
sprechen die Indizien immer deutlicher dafür, dass es sich bei den Attacken
gegen die Besatzer nicht um singuläre Ereignisse, individuelle Racheakte oder
zufällige Übergriffe handelt. Im Gegenteil:
Alle Erkenntnisse aus der Lageentwicklung deuten darauf hin, dass eine
ausgewachsene Guerillaorganisation im Begriff steht, sich zu formieren. So hat
sich unter dem Namen «Die Rückkehr» eine lose Gruppierung bewaffneter
Angehöriger aus diversen Sicherheitsdiensten Saddam Husseins
zusammengefunden. Daneben existieren zwei Milizen namens
«Schlangen-Partei» und «Neue Wiederkehr». Die sogenannte «Irakische
Nationale Front der Fedajjin» sowie die «Irakischen Widerstandsbrigaden»
bilden weitere Organisationen. Allesamt verfolgen diese Guerillagruppen eine
Strategie der systematischen Zerstörung der irakischen Ã-l- und
Energieinfrastruktur mit dem Ziel, der Besatzungsmacht die Wiederherstellung
stabiler staatlicher Strukturen und gesellschaftlicher Verhältnisse unmöglich zu
machen. Dadurch suchen sie eine umfassende Kontrolle des Iraks seitens der
anglo-amerikanischen Übergangsverwaltung zu verhindern. Flankierend sorgen
Exekutionen von Kollaborateuren dafür, dass jegliche Zusammenarbeit mit der
Besatzungsmacht ein tödliches Risiko bildet.
Ihre Operationsbasis hat die Guerilla im sogenannten «Dreieck des Todes»,
einer hauptsächlich von sunnitischen Gefolgsleuten Saddam Husseins
bewohnten Region, deren Areal grob von den Städten Bagdad, Fallujah,
Ramadi, Hit, Rawa, Tikrit, Balad und Baquba markiert wird. Bis dato geht das
Konzept der Widerständler voll auf. Die angeblich mächtigste
Militärmaschinerie der Welt kann weder die Sicherheit der Bevölkerung,
geschweige denn die eigene garantieren. Die Versorgungslage ist katastrophal,
es fehlt an Strom, sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Benzin und
Dieselöl; humanitäre Hilfslieferungen werden mit Waffengewalt geraubt, die
archäologischen Stätten flächendeckend geplündert.
Ganz offenkundig ist die supermoderne High-Tech-Streitmacht der USA weder
mental noch konzeptionell auf eine derartige Entwicklung und Situation
vorbereitet gewesen. Der erste Schock bestand darin, dass die Invasoren vom
irakischen Volk nicht wie erwartet als Befreier begrüsst und umjubelt wurden.
Der zweite lag in der Erfahrung, dass selbst meilenweit überlegene
amerikanische Rüstungstechnologie im asymmetrischen Krieg nur bedingt
taugt. Der dritte Schock resultiert daraus, dass die US-Doktrin der «Full
Spectrum Dominance» gegen einen fanatischen Gegner offenkundig nicht greift.
Gemäss dieser soll der Krieg aus der Distanz geführt werden, vor allem mit
überlegenen, weltraum- und luftgestützten Aufklärungssystemen, modernster
Informations- und Führungstechnologie sowie konkurrenzlos überlegenen
Luftkriegsmitteln. Bodengebundene Streitkräfte sollen tendenziell eigentlich
nur noch den Luftkrieg mittels Aufklärung und Zielbeleuchtung unterstützen
sowie sonstige Spezial- oder Kommandooperationen durchführen. Die zentrale
Intention dabei: unbedingt eigene Verluste an Menschenleben vermeiden.
Die massenmedial in Szene gesetzte Heimkehr grösserer Mengen eigener
Soldaten in schwarzen Leichensäcken wirkt sich nämlich ausgesprochen negativ
auf die Wählergunst aus. Dementsprechend versuchen die US-Strategen auch,
Streitkräfte für den stets mit erheblichen Verlustrisiken verbundenen Krieg am
Boden unter den Vasallenvölkern zu rekrutieren. Im Falle Irak klappte das aber
nicht, da weder die Kurden im Norden noch die Schiiten im Süden das Risiko
eingehen wollten, ein zweites Mal von einem US-Präsidenten verraten zu
werden. Diesmal also mussten US-Army und Marine Corps selber antreten.
Den Blitzkrieg gegen die irakische «Barfuss»-Armee haben sie
erwartungsgemäss gewonnen - nicht zuletzt dadurch, dass gegnerische
Kommandeure schlicht qua Bestechung vom Schlachtfeld weggekauft wurden.
Den Frieden stiften - die weitaus schwierigere Herausforderung -, das scheint
den High-Tech-Kriegern indessen nicht zu gelingen. Nicht einmal für Ruhe und
Ordnung zu sorgen und die völkerrechtlich verbindlich fixierten Grundpflichten
einer Besatzungsmacht zu erfüllen, erweisen sie sich als fähig - und prompt
erschallt der Appell an Hilfeleistung durch das «alte Europa». An
Unverfrorenheit und Dreistigkeit ist solch Ansinnen nicht zu überbieten: Dem
Räuber wird der Boden unter den Füssen zu heiss, und in seiner Zwangslage
sucht er Spiessgesellen - gegen Beteiligung an der Beute.
Der Eindruck liegt mithin nahe, dass Frieden zu sichern und zu stiften gar nicht
den essentiellen Auftrag der US-Streitkräfte ausmacht. Vielmehr handelt es
sich bei ihnen offenbar um ein auf einen einzigen Zweck hin optimiertes
Instrument: nämlich siegreich Krieg zu führen. Mit diesem Militärapparat in
Händen erweisen sich die USA mehr und mehr als Chaosmacht, die in Abkehr
von Clausewitz den Krieg nicht mehr als «Fortsetzung von Politik unter
Einmischung anderer Mittel» betreibt, sondern den Krieg per se zum Zweck
erhebt. Legitimiert wird dieser als «Kampf gegen den Terror und
Massenvernichtungswaffen». Als solcher kann er aber niemals endgültig
gewonnen werden und lässt sich somit praktischerweise ad infinitum
perpetuieren. Dies sichert den USA auf Dauer den Anspruch auf die Rolle der
«Weltpolizisten». Auch zwingt die Suggestion permanenter Terrorgefahr die
Vasallenvölker an die Seite ihrer Schutzmacht. Und schliesslich ermöglichen
patriotische Verblödung und massenmedial inszenierte Meinungsmanipulation
in Kriegszeiten die Aufrechterhaltung einer Illusion von Demokratie, die sich
unter der Hand längst in eine mehr oder minder autoritäre Plutokratie
verwandelt. Bei näherer Betrachtung also entpuppt sich der «Vierte Weltkrieg»
(CIA-Direktor a. D. James Woolsey) unversehens im Kern als Operation zur
Absicherung der ökonomischen Kolonialisierung des Planeten mit militärischen
Mitteln.
Europa sieht sich demzufolge mit dem Umstand konfrontiert, dass die grösste
Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit auf absehbare Zeit
vom Weissen Haus in Washington ausgeht. Eine autonom handlungsfähige
«Europäische Verteidigungsunion» stellt die einzig tragfähige
sicherheitspolitische Antwort auf diese Gefahr dar. Mit de Gaulle gegen Bush
muss die Devise lauten!
*Dipl.-Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag seine
persönlichen Auffassungen.
Artikel 4: Zeit-Fragen Nr. 28 vom 28. 7. 2003, letzte Änderung am 29. 7. 2003
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