--> Die beiden folgenden Artikel aus der Zeit 20/2000 und 18/2001 nennen m.E. das Problem sehr exakt:
<font size=5>Die Erziehungskrise</font>
Kindheit heute, Teil II: <font color="#FF0000">Viele Eltern stehlen sich aus ihrer Verantwortung. Die Schule ist mit den unerzogenen Schülern überfordert</font>
Susanne Gaschke
Eine Gesamtschule in einem alten Arbeiterviertel, das gerade den Rückzug der örtlichen Großindustrie zu verkraften hat. Der Klassenlehrerin einer fünften Klasse fällt auf, dass einer ihrer Schützlinge häufig verprügelt wird. Und dass das Kind ein typisches"Opferverhalten" an den Tag legt: Also einerseits Stärkere provoziert, sich aber andererseits kaum zu wehren weiß. Ein Anruf bei der Mutter soll klären, ob man dem Jungen helfen kann. Ob er zu Hause Schwierigkeiten hat, die sein Verhalten in der Schule beeinflussen. Die hat er allerdings. Seine beiden älteren Brüder, sagt die Mutter, steckten ihm gelegentlich den Kopf ins Klo:"Aber da halt ich mich raus."
Da halt ich mich raus: Selten geht die Unempfindlichkeit von Eltern so weit wie in diesem Fall. Aber aus der Perspektive der Schule <font color="#FF0000">markiert der Satz einen Trend: Eltern ziehen sich aus ihrer Erziehungsverantwortung zurück</font>. Natürlich nicht alle Eltern, natürlich nicht an jeder Schule, nicht in jedem Milieu. Doch offenbar interpretieren etliche Mütter und Väter das allgemeine Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft dahingehend, dass es Sache der Lehrer sei, die Kinder zu erziehen: Schließlich würden sie dafür bezahlt.
Nimmt man hingegen die Beobachtungen der Pädagogen ernst, dann steht unsere Gesellschaft vor einem <font color="#FF0000">nennenswerten Problem</font>, wenn nicht gar vor einer <font color="#FF0000">Erziehungskatastrophe</font>. <font color="#FF0000">Während man vor zwanzig Jahren mit ein oder zwei auffälligen Kindern pro Klasse rechnen musste, sind es heute eher fünf oder sechs</font>.[Eigener Kommentar: Das ist eines der Hauptprobleme. Man darf raten woher das wohl kommt?] Wenn in den Familien <font color="#FF0000">keine Primärsozialisation </font>stattfindet, wachsen der Schule neue Aufgaben zu, für die sie bisher nicht vorgesehen war: Dann muss sie lehren, wie man Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen kann, ohne ihnen ein Bein zu stellen; welche Begrüßungsrituale unter zivilisierten Menschen üblich sind; <font color="#FF0000">dass"alte Fotze" keine angemessene Anrede für die Musiklehrerin ist und dass sechs Dosen Coca-Cola keine vollwertige Nahrungsration für den Tag sind</font>.
Repräsentativität ist bei Streifzügen durch die Schulen kaum herzustellen: Zu groß sind die Unterschiede zwischen Schularten und Bundesländern, Stadt und Land, Wohngebieten unterschiedlicher Qualität. Doch bestimmte Phänomene (unsere Beispiele stammen sämtlich aus Schleswig-Holstein) tauchen mit einer Regelmäßigkeit in den Berichten der Lehrer auf, die aussagekräftig sein dürfte.
<font color="#FF0000">"Das große, unauffällige Mittelfeld wird zugunsten der Extreme kleiner"</font>[Eigener Kommentar: Korrekt und voll ins Schwarze getroffen], sagt der Rektor einer Grund- und Hauptschule in einem kleinbürgerlichen Stadtteil: <font color="#FF0000">"Ein Teil unserer Kinder ist vollkommen überbehütet, ein anderer Teil ist verwahrlost."</font>[Eigener Kommentar: Die einen leben in armen Familien bei anderen werden selbst Dinge wie die Handyrechnung und der Urlaub mitbezahlt, teure Klamotten gekauft und noch der Führerschein gezahlt usw.] Die Verhätschelten werden zur Schule gefahren und aufmerksam auf je- des Anzeichen von Krankheit untersucht. Die Verwahrlosten kommen ohne Frühstück, ohne warme Kleidung, ohne Arbeitsmaterialien in die Schule. Beiden Gruppen werden zu Hause - <font color="#FF0000">vermeintliche Liberalität </font>hier, Unfähigkeit dort - <font color="#FF0000">kaum Grenzen gesetzt</font>. Solche Kinder, sagt der Rektor, zeigten häufig eine geringe Frustrationstoleranz, seien empört, wütend und enttäuscht bei allem, was ihnen in der Schule misslinge. Eine Gesamtschullehrerin drückt es drastischer aus:"Diese Kinder sind eine Belastung, <font color="#FF0000">aber nicht belastbar</font>." Sie prügelten und beschimpften Mitschüler, brächen aber selbst beim geringsten Anlass in Tränen aus."Und sie können nicht zuhören, weil zu Hause niemand ist, der ihnen zuhört", sagt eine von drei Sozialpädagoginnen, die an derselben Gesamtschule für problematische Einzelfälle zuständig ist:"Manchen von ihnen fehlt jede Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen."
Die Einzelbetreuung von Kindern, die den Unterricht massiv stören, gehört bei immer mehr Grund-, Haupt- und Gesamtschulen zum Standard: Die Kinder empfinden Extrastunden in den"pädagogischen Inseln" durchaus nicht als Strafe: Sie sind vielmehr glücklich, dass sich endlich jemand um sie kümmert. Doch der Einsatz von Sozialpädagogen und Betreuungslehrern ist eine Kostenfrage.
Auch an Gymnasien gibt es Formen von Verwahrlosung
Für den normalen Unterricht bedeutet die Verdreifachung der Problemkinder, dass beispielsweise die Deutschstunde in einer fünften Hauptschulklasse zur Dressurnummer wird: <font color="#FF0000">Etliche Kinder sind nicht in der Lage, den 45-Minuten-Takt auch nur annähernd durchzuhalten</font>: Sie stehen auf, gehen umher, summen vor sich hin, piesacken ihre Tischnachbarn. Vier Jungen haben Schwierigkeiten, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten: Sie grimassieren, lassen ihre Zungen heraushängen. Zwei Kinder sind übernächtigt. Nahezu alle haben Probleme mit dem Vorlesen. Die eigentliche Aufgabe, nämlich Teile der Geschichte von der Arche Noah in die richtige Reihenfolge zu bringen, <font color="#FF0000">bewältigen die wenigsten</font>."Es gibt ein <font color="#FF0000">Intelligenzproblem und ein Verhaltensproblem</font>", sagt die Klassenlehrerin."<font color="#FF0000">Einige Kinder hier gehörten eigentlich auf die Sonderschule</font>. Andere wachsen zu Hause quasi wild auf, <font color="#FF0000">ohne alle Umgangsformen</font>." <font color="#FF0000">Seit in den Medien viel von Hyperaktivität die Rede sei, könne man beobachten, wie sich Problemeltern dieses Erklärungsmuster für die Schwierigkeiten ihrer Kinder zu eigen machten: Statt etwas an ih- rem eigenen Erziehungseinsatz zu ändern, zögen sie sich darauf zurück, ihr Kind sei krank. Es brauche Medikamente, nicht sorgsamere Behandlung</font>.
Einzelne Sonderschulen werden in diesem Bundesland im Namen der"Integration" zurückgebaut, selbst schwierigste Kinder besuchen die normale Hauptschule. Ganz schwere Fälle von Verhaltensstörungen können diese Schulen dann nur noch an die Kinderpsychiatrie abgeben. Vorher lassen sich die Pädagogen durchaus einiges einfallen. Im Fall eines gewalttätigen Sechstklässlers erreichte eine Hauptschule in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, dass die Eltern des Jungen in jeder Pause antreten und ihr Kind auf dem Schulhof beaufsichtigen mussten. Solche unkonventionellen Lösungen erfordern eine enge Kooperation mit der örtlichen Jugendhilfe. Häufig scheitert sie an Zeitmangel - und an Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den unterschiedlichen pädagogischen Professionen. Ein Großteil der Lehrer versteht sich nach wie vor als Fachlehrer, die in erster Linie Wissen zu vermitteln hätten. Und in der Tat können Kinder, gerade die benachteiligten, auf dieses Wissen nicht verzichten."Ich wende aber in meinen Unterstufenklassen mehr Zeit für Erziehungsaufgaben als für den eigentlichen Unterricht auf", sagt eine Gesamtschullehrerin. Besonders zeitraubend sei der Kampf um Konzentration. Deren größte Feinde heißen"Übermüdung" und"Fernsehen".
<font color="#FF0000">Auch die Einübung der berüchtigten Sekundärtugenden Pünktlichkeit und Höflichkeit fällt zunehmend in die Zuständigkeit der Schule</font>."Man sollte diese Dinge nicht unterschätzen", sagt ein Realschulrektor:"Die Arbeitgeber, mit denen wir in Kontakt stehen, signalisieren uns, wie viel Wert sie darauf legen. Der äußere Eindruck ist oft wichtiger als die Noten."
<font color="#FF0000">Massive Disziplin- und Verhaltensprobleme mögen in erster Linie in schwierigen sozialen Verhältnissen auftreten. Doch die Auswirkungen eines vermeintlich liberalen, in Wirklichkeit aber gleichgültigen Erziehungsstils lassen sich auch an Gymnasien beobachten: zum Beispiel in der Form von Markenterror und Alkoholexzessen</font>. Manche Eltern, die das Wochenende, natürlich ohne Kinder, in ihrem Ferienhaus auf Sylt verbringen, <font color="#FF0000">füllen den häuslichen Kühlschrank mit Aldi-Champagner</font>, damit die teureren Flaschen im Keller unangetastet bleiben.[Eigener Kommentar: Leider auch keine Übertreibung. So etwas ähnliches habe ich auch schon öfter gesehen]
Je weniger auch die privilegierten Eltern bereit sind, ihren Kindern Zeit zu widmen und sich mit ihnen auseinander zu setzen, desto schlechter sind deren Chancen, urteilsfähige Erwachsene zu werden. Eine Deutsch- und Geschichtslehrerin an einem Gymnasium in einem teuren Villenvorort beschreibt die mangelnde Kritikfähigkeit ihrer Schüler:"<font color="#FF0000">Ich kann ihnen jede noch so irrsinnige Quelle vorlegen - sie sagen dann: Ja, seltsam, aber wenn das die Meinung des Autors ist...</font>" Von zu Hause brächten die Schüler immer <font color="#FF0000">seltener die Fähigkeit mit, zwischen einer Meinung und einem Argument zu unterscheiden</font>.
Der Befund der schwindenden Erziehungsbereitschaft aus Gesprächen mit Lehrern in einer Region ist notwendig lückenhaft; es wird viele Gegenbeispiele geben. Dennoch täte die (bildungs)politisch interessierte Ã-ffentlichkeit gut daran, die sich abzeichnende Krise der Erziehung ernst zu nehmen - vielleicht so ernst wie jene Zustände, die unter dem Stichwort <font color="#FF0000">"Bildungskatastrophe"</font> in den sechziger Jahren Anlass zu einem der größten Reformprojekte der Bundesrepublik gaben. Wie die staatlichen Institutionen für diesen Fall aufzurüsten wären, lässt sich immerhin grob umreißen: Die Ganztagsschulangebote müssten ausgebaut werden - wenn es aus Kostengründen nicht anders geht, zunächst an sozial benachteiligten Standorten. Betreuungslehrerstunden sind dringend notwendig, aber sie dürfen nicht zu Lasten des Fachunterrichts verrechnet werden. Der Rückbau der Sonderschulen sollte einer Revision unterzogen werden: Dient er wirklich den schwächsten Schülern, oder etikettiert er als"Integration", was in Wahrheit eine Sparmaßnahme ist?
Wenn es nicht mehr durchsetzbar ist, dass Eltern ihre Kinder vernünftig ernähren, brauchen die Schulen Kantinen - und Unterricht in Ernährungslehre. Wenn Eltern ihren Kindern nicht mehr beibringen können, dass man andere Kinder nicht zusammenschlägt, brauchen die Lehrer andere Strafen als schriftliche Verweise - zum Beispiel Bewegung an frischer Luft unter sportpädagogischer Anleitung.
<font color="#FF0000">Wenn dem Markenterror in den Elternhäusern kein Riegel vorgeschoben wird, kann man über Schuluniformen nachdenken </font>- wie über alles, was einem formlosen, unstrukturierten Dasein ein Gerüst einzieht. Wenn schließlich in manchen Familien eine geradezu gewalttätige Vernachlässigung herrscht, braucht der Staat bessere Interventionsmöglichkeiten, um die Eltern zur Erfüllung ihrer Erziehungspflicht zu zwingen.
All dies kostet Geld. Und wird, mit wie viel Engagement die Schulen sich auch zu Erziehungsanstalten wandeln, immer nur eine Hilfslösung bleiben. Es führt kein Weg daran vorbei: Eltern müssen ihre Kinder selbst erziehen. Keine Ehekrise, keine Arbeitsüberlastung, keine Pseudoliberalität, keine Unwissenheit sind eine Entschuldigung dafür, es nicht zu tun.
(c) DIE ZEIT 2000
Quelle: http://www.zeit.de/archiv/2000/20/200020.schule_.xml, Die Zeit 20/2000
Bemerkenswert finde ich, daß die Autorin bereits vor Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im November/Dezember 2000 die Probleme erkannte und beim Namen nannte.
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S C H U L E & F A M I L I E
<font size=5>Die Elternkatastrophe </font>
<font color="#FF0000">Zur Erziehung abgeliefert: Die Schule kann an den Kindern nicht wettmachen, was die Familie sträflich versäumt </font>
Susanne Gaschke
<font color="#FF0000">Wenn Ahnungen in Gewissheit umschlagen</font>:<font color="#FF0000"> Diesen Punkt haben wir im Bildungswesen erreicht</font>. Gefragt ist allerdings nicht die"Bildungsoffensive", die neuerdings in schöner Eintracht von Bundeskanzler, Ministerpräsidenten und Wirtschaftsbossen gefordert wird.
Wir wissen längst, dass den Schulen eine Legion neuer Aufgaben, von <font color="#FF0000">Computerkunde bis Ernährungslehre</font>, zuwachsen. Wir wissen, dass deutsche Schüler <font color="#FF0000">im internationalen Vergleich nicht überragend abschneiden</font>, dass es viele ausgebrannte oder unterengagierte Lehrer gibt. Wir wissen es aus den Medien, aus den wohlfeilen Aufrüttelungsreden. <font color="#FF0000">Doch über die Bedingung des lauthals beschworenen Aufbruchs in die Wissensgesellschaft wird beharrlich geschwiegen: den Elternbeitrag zur"Bildungsoffensive", die Erziehung</font>.
Wer eigene Kinder hat, wer sich in den Schulen umsieht und den guten und kämpferischen Lehrern zuhört (von denen es mehr gibt, als die Medien suggerieren), der sieht sich mit einem dramatischen Widerspruch zwischen zweckoptimistischer Rhetorik und ernüchternder Wirklichkeit konfrontiert. Die Schulen sollen immer mehr lehren - <font color="#FF0000">und die Schüler bringen immer weniger von zu Hause mit</font>.
Der Deutsche Lehrerverband hat sich in der vergangenen Woche mit einem drängenden Appell (www.lehrerverband.de) an die Eltern gewandt:"Bildungsoffensiven", heißt es darin, <font color="#FF0000">"sind nur denkbar, wenn sie von den Eltern zu Hause durch aktives Erziehen mitgetragen werden."</font>
<font color="#FF0000">"Aktives Erziehen" ist die dürre Umschreibung für Selbstverständlichkeiten, die keine mehr sind</font>. Dazu gehört, dass Kinder vor der Schule ein Frühstück bekommen; dass es irgendjemanden interessiert, ob und wie sie ihre Schularbeiten erledigen; dass sie ausgeschlafen zur Schule gehen; dass sie am Nachmittag Gelegenheit zu Sport und Spiel haben; <font color="#FF0000">dass die kulturellen Anregungen im Elternhaus sich nicht auf Dauerfernsehen beschränken</font>; dass Schuleschwänzen zu Hause nicht verharmlost wird; <font color="#FF0000">dass Jugendliche nicht mehr Zeit beim Jobben als im Unterricht verbringen</font>; dass Kinder sich halbwegs artikulieren können; dass Eltern die Elternversammlungen besuchen.
Solche scheinbar banalen Rezepte sind keine Hirngespinste arbeitsscheuer Schulmeister. <font color="#FF0000">Denn dramatisch ist die Zunahme der"Verhaltensauffälligkeiten": Mussten Lehrer vor zwanzig Jahren mit ein bis zwei schwierigen Schülern pro Klasse rechnen, so sind es heute fünf oder sechs</font>. Diverse Statistiken liefern Beweise für die körperliche und seelische Vernachlässigung. Kinderärzte beobachten immer öfter Konzentrationsverlust und Hyperaktivität. Sprachheilpädagogen notieren alarmiert Sprachstörungen bei rund 20 Prozent der Erstklässler. Motorische Defizite haben den Unterricht im Geräteturnen dezimiert: Zu gefährlich, wenn man nicht einmal sicher auf einem Bein stehen kann, lautet die Begründung. <font color="#FF0000">Deutsche Schulkinder gehören nach einer Studie der WHO (Health Behavior in School-Aged Children Survey 1997/98) zu den müdesten in Europa</font>. Die Erklärung?"Hoher Fernsehkonsum, der Gebrauch psychoaktiver Substanzen, mangelnde Bewegung und Depressionen".
Die Charakterbildung beginnt zu Hause
Die Förderung geistiger Interessen im Elternhaus schwindet dahin. <font color="#FF0000">Während der tägliche Fernsehkonsum je nach Alter bis zu dreieinhalb Stunden auffrisst</font>, schrumpft die Zahl der lesefreundlichen Haushalte. Animierten 1992 knapp die Hälfte aller Familien ihre Kinder zum Lesen, so tut dies heute nur noch ein Viertel.
Von der Ernährung bis zum Spracherwerb - all dies sind primäre Erziehungsleistungen, die eine staatliche Institution wie die Schule den Eltern nicht abnehmen kann. Sie soll sie unterstützen - gewiss. Aber dieser Beistand darf nicht zulasten von Bildung und Unterricht gehen. Andernfalls bleibt nicht nur das Gerede von der Bildungsoffensive ein Witz - allen Kindern wird dann die Chance genommen, zukunftsträchtiges Basiswissen zu erwerben.
Die Mehrheit der Eltern bemüht sich immer noch, ihren Kindern eine liebevolle und aufmerksame Erziehung angedeihen zu lassen. Doch eine wachsende Minderheit verdirbt die Preise - und das Schulklima für alle. Dabei handelt es sich nicht bloß um sozial Benachteiligte; Erziehungsverweigerung findet sich ebenso unter viel beschäftigten Akademikern. Die Gründe für die wachsende Gleichgültigkeit sind vielfältig: <font color="#FF0000">Im Westen speist sie sich aus falsch verstandenen Restbeständen der antiautoritären Ideologie </font>(die heute freilich nur noch Bequemlichkeit maskiert) und einem über Jahrzehnte eingeübten Selbstverwirklichungsritual. Im Osten beanspruchte der Staat ohnehin das Monopol auf die Erziehung und gewöhnte die Eltern an den pädagogischen Volldienstleister.
Alle, die Schulkinder haben, kennen Vertreter der verantwortungslosen Minderheit von Elternversammlungen: <font color="#FF0000">Wenn deren Kind keine Hausaufgaben macht, muss sich der Lehrer einsetzen. Wenn es andere Kinder schlägt, ist es provoziert worden. Wenn die Noten absacken, wird erst der Nachhilfelehrer, dann der Anwalt mobilisiert. Wenn der Urlaub sich nicht anders buchen lässt, fangen die Ferien eben eine Woche früher an. Solche Erziehungs-"Berechtigten" lassen sich nur Rechte, aber keine Pflichten zurechnen</font>.
<font color="#FF0000">Die Mehrheit der Eltern muss sich gegen diese Unbekümmertheit zur Wehr setzen</font>. Die Frage, wie weit man eine der privatesten Angelegenheiten, die Kindererziehung, an den Staat delegieren kann, gehört an jeden Elternstammtisch, auf jedes bildungspolitische Podium. Es ist kein Angriff auf die Menschenrechte, wenn man Eltern auch am Ende eines Arbeitstages <font color="#FF0000">Zuwendung zu ihren Kindern abverlangt, die über das Aushändigen der Fernbedienung hinausgeht</font>.
Die Forderung nach flächendeckender Einführung der Ganztagsschule, die so oft in selbst entlastender Absicht erhoben wird, greift zu kurz, lenkt von der Erziehungskrise in den Elternhäusern ab und verschweigt die unerwünschten Nebeneffekte der aushäusigen Kinderbetreuung: Eine US-Langzeitstudie an 1300 Kindergarten- und Hortkindern hat just eindeutige Zusammenhänge zwischen langer Fremdbetreuung und gesteigerter Aggressivität nachgewiesen. Offenbar ist die Zeit in der Familie besonders wichtig. Die Ganztagsschule kann für benachteiligte Kinder eine Verbesserung gegenüber der häuslichen Situation darstellen; sie ist für manche eine ökonomische Notwendigkeit, für viele nur mehr Annehmlichkeit.
<font color="#FF0000">Doch keine Schule kann das Elternhaus ersetzen</font>, wo Wissens- und Charakterbildung beginnen. Bildungsoffensive? Zuerst die Erziehungsoffensive.
Quelle: http://www.zeit.de/archiv/2001/18/200118_1._leiter.xml, Die Zeit 18/2001
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-->K I N D E R F E R N S E H E N
<font size=5>Fernsehen ist kein Kinderspiel </font>
Die Medienpädagogik macht es sich zu leicht und <font color="#FF0000">drückt sich vor der entscheidenden Frage: Warum sollen Kinder überhaupt fernsehen? </font>
Susanne Gaschke
<font color="#FF0000">Robert, neun Jahre alt, verdreht die Augen. Er ist nicht begeistert von Opas Geburtstagsfeier</font>."Ich möcht jetzt Fernsehen gucken", sagt er,"oder am PC spielen." Doch zu Roberts Leidwesen bleibt die Kiste aus. Die Chance, den beiden weniger medienaffin erzogenen Cousinen Lara (acht) und Anne (zehn) seine Lieblingssendungen aufzählen zu können, ist da nur ein schwacher Trost. Die beiden Mädchen lauschen höflich den mit Nachdruck vorgetragenen Qualitätsurteilen ihres Cousins. Irgendwann aber hört man Lara entnervt fragen:"Ja, aber was passiert denn nun in dem Film? Wovon handelt er?" Stille."Weiß nicht", sagt Robert,"Monster jagen. Voll geil aber."
<font color="#FF0000">Robert wächst nicht in jenem einschlägigen Milieu auf, wo der Fernseher von morgens bis abends dröhnt und der Ton höchstens heruntergedreht wird, wenn der Sozialarbeiter vorbeikommt, um den Entschuldungsplan zu besprechen. Aber der Fernsehkonsum des Jungen liegt doch deutlich über den gut eineinhalb Stunden täglich, die bundesdeutsche Kinder zwischen 3 und 13 im Durchschnitt vor dem Bildschirm verbringen</font>.
Einen Beweis dafür, dass Roberts Zappeligkeit, sein begrenzter Wortschatz und die von seinen Eltern beklagten mäßigen Schulleistungen direkte Folgen dieses Konsums sind, gibt es nach dem Stand diverser zuständiger Disziplinen nicht. Die Fernsehwirkungsforschung spürt seit fünf Jahrzehnten mit erheblichem Aufwand eher schlichten Fragestellungen nach - vorzugsweise der, ob Gewalt im Fernsehen Kinder zur Nachahmung animiere. Ob Fernsehen - und eben auch das real existierende Kinderfernsehen - für Heranwachsende überhaupt eine ersprießliche Beschäftigung ist, scheint eine vergessene Frage zu sein. Von Medienwissenschaftlern hört man dazu wenig Unumwundenes - vielleicht könne man, schreibt Susanne Maus lakonisch in der Zeitschrift Eltern, von Fernsehexperten einfach nicht erwarten, dass sie das Fernsehen als solches in Frage stellen. Debatten um Kinder und Fernsehen finden heute in einem eigenartigen Klima zwischen Resignation, falscher Liberalität, ausgefeilter Apologetik und blankem Zynismus statt."Häufig ist die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen größer als bei Lehrern und Erwachsenen (sic), die oft noch im kulturkritischen Habitus erstarrt sind", schreibt etwa Professor Dieter Baacke, ehemaliger Vorsitzender der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), und adelt so das Verweilen vor der Glotze zu einem fortschrittlichen Generationenprojekt. Und Dirk Ulf Stölzel, ehemaliger Leiter des Projekts Kinderfernsehen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und einst Verantwortlicher für den Jugendschutz beim inzwischen eingestellten Kindersender Nickelodeon, erklärte in der Zeitschrift Psychologie heute, Fernsehen sei eine Kulturtechnik, deren Vermittlung als"ganzheitliches Erziehungsziel" definiert und umgesetzt werden müsse.
Ist Fernsehenlernen ein Bildungsziel wie Klavierspielen?
Man fragt sich, was damit gemeint sein könnte: Sollen Kinder Fernsehen lernen? Am besten schon im Kindergarten? Und ist"Fernsehen können" ein ebensolches Bildungsziel wie Lesen, Schreiben oder Klavierspielen? Auch dass Kinder in die Lage versetzt werden müssten, mit Werbung"umzugehen", ist oft zu lesen: Schließlich ermögliche Werbung, so steht es in einem von medienpädagogischer Beratung triefenden Papier der Deutschen Werbewirtschaft,"Kommunikation über Konsum" und diese wiederum"soziales Lernen" - was seinerseits dem Erwerb von"sozialer Intelligenz" diene. Und natürlich sollen verantwortungsvolle Eltern mit ihren Kindern gemeinsam fernsehen und viel über das Gesehene sprechen. <font color="#FF0000">Dieser Wunsch ist fromm, dient der allgemeinen Entlastung und wird sofort wieder vergessen, wenn die Eltern am Wochenende ausschlafen oder am quengelanfälligen Spätnachmittag ihre Ruhe haben wollen</font>. Wirkungsforschung wurde bislang kaum betrieben, umso gründlicher ist wissenschaftlich notiert worden, wer wann was wie lange sieht - schließlich sind derlei Erkenntnisse bares Geld wert. <font color="#FF0000">Deutsche Erwachsene sitzen täglich durchschnittlich drei Stunden und zwanzig Minuten vor der Flimmerkiste</font>.<font color="#FF0000"> Wer soll sich da ernsthaft über die Fernsehzeiten der Kinder wundern? Deren 99 tägliche Fernsehminuten, so hat es der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest für das vergangene Jahr ermittelt, verteilen sich auf 76 Minuten für 3- bis 5-Jährige, 96 Minuten für 6- bis 9-Jährige und 117 Minuten für 10- bis 13-Jährige</font>. Wer ein eigenes Fernsehgerät im Kinderzimmer stehen hat (ein Drittel der Kinder; im Westen: 25 Prozent, im Osten: 48 - der Nachholbedarf!), <font color="#FF0000">guckt länger</font>: <font color="#FF0000">etwa 145 Minuten am Tag</font>. 62 Prozent aller Kinder sehen täglich fern. Und Fernsehen erzeugt Fernsehen: Diejenigen, die es überhaupt tun, treiben den Durchschnitt nach oben; <font color="#FF0000">sie liegen weit über der Zweistundenmarke. 600 000 Kinder harren länger als drei Stunden vor dem Gerät aus - 20 Stunden in der Woche, 80 Stunden im Monat, 1000 Stunden im Jahr, 11 000 Stunden in einem Kinderleben</font>.
Praktiker in Kindergärten, Schulen und Sprachheileinrichtungen sowie Kinderärzte betrachten diese extreme Vielseherei mit Sorge. Kurt Bielfeld, der Bundesvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik und Leiter einer Sprachheilschule in Berlin, beobachtet eine stetige Zunahme der Sprachentwicklungsstörungen bei Vorschul- und Grundschulkindern. In einer Studie der Universität Mainz von Mitte der neunziger Jahre ist von einer <font color="#FF0000">Steigerung um 25 Prozent in den letzten zehn Jahren die Rede</font>. Die <font color="#FF0000">"Kommunikationsarmut"</font> des Mediums Fernsehen werde dort, wo das Elternhaus nicht ausgleichend eingreife, zu einem echten Problem."Die Kinder üben nicht, selbst zu sprechen, und niemand korrigiert ihre Fehler", sagt Bielfeld. Und das Team um Professor Michael Myrtek von der Universität Freiburg hat jüngst nachgewiesen, dass Kinder, die über drei Stunden täglich fernsehen weniger reden, schlechtere Deutschnoten haben und emotional abgestumpfter sind als gleichaltrige Wenigseher.
<font color="#FF0000">Sprachlosigkeit, schrumpfende Wortschätze und Satzumfänge stellt auch Sylvia Schuster bei etlichen ihrer kleinen Patienten fest</font>. <font color="#FF0000">Gleichzeitig nähmen Hyperaktivität auf der einen und Bewegungsfaulheit auf der anderen Seite massiv zu</font>, sagt die Sprecherin des Landesverbandes Nordrhein der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Man muss gar nicht auf Adornos Wort vom Totschlagen sinnloser Zeit, auf Marcuses Überlegungen zur Gleichschaltung der Zuschauer durch das Massenmedium oder Neil Postmans Warnung vor der infantilisierten Fernsehgesellschaft zurückgreifen, um Fernsehen für ein Entwicklungshindernis zu halten."Das Fernsehen überflutet das kleinkindliche Gehirn gerade in jener Zeit mit Bildern", schreibt der amerikanische Intelligenzforscher Joseph Chilton Pearce,"in der es lernen sollte, Bilder von innen her zu erzeugen. Fernsehen unterdrückt die Fähigkeit der inneren Bilderzeugung, weil äußere Bilder auf das Kind einströmen." Wer glaubt, dass das speziell für Kinder gemachte Fernsehen dem in irgendeiner Weise entgegenwirken würde, der hat es wahrscheinlich nicht auf sich genommen, auch nur fünf Minuten den Teletubbies, den Pokémons und ähnlichen Geschöpfen zuzusehen. Die Pokémons, die japanischen Merchandising-Monster, bilden mit 70 Prozent Marktanteil den ultimativen Quotenhit auf RTL 2 - und haben nicht den Ansatz einer Persönlichkeit. Ihre einzige Bestimmung ist es, in brutalen Kämpfen eine"höhere Entwicklungsstufe" zu erreichen. Kleine Kinder werden in der Reihe Dragon Balls zu Trainingszwecken verprügelt, damit sie lernen,"ihren Geist völlig leer werden zu lassen": östliche Vulgärphilosophie. Die sprachliche Armut des Kinderfernsehens ist bemerkenswert und nicht auf das Gelalle der Teletubbies beschränkt. Auch die Pokémons sprechen kaum. Wenn sie etwas sagen, dann ihren Namen, in unterschiedlichen Tonlagen. Also: Pikachu. Pikachu? Bisasam! Bisasam... Owei. Owei. Owei. Und im Zustand größerer Erregung: Pikapikapika! Bisabisabisa!! All diese Geräusche hört wieder, wer sich länger als drei Minuten in einem Kindergarten aufhält.
Nur wenige Eltern kennen das Kinderprogramm
Die Diskussion um Kinderwerbung und die Frage nach der Qualität der Kinderprogramme sind vor allem von symbolischer Bedeutung. Es ist wichtig, was die Anbieter sich bei der Programmgestaltung denken, es ist wünschenswert, dass sie ein Mindestmaß an Respekt vor ihren Zuschauern an den Tag legen, dass manche Stoffe ihnen doch zu dumm oder zu grausam sind. Die Eltern aber, daran führt kein Weg vorbei, müssen sich genug für das Wohlergehen ihrer Kinder interessieren, um Programme überhaupt nach diesen Kriterien zu beurteilen und auszuwählen. <font color="#FF0000">Das tun sie in aller Regel nicht: Die wenigsten Eltern kennen die Kindersendestrecken</font>. Müssten sie sich einem sorgfältigen Studium der Pokémons und Digimons, der Dragon Balls und Sailermoons, der Teletubbies und Darkwing Ducks widmen, <font color="#FF0000">hätte das Fernsehen seine wichtigste Aufgabe schon verfehlt: den Eltern kinderfreie Zeit zu verschaffen</font>.
Der Zynismus der Jugendsendungen mag die Kinderverachtung der Fernsehmacher enthüllen - die größte Gefahr birgt er nicht.<font color="#FF0000"> Die meisten Kinder sitzen abends zwischen 18 und 21 Uhr vor der Mattscheibe. Gefährdet werden sie also vor allem durch ungeeignete Erwachsenenprogramme, Dauerfernsehen, Schlafmangel. All dies fällt allein in den Verantwortungsbereich der Erziehungsberechtigten</font>: So lautet das Hauptentlastungsargument der Anbieter. Der Hinweis auf die Kundenautonomie entledigt die Sender aber nicht der Verantwortung für ihre Angebote: Es fällt auf, wie unterschiedlich private und öffentlich-rechtliche Kinderprogramm-Redakteure diese Verantwortung begreifen. Gewiss, auch beim Kinderkanal oder in der Redaktion des großen Klassikers Die Sendung mit der Maus beim WDR wird über Quoten geredet. Sie dienen hier allerdings nicht dem Zweck, den Preis für Werbeminuten in die Höhe zu treiben. Vielmehr geht es um die interne Existenzberechtigung: Aufwändig produzierte Sendungen wie die Maus müssen nachweisen, dass sie tatsächlich nachgefragt werden - sonst können sie keinen noch so gut gemeinten Bildungsauftrag erfüllen. Bei der Maus mit einem Marktanteil von durchschnittlich 60 Prozent der Drei- bis Achtjährigen gelingt die Versöhnung von Qualität und Quote. Doch das Bemühen des Kinderkanals um anspruchsvolle Inhalte wird vom Publikum nicht unbedingt belohnt: Die Kinder, die einen Lieblingssender angeben können (42 Prozent), ziehen zu drei Vierteln Privatsender vor. Der Kinderkanal mit seinem Marktanteil von 11,5 Prozent liegt hinter SuperRTL (18,7) und RTL (13,8). Er hat eine relativ erlesene Zuschauerschaft: Kinder, deren Eltern nicht alles akzeptabel finden.
Gerade die Vielseher unter den Kindern werden üblicherweise nicht eines bildungsbürgerlichen Kulturangebots teilhaftig, das die Dumpfheit und die Einsamkeit vor dem Bildschirm ausgleichen könnte. Diese Kinder lernen nie, was ein Spannungsbogen, was eine gut erzählte Geschichte ist: Ihre endlosen Billig-Comic-Episoden beginnen sämtlich in irgendeinem Nichts, schleppen sich unmotiviert durch Kampf und Sieg und Kampf in ein benachbartes Nichts und verenden dort. Dieses Nichts ist für manche von ihnen fast alles. 10 000 Anrufe aus der Kategorie"parasoziale Interaktion" erhält der Kinderkanal pro Monat."Das sind einsame Kinder, die bei uns anrufen, weil sie mit irgendjemandem sprechen möchten", sagt Diana Schulte-Kellinghaus, Programmchefin beim Kinderkanal in Erfurt. Wie weit die Fernsehwelt in die Wirklichkeit mancher Kinder einwandert, zeigt die kleine verlorene Zeichnung eines Viertklässlers im Therapieraum seiner Schule. Die Betreuungslehrerin hatte auffällige Kinder ihren"größten Wunsch" malen lassen. Auf Kims Blatt verlieren sich am unteren Rand einige kleine Monster. Darüber steht:"Ich wünsche mir, dass es auf der Welt echte Pokémons gibt."
Um Chancengleichheit für Kinder aus Fernsehhaushalten herzustellen, wird es nötig sein, das öffentliche Klima zu ändern, wie es im Falle des Rauchens so eindrucksvoll gelungen ist. <font color="#FF0000">Es gilt, jene Eltern unter Druck zu setzen, die im Dauerfernsehen keine Gefährdung für ihre Kinder erkennen wollen</font>. Es geht darum, die Machtergreifung des Fernsehens als Erziehungsinstanz zu verhindern. Eine neue Antifernsehbewegung könnte sich interessanterweise auf einen so ausgewiesenen Experten wie Ted Turner berufen, den Gründer des amerikanischen TV-Senders CNN. Er sagte in einem Vortrag über die Auswirkungen des Fernsehens auf die kindliche Entwicklung: <font color="#FF0000">"Stop watching TV, it is bad for your brain." </font>
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<font size=5>Wie diese Gesellschaft ihre Jugend verspielt</font>
Generation in Gefahr
Susanne Gaschke
<font color="#FF0000">Die größte Fortschrittshoffnung ist, daß es den Kindern einmal bessergehen solle als ihren Eltern. In Deutschland haben weite Teile der aktuellen Elterngeneration diese Hoffnung aufgegeben</font>."Fast die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung nimmt an, daß die eigenen Kinder den Status der Herkunftsfamilie im Hinblick auf materiellen Wohlstand und soziale Anerkennung nicht erreichen werden", schreibt der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer.
Diese Kinder, diese jungen Leute, sagen wir: bis etwa Dreißig, <font color="#FF0000">sind Studenten und Arbeitslose, cabriofahrende Erben und autonome Chaoten, Devisenhändler und Technotänzer, Skinheads, JU-Funktionäre, Fußballprofis und Arzthelferinnen</font>. Niemals zuvor war eine Generation in der Situation, <font color="#FF0000">aus einer so großen Zahl von Lebensstilen auswählen zu können</font>; <font color="#FF0000">kaum eine war weniger bedroht von Hunger und Krieg; kaum eine Jugend kam sich so überflüssig vor wie die heutige</font>.
Mehr als drei Viertel der unter Dreißigjährigen sehen ihre Zukunft"eher gemischt" oder"eher düster": Dieser deprimierende Befund der Shell-Jugend-Studie '97 reichte im vergangenen Jahr freilich noch nicht aus, um mehr als ein flüchtiges öffentliches Interesse an der Jugend zu wecken.
Wer nichts zu verlieren hat, dem gelten Regeln wenig
Doch der abgeschriebene Fortschritt, das Fehlen von jugendlichem Optimismus, das deuten mehrere Jugendstudien der letzten Jahre an, hat Folgen für alle: <font color="#FF0000">Viele junge Menschen verhalten sich apathisch oder verächtlich-distanziert zu einem Gemeinwesen</font>, das doch ihren Schwung bräuchte. Viele pflegen gegenüber ihren Mitmenschen eine <font color="#FF0000">egomanische Ellenbogenmentalität</font>. Wer seine Biographie ständig selbst neu erfinden soll, <font color="#FF0000">muß halt sehen, wo er bleibt</font>. Eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen schließlich spürt die Freiheit der Anomie - <font color="#FF0000">wer glaubt, er habe nichts zu verlieren, braucht sich an Regeln nicht mehr zu halten</font>.
Wie eine Gesellschaft der Zukunftslosen aussehen kann, läßt sich schon jetzt auf manchem Schulhof, in der Hardcore-Abteilung der einen oder anderen Videothek und in zahlreichen Hochhaussiedlungen aus den sechziger Jahren beobachten. Was unbefangene Zeitgenossen bereits seit einer Weile zu sehen glaubten, hat jetzt für die Jugendforschung eine kritische Grenze erreicht: Vor einigen Tagen veröffentlichten Soziologen, Erziehungswissenschaftler und Kriminologen unter dem Titel"Zukunftsinvestition Jugend" ein Bildungsmanifest, das politisch intervenieren will und ob seiner Argumente nicht ignoriert werden kann. Klaus Hurrelmann, Wilhelm Heitmeyer (beide Bielefeld), Christian Pfeiffer (Hannover), Roland Eckert (Trier), Jürgen Zinnecker (Siegen) und andere haben die Erkenntnisse ihrer Fächer zur Situation junger Menschen in Deutschland zusammengetragen. Sie zeichnen ein erschrekkendes Bild: <font color="#FF0000">nicht einer verlorenen, wohl aber einer in Gefahr geratenen Generation</font>.
Die materielle Situation vieler Kinder (und ihrer Familien) in einem Land, in dem private Haushalte über ein Vermögen von viereinhalb Billionen und Immobilien im Wert von sechseinhalb Billionen Mark verfügen, ist schlecht: Knapp eine Million der rund vierzehn Millionen unter Vierzehnjährigen leben von Sozialhilfe. Die Jugendarbeitslosigkeit, in Deutschland bisher vergleichsweise niedrig, <font color="#FF0000">hat sich seit Anfang der neunziger Jahre verdoppelt und liegt nun bei zehn bis zwölf Prozent im Westen, sechzehn bis zwanzig Prozent im Osten</font>: <font color="#FF0000">Bundesweit sind wenigstens 600 000 Menschen unter 25 Jahre arbeitslos</font>.<font color="#FF0000"> Wer länger als ein Jahr ohne Stelle bleibt, droht in die Kaste der"Nichteingliederbaren" abzusinken, die sich vorwiegend aus Haupt- und Sonderschulabsolventen und Hauptschulabbrechern (1996: 80 000) zusammensetzt</font>. Für junge Akademiker sind die Aussichten statistisch besser, <font color="#FF0000">doch auch sie schlagen sich nach dem Studium oft mit Teilzeitjobs, befristeten Verträgen, Scheinselbständigkeit, Umschulungen und unbezahlten Praktika durch</font>.
Entsprechend mißtrauisch blicken die Jugendlichen auf die Institutionen einer Gesellschaft, die ihnen den Zugang zur Normalbiographie - symbolisiert durch Arbeit, die Möglichkeit zur Familiengründung und politische Partizipation verwehrt. <font color="#FF0000">Ihr politisches Interesse hat seit 1991 abgenommen</font>, während die Unzufriedenheit mit den Politikern gestiegen ist. Auch ihr Engagement in Umweltverbänden und anderen Bürgerinitiativen ist, entgegen einer gängigen Meinung, seit Anfang der achtziger Jahre zurückgegangen. Ihre resignierte Absage an das System drückt sich in einer weit unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung aus: So gesehen war die Senkung des Wahlalters auf sechzehn Jahre in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen nicht gerade ein Erfolg.
Diese Politikabstinenz, die den Interessen der Jugendlichen, was immer sie selbst glauben mögen, objektiv zuwiderläuft, ist für die politische Klasse relativ leicht zu ertragen. Sie behindert das Alltagsgeschäft nicht; und langfristige Legitimationsfragen lassen sich verdrängen. Als Wähler werden die 18- bis 24jährigen ohnehin immer unwichtiger: Bei den Märzwahlen in Niedersachsen stellten sie gerade acht Prozent des Wahlvolkes.
Eine weitere mögliche Reaktion auf den subjektiven Verlust der Zukunft schmerzt die Allgemeinheit stärker: Längst sind es nicht mehr alte Nazis, sondern jugendliche, überwiegend männliche Protestwähler, die den drei rechtsextremen Parteien zu Wahlergebnissen um die zehn Prozent verhelfen.
Neben der Nicht- und der Protestwahl bleibt schließlich <font color="#FF0000">das gesetzlose Verhalten</font>, um der Gesellschaft zu zeigen, daß man ihre Regeln nicht respektiert: <font color="#FF0000">Die Zahl der 18- bis 24jährigen, die eines Gewaltverbrechens verdächtigt wurden, nahm seit 1984 um 200 Prozent zu. Und: Mehr als 140 000 Kinder unter vierzehn Jahren wurden im vergangenen Jahr einer Straftat verdächtigt</font>. Die große Mehrheit der jungen Menschen freilich hält sich nach wie vor an das Gesetz.
Der anomische Trend setzt sich auch jenseits der primitiven Gewalttätigkeit fort: Sogenannter ziviler Ungehorsam, wie zum Beispiel Mietboykott oder die Teilnahme an wilden Streiks, findet unter jungen Leuten steigende Zustimmung; das ergab die Studie"Jungsein in Deutschland" (Silbereisen, Vaskovics, Zinnekker, 1996), in der rund 3300 Jugendliche befragt wurden. Fünfzigjährige Politiker, Pädagogen und Journalisten mit jahrgangsspezifischer Sozialisation mögen diese Haltung als emanzipatorisch verteidigen; doch die Nebenfolge solcher vermeintlichen Liberalität ist ein wildwuchernder Relativismus: <font color="#FF0000">Vielen Jugendlichen, gleich welcher sozialen Herkunft, fällt es immer schwerer, den Sinn verbindlicher Regelungen und Maßstäbe überhaupt zu verstehen</font>.
<font color="#FF0000">Die junge Generation droht nicht nur materiell und moralisch, sondern auch geistig ins Abseits zu geraten: 1995 lasen junge Leute 25 Prozent weniger Bücher als noch 1990</font>. Nur neun Minuten am Tag lassen sie heute ihren Blick über Bücher gleiten; <font color="#FF0000">136 Minuten lang bleibt er auf den Fernsehschirm gerichtet</font>. <font color="#FF0000">Bis zu fünfzehn Prozent der Lehrstellenbewerber würden abgelehnt, weil sie nicht ausreichend lesen und schreiben könnten, schätzt die Mainzer Stiftung Lesen</font>."Das Fenster für die Sprachentwicklung schließt sich mit etwa zehn, für die Entwicklung der Lesefähigkeit mit dreizehn bis fünfzehn Jahren", schreibt ihr Geschäftsführer Klaus Ring. Das heißt: Ausdrucksfähigkeit, die Fähigkeit zur Aneignung begrifflichen Wissens und die Entfaltung der Phantasie bleiben denjenigen vorbehalten, um deren Leseerziehung sich jemand kümmert. Wer seinem Kind nicht mindestens eine Stunde am Tag vorlese, verdiene es überhaupt nicht, ein Kind zu haben, schreibt die amerikanische Kinderbuchautorin Joan Aiken. Völlig abwegig ist der Gedanke nicht. Und der Zugang zu Büchern ist in diesem Land auch nicht unüberwindlich schwierig. Haben die Jugendlichen vor diesem Hintergrund nicht ein Recht darauf, daß die Erwachsenen auch hierbei helfen?
Ach, die Erwachsenen. Als Lehrer, Wissenschaftler, Politiker, Eltern und Erzieher sind sie in ihrer Rolle verunsichert: Sollen sie den Jugendlichen etwa sagen, was gut für diese sei? <font color="#FF0000">Und zwar mit Anspruch auf Durchsetzung, autoritär? Das ist offenbar eine Überforderung für viele Eltern, die von eigenen Problemen niedergedrückt werden - und eine Zumutung für jene, die sich eine mehr oder weniger vage Vorstellung von antiautoritärer Erziehung zu eigen gemacht haben. Doch zugemutet wird heute manchem manches; der Bequemlichkeitsliberalismus hat seine Zeit gehabt</font>.
Das Bildungsmanifest der Jugendforscher formuliert Ansprüche an den Staat: Er soll helfen, Erziehungsdefizite in den Familien auszugleichen. Dazu muß er seine eigenen Institutionen reformieren, denn manche Haupt- und Gesamtschulen sind - als unbeabsichtigte Nebenfolge der Bildungsexpansion - zu Restschulen geworden:"Die <font color="#FF0000">heutige Bildungskatastrophe </font>findet - weithin unbeachtet, aber zunehmend gewalttätig - in den multiethnischen Randzonen der großen Städte und der Aussiedlerghettos auf dem flachen Lande statt. Es bedarf vielfach nur kleiner Anlässe, damit der Funke überspringt und es zum Ausbruch von Gewalt und Kriminalität kommt", schreiben die Autoren.
Damit alle Kinder ungestört Rechnen, Schreiben und Lesen lernen können, muß mithin den Problemkindern beigebracht werden, wie man Konflikte ohne Hauen und Stechen löst: Die Experten fordern eine entsprechende Reform der Lehrerfortbildung. Dem Selbstverständnis vieler Lehrer wird die Rolle als Hilfssheriff zuwider sein, und es wäre fatal, wenn dieser Teil ihrer Arbeit zu Lasten der formalen Lehrinhalte ginge. Doch der Staat - also: die Schule kann auch nicht einfach diejenigen Kinder aufgeben, die von ihren Eltern vernachlässigt werden. Konsequent ist dementsprechend die Forderung der Jugendforscher nach der Einrichtung von Ganztagsschulen, <font color="#FF0000">damit nicht"jugendeigene Cliquen (und das Fernsehen) bestimmen, welche Moral gelernt wird</font>".
Die Aggressionsbereitschaft von Jugendlichen wachse, fahren die Autoren fort, wenn Wege in die Erwachsenenwelt durch Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit blockiert seien; dementsprechend raten sie zur Schaffung von subventionierten Jugendarbeitsplätzen.
Gute Schulen und Arbeitsförderung für die Modernisierungsverlierer bleiben dabei originäre Staatsaufgaben - und tatsächlich ist kaum ein Marktmechanismus vorstellbar, der hier auf andere Weise Abhilfe schaffen könnte. Die Erwachsenen müssen sich fragen, was ihnen der innere Friede, den die Bundesrepublik lange Zeit genießen durfte, wert ist. Umsonst ist er nicht zu erhalten, und wer für eine Politik der Schadensbegrenzung kein zusätzliches Geld ausgeben will, sollte zumindest die Relevanz konkurrierender öffentlicher Angebote noch einmal prüfen: von der Abfalltrennungsberatung über den Schwulenbeauftragten bis hin zum Jugendtreff, den allein die zuständigen Planstelleninhaber frequentieren.
Darüber hinaus bleibt nur die Hoffnung, die Eltern würden sich eines Tages wieder mehr um ihre Kinder kümmern. Vielleicht gibt es ein zurück zu einer Normalität, die zwischenzeitlich verlorengegangen zu sein scheint: zu der Gewißheit, die Eltern schuldeten dem Nachwuchs eine Vorlesestunde am Abend, ein gutes Vorbild. Eine gute Erziehung, wenigstens das.
Quelle: http://www.zeit.de/archiv/1998/20/jugend.txt.19980507.xml, Die Zeit 20/1998
Bereits 1998 war also die Bildungskatastrophe erkennbar. Denke ich auch!
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<font size=5>Mama, da ist Ei auf dem Teppich... </font>
<font color="#FF0000">Vater und Mutter verreisen, der Sohn, 14 Jahre alt, gibt eine Party. Als die Eltern zurückkehren, finden sie ihr Haus nahezu zerstört vor - von ganz normalen Jugendlichen aus einem Hamburger Vorort </font>
Susanne Gaschke
Samstag, 30. September, nachmittags. Wochenendruhe in der Samtgemeinde Horneburg an der Unterelbe. Verhangenes Herbstlicht. Im Alten Land ist die Apfelernte im Gange. Auf der Bundesstraße 73, die Stade mit Hamburg verbindet, hat sich heute noch niemand totgefahren: Die Pendler sind zu Hause bei ihren Familien, die Discobesucher noch lange nicht auf der Piste.
Tatjana und Ilka *, <font color="#FF0000">13 Jahre alt</font>, treffen sich bei Ilka in Agathenburg. Wahrscheinlich werden sie, wie fast jeden Tag, mit dem Zug nach Stade fahren und dort ins Check in gehen, eine <font color="#FF0000">Erlebniswelt </font>mit Bowlingbahn, Spielautomaten, Kneipen, Kinos. Aufregend ist die Aussicht nicht, schon wieder in Stade rumzuhängen. Aber immer noch besser, als zu Hause zu bleiben. Um 16 Uhr dringt das Piepen eines Handys durch die Stille des zähflüssigen Nachmittags. <font color="#FF0000">Es ist Annika."Party in D.", sagt sie."Ihr könnt kommen.</font>"
Ein bedeutungsvoller Anruf. Er fällt in die letzten Stunden vor dem Bürgerkrieg. Im Lauf des Abends wird sich im Haus der Familie Meiners in dem Hamburger Vorort ein Massaker an Dingen abspielen, das seinesgleichen sucht."Horror-Party" schreiben zwei Tage später die überregionalen Boulevardblätter. Da weiß man, dass 50 bis 70 Teenager Einrichtungsgegenstände im Wert von über 100 000 Mark zerfeiert haben.
In den Zeitungen werden rasch exotische Erklärungen für den Exzess angeboten. Von"Partyterroristen" ist die Rede, die immer häufiger private Feste überfielen. Die Polizei wird mit Warnungen zitiert: Lassen Sie Ihre Kinder nicht allein feiern! Die Bild-Zeitung weist auf die Anwesenheit"Halbstarker mit russischem Akzent" hin. Doch niemand geht ernsthaft der Frage nach, ob das, was in dem Hamburger Vorort sichtbar wurde, <font color="#FF0000">nicht gerade das Gegenteil einer Ausnahme ist</font>: ein Fall von Anomie, der so oder ähnlich an jedem Wochenende auch in Hamburg passieren könnte, in Sindelfingen oder in Goslar.
Erst ein bisschen Playstation, dann der Rest
Als Ilka und Tatjana kurz vor 17 Uhr von ihrer Freundin Annika am Bahnhof abgeholt und den kurzen Weg zum Bungalow der Meiners geführt werden, sieht alles noch harmlos aus. Neun oder zehn Gäste sind schon anwesend. Die beiden Mädchen kennen manche, darunter den <font color="#FF0000">14-jährigen </font>Gastgeber Michael Meiners, noch aus der Grundschulzeit - die Jugendszene in der Samtgemeinde Horneburg ist überschaubar. Realschule und Hauptschule befinden sich im selben Gebäudekomplex. Nur wer nach Stade aufs Gymnasium geht, verliert den Kontakt zu seinen Grundschulfreunden. Michaels Eltern sind mit den beiden jüngeren Söhnen übers Wochenende ins Euro-Disneyland nach Paris gefahren. Die Party haben sie genehmigt: allerdings mit nur sieben Gästen, Cola und Kartoffelchips - und nur in Michaels Kinderzimmer.
Diese Verabredung darf um 17 Uhr als gebrochen gelten. Eine Stunde später spricht ein Nachbar Jugendliche in Hängebodenhosen an, die bierselig auf dem Dach des Bungalows grölen. Aus dem Haus dröhnt Musik. Schon vorher hat die Pastorin, bei der etliche Partygäste den Konfirmandenunterricht besuchen, über den Gartenzaun gefragt, <font color="#FF0000">ob eine Dachparty gefeiert werde. Sie hat eine freche Antwort bekommen und sich zurückgezogen </font>- dass kein Erwachsener zu Hause gewesen sei, habe sie nicht wissen können, sagt die Pastorin. Am frühen Abend sitzen die meisten Jugendlichen noch in Michaels Zimmer. Sie spielen mit der Playstation und unterhalten sich:"Der und der hat Ärger gehabt in Buxtehude. Der und der ist von der Schule geflogen. Und so." <font color="#FF0000">Immer wieder zückt jemand das obligatorische Handy, um weitere Schwestern, Freunde, Freundinnen oder Cousins einzuladen. Der Gastgeber hindert sie nicht</font>.
Allmählich verbreiten sich die Besucher über alle drei Etagen des Hauses. Türen seien eingetreten worden, sagen Michaels Eltern. Michael habe ihnen aufgeschlossen, sagen zahlreiche Gäste. Einbruch oder Einladung? Die Versicherung zahlt nur im ersten Fall.
Michaels Zuhause jedenfalls muss die Gäste beeindruckt haben: Bis heute hält sich unter den Jugendlichen der Umgebung die Legende, das Haus habe 58 Zimmer. Legende zwei: Michaels Eltern hätten ihm für das Wochenende 15 000 Mark Verpflegungsgeld dagelassen. Legende drei: Michael habe sich mit der Verwüstung an seinen Eltern rächen wollen, weil sie ihn eine Woche zuvor zum Wechsel auf eine"Hochbegabtenschule" gezwungen hätten.
Hauptsache, ihr habt Spaß, sagt Michael
Am Entstehen von Legende drei sind die Eltern nicht unbeteiligt. Sie haben Polizei und Presse in der Nachbereitung der Katastrophenfete ausgiebig über Michaels außergewöhnliche Begabung informiert; sein IQ liege bei 140. Richtig ist, dass sie Michael von der Realschule in Horneburg abgemeldet haben. Richtig ist, dass sie ihn auf einer privaten Hamburger Realschule angemeldet haben. Richtig ist, dass die Feier ein Abschiedsfest sein sollte.
An Michaels früherer Schule bezeichnet man die Leistungen des Jungen als durchschnittlich. Es sei aber in der Tat so, dass Hochbegabung nicht immer an den Noten zu erkennen sei, sagt der Rektor vorsichtig. Die Klassenlehrerin murmelt auf die Frage, ob Michaels Fähigkeiten mehr im musischen, im sprachlichen oder im mathematischen Bereich lägen, etwas von"ganzheitlichem Tun".
Nach 20 Uhr wird es im Hause der Familie Meiners voll. Laut Polizeibericht halten sich mindestens 25 Personen dort auf, immer mehr kommen dazu. Michael hat eingekauft: Salzgebäck, Dosenbier, eine Flasche Korn. Drei bis vier weitere Flaschen höherprozentigen Alkohols hätten sich außerdem im Hause befunden, sagt Esther Meiners. <font color="#FF0000">Am Montag nach ihrer Rückkehr aus Paris entsorgt sie 59 leere Schnapsflaschen in den Glascontainer</font>.
Ilka und Tatjana merken etwa um 20 Uhr, dass die Küche"unordentlich" ist. Unordentlich beschreibt den Zustand, in dem sich beispielsweise der Küchenfußboden zu diesem Zeitpunkt befindet, zurückhaltend: Eisteepulver, Cola, Ketchup, ausgepresste Zitronen, gekochte Nudeln, Pizzareste und rohe Eier überziehen ihn als schleimige Morastschicht. Dazwischen sitzen Mädchen und verspeisen Pizza und Lasagne, die sie sich aus der Tiefkühltruhe geholt haben. Was ihnen nicht schmeckt, wird an die Wand geworfen oder fällt zu Boden.
Noch ist der Swimmingpool benutzbar. Einige Mädchen, darunter Annika, gehen schwimmen. Dann folgt eine Phase der Party, in der die Jugendlichen einander mit Kleidern ins Wasser stoßen. Klamotten zum Wechseln finden sie im Trockenkeller. Einige Stunden später treiben im Pool: Farbeimer, Zementsäcke (der Inhalt ist auf den Grund gesunken), ein Wäscheständer, Geschirr, Saftpackungen, Fischfilets, Kot.
Eine Urinspur zieht sich durch alle drei Etagen des Hauses mit Elbblick. Uriniert wird in den Swimmingpool, in Gummistiefel, Küchenschubladen, Gläser mit Sand von verschiedenen Urlaubsstränden, Betten: Reviermarkierung. Mit zunehmendem Alkoholisierungsgrad steigt die Zahl der Gäste, die sich auf den neuen Teppich erbrechen. In den Schlafzimmern werden Kleider, Hosen und Hemden aus den Schränken gerissen. Eindeutige Spuren sprechen dafür, dass sich in den Betten der Eltern Meiners Orgien abspielen.
"So ab 24 Uhr" seien die ersten Leute aufgebrochen,"weil zuviel kaputt ging", sagt Andre, 16, der ein paar Tage später vor der Polizeistation Horneburg auf seine Anhörung wartet. Die Polizei schätzt, dass die Verwüstungen gegen Mitternacht ihren Höhepunkt erreichen. Michael hat schon länger versucht, die marodierende Gästeschar zur Ordnung zu rufen. Warum ist er nicht zu Nachbarn gegangen, warum hat er keine Verwandten angerufen? Der Alkohol. Vielen habe Michael Leid getan, weil er nichts im Griff gehabt habe, sagen Ilka und Tatjana."Aber es war auch blöd von ihm, dass er alles aufgeschlossen hat. 'Hauptsache, ihr habt Spaß', hat er gesagt. Irgendwie ist er selbst schuld." Die Selbst-schuld-Interpretation wird sich in den kommenden Wochen in der öffentlichen Deutung der"Horror-Party" durchsetzen. Sie ist eine gute Immunisierung gegen ein schlechtes Gewissen.
Mehrere Partygäste berichten, Michael habe schließlich oben in seinem Zimmer gesessen und geweint. Filmriss I: Irgendwann schläft der 14-Jährige nach dem Dauergenuss von Cola/Korn ein. Filmriss II ist kollektiv: Von den jungen Menschen, deren Anwesenheit auf der Fete außer Frage steht, erinnert sich kaum jemand, andere bei Zerstörungen beobachtet zu haben. Und niemand hat selbst auch nur einen Erdnussflip auf die Auslegeware fallen lassen.
Zwischen zwei und fünf Uhr morgens gibt es immer noch ein Kommen und Gehen zwischen der Bahnstation und dem offenen Haus. Um 5.22 Uhr erreicht die Polizei in Buxtehude der Anruf eines Nachbarn: Jugendliche rasen mit der Corvette der Meiners durch die Wohnstraße. Unter ihnen ist, als Beifahrerin, die 13-jährige Jacqueline. Was sie gedacht hat, als sie in das Auto einstieg?"Ich weiß nicht. Nichts." Und über das Chaos auf der Party?"Nichts." Reue, sagt die Leiterin des Horneburger Jugendzentrums, zu dessen regelmäßigen Besuchern auch Jacqueline gehört, zeigten die Jugendlichen kaum jemals aus Mitgefühl mit anderen. Sondern nur dann, wenn sie selbst Konsequenzen zu befürchten hätten.
Da die Corvette zum Zeitpunkt ihres Eintreffens wieder geparkt ist, sehen die Polizeibeamten aus Buxtehude keinen Grund, ihren Streifenwagen zu verlassen.
Am Sonntag vormittag, beim Anstehen an der Kasse des Euro-Disneylands, erreicht die Meiners ein Anruf ihres Sohnes: Das Haus sehe nicht gut aus: Überall sei Ei auf dem Teppich. Die Meiners machen sich sofort auf den Heimweg. Michaels ältere Schwester wird telefonisch alarmiert und bringt den Jungen zu den Großeltern nach Horneburg. Er habe die ganze Zeit gehofft, man könne die Unordnung morgens aufräumen, sagt Michael. Dabei grinst er ein bisschen und webt seine Finger ineinander. Am meisten Angst (außer natürlich um den Jungen) habe sie um ihr Hochzeitskleid gehabt, sagt Esther Meiners. Ihren Mann Kai hat sie erst vor zweieinhalb Jahren geheiratet, in Weiß. Es ist für beide der zweite Versuch. Fünf Kinder hat die Grundschullehrerin mit in die Ehe gebracht. Michael ist der Mittlere.
Das Hochzeitskleid ist von der Zerstörungswut der Jugendlichen verschont geblieben. Am Dienstag abend besucht Esther Meiners ihren Sohn bei den Eltern ihres Exmannes.
Noch am Montag liegt Alkoholdunst über dem Grundstück in dem Vorort. Die Meiners ziehen in ihr Wohnmobil und beginnen mit den Aufräumarbeiten: verletzt und empört darüber, wie man mit ihrem Eigentum umgegangen ist. Freunde kommen zum Saubermachen. Ilkas Mutter ist die einzige Mutter eines Partygastes, die sich zum Helfen verpflichtet fühlt. Sie sagt aber auch:"Ich habe meine Tochter erzogen. Jetzt bin ich doch für das, was sie tut, nicht mehr verantwortlich." Vor eineinhalb Jahren sei es mit Ilka ohnehin schlimmer gewesen als heute: <font color="#FF0000">Sie habe viel getrunken, geraucht, gekifft. Da war das Mädchen elfeinhalb</font>.
Die Meiners tragen ihren Fall in die Ã-ffentlichkeit. Sie benachrichtigen eine Mitarbeiterin des örtlichen Wochenblatts, die erste Fotos von der Verwüstung macht. Die freie Journalistin gibt die Berichterstattung allerdings an eine Kollegin ab, als klar wird, dass ihr Sohn unter den Partygästen war. RTL darf im Haus filmen, Szenen des Abends nachstellen, ein paar Tage später auch ein Interview mit Michael aufnehmen. Das Hamburger Abendblatt, die Hamburger Morgenpost und die Bild-Zeitung steigen groß ein, Tenor der Berichterstattung: Wie können Nachbarn wegsehen, wenn ihren Mitmenschen Derartiges angetan wird? Es ist dieser Zungenschlag der Meiners-Zitate, der die Familie bei ihren Nachbarn Sympathien kostet."Wir wussten nicht einmal, dass sie verreist waren", sagt eine junge Frau in einem Haus zur Linken empört:"Natürlich helfen sich hier alle gegenseitig. Selbstverständlich hätten wir nach dem Jungen gesehen, wenn wir gewusst hätten, dass er unbeaufsichtigt feiert." Es sei unverschämt von Kai Meiners, der sonst kaum grüße, nun die Verantwortung auf andere abzuschieben. Ähnlich redet man im Gasthof: Die Bestürzung über das Unheil, das die Jugendlichen angerichtet haben, weicht der Frage, ob man einen 14-Jährigen über das Wochenende allein zu Hause lassen könne, ohne seine Aufsichtspflicht zu verletzen.
Falls sich auch die Meiners im Stillen diese Frage stellen, zeigen sie es nicht. Alle anderen sind schuld: die Nachbarn, die nicht eingegriffen haben, die Pastorin, die ihre Jalousien heruntergezogen hat, die Polizei, die vorbeigefahren ist, die Eltern, die ihre Kinder nicht anständig erzogen haben. Und sie selbst? Als Eltern? Esther Meiners, als Grundschullehrerin am Ort? Sie sind der Meinung, dass ein 14-Jähriger bei gefülltem Kühlschrank schon ein paar Tage lang allein zurechtkommen könne."<font color="#FF0000">Ich habe ja versucht, vielen von denen, die unser Haus zerlegt haben, Werte und Normen beizubringen</font>", sagt Esther Meiners."Heute frage ich mich: Warum mache ich das eigentlich?" Und was ist mit Michael? Finden die Meiners nicht, dass er ihr Vertrauen missbraucht hat, vor allem jetzt, da die polizeilichen Ermittlungen eindeutig ergeben, dass von"Partyterroristen" ebenso wenig die Rede sein kann wie von aus dem Nichts aufgetauchten russischen Einwandererbanden? Dass Michael vielmehr nahezu jeden eingeladen hat, der ihm über den Weg gelaufen ist - und stets dazusagte, es könnten noch Leute mitgebracht werden?"Inzwischen sieht er wohl ein, dass er sich falsch verhalten hat", sagt Esther Meiners. Und wie denkt ihr Mann über die Sache? Schweigen."Ich bin mit Michael im Reinen", sagt die Mutter."Den Rest müssen die Männer unter sich ausmachen."
Michael sei das"schlaueste" ihrer Kinder, sagt Esther Meiners; seine Hochbegabung habe zur Schulverweigerung geführt. -"Der kann stundenlang mit Ihnen diskutieren", sagt Kai Meiners."Stundenlang. Der erzählt Ihnen, dass Ihr blaues Jackett grün ist. Weil er es vielleicht auch grün sieht." Mit ständigen Auseinandersetzungen kompensierten Hochbegabte ihre Unterforderung, sagt Esther Meiners. Während die Eltern sich mit den beiden kleinen Söhnen gerne draußen aufhalten, Sport treiben und wandern, bleibt Michael lieber für sich. Was tut er dann am liebsten?"Laut Musik hören und in Ruhe gelassen werden und dabei lesen." Sein Lieblingsbuch? Stark von Stephen King.
Wie es dazu kam? Die Lehrer sind ratlos
"Der Junge hätte es vielleicht eher nötig gehabt, einmal in den Arm genommen zu werden, als alleine eine Party feiern zu dürfen", sagt ein Lehrer von der Realschule, der mit dieser Äußerung lieber nicht zitiert werden möchte. In der Schule herrscht Ratlosigkeit: Wie kam es zu der kollektiven Ausflipperei? Und wie soll man mit einem Ereignis wie der"Horror-Party" pädagogisch umgehen? Die Rahmenbedingungen sind nicht ungünstig: Die Realschule ist mit 250 Schülern klein und beschaulich; wenn ein Grafitto auf den Kacheln der Toiletten auftaucht, können die Deutschlehrer den Täter an der Handschrift überführen. Wie also erklären sich die Lehrer einen Gewaltausbruch wie in dem Hamburger Vorort?"<font color="#FF0000">Eine symptomatische Einstellung mancher Eltern gegenüber der Schule lautet: 'Mein Sohn raucht, tun Sie was dagegen'</font>", sagt der Schulleiter."Über die Hälfte unserer Elternhäuser sind kaputt: Trennungen oder Alkoholismus. Viele Leute, die hierher gezogen sind, weil man die Einfamilienhäuser in dieser Gegend noch bezahlen kann, pendeln zur Arbeit nach Hamburg - da sind die Kinder nachmittags zwangsläufig allein. Und es kommt auch immer öfter vor, dass Eltern mitten im Schuljahr eine Woche nach Kenia fliegen - ohne die Kinder." Vieles, was heute pseudopädagogisch als"Vertrauen" verpackt werde, sei in Wahrheit eine Überforderung: Zwölf-, Dreizehnjährige müssten Dinge entscheiden, die weit über ihren Horizont gingen.
Die Lehrer der Realschule muss man drängen, überhaupt eine Theorie über den inneren Zustand der Jugendlichen zu formulieren, die den Party-Horror angerichtet haben. Eine Strategie, wie das Ereignis aufzuarbeiten sei, damit es wenigstens einer nachträglichen Normenbildung dienen könnte, haben sie nicht. Jürgen Bönninghausen, 60, Leiter der Polizeidienststelle in Horneburg, ist nicht für die moralische Nachbereitung der Ereignisse zuständig: Er hat alle Hände voll damit zu tun, eine Ermittlung zu organisieren, in der bis zu 70 Zeugen zu hören sind - viele noch nicht strafmündig, was bedeutet, dass sie nur in Gegenwart ihrer Eltern befragt werden dürfen. Die aber sind an solchen Terminen wenig interessiert - oder weit weg, bei der Arbeit. Typisch für die Gegend seien harmlosere Delikte: Fahrraddiebstahl, Ladendiebstahl, Autoaufbruch, Drogenkonsum, sagt Bönninghausen. Auch zeigt die örtliche Jugend offenbar eine Tendenz, mangels interessanterer Alternativen trinkend auf öffentlichen Plätzen zusammenzukommen. All dies habe man aber im Griff, sagt Bönninghausen; eine Verwüstung, wie er sie im Hause der Meiners gesehen habe, sei ihm in seinem ganzen Polizistenleben nicht untergekommen.
Die Polizei? Total überfordert, sagen die Eltern
Das Verhältnis des Ermittlungsleiters zu den Tatopfern ist leicht gespannt: Bönninghausen hat es irritiert, dass er Michael wegen angeblicher Suizidgefahr nicht befragen durfte - während der Junge, anscheinend ohne dass seine Eltern seelische Schäden befürchteten, auf die Fragen von RTL-Reportern antwortete. Auch sitzen ihm die Meiners, die die Polizei für"total überfordert" halten, ständig im Nacken; eine Liste mit 30 Namen von Partygästen werde laufend, auch samstags, ergänzt. Mehr als arbeiten könnten aber auch er und seine vier Kollegen nicht, sagt Bönninghausen, und das täten sie: zehn bis zwölf Stunden am Tag. Gelegentlich gebe es auch einen Verkehrsunfall oder einen Autodiebstahl, um die sie sich kümmern müssten. Gerüchte über die geheimnisvolle Namensliste haben, ermittlungstechnisch, immerhin den Vorteil, dass einige Jugendliche sich vorsichtshalber freiwillig melden, um ihre Version des Abends zu erzählen. Von diesen Lichtblicken abgesehen aber gewähren die Anhörungen einen eher deprimierenden Einblick in die moralische Verfassung der Horneburger Jugendlichen:"80 Prozent sagen: 'Ich habe nicht gesehen, wer es war, da standen drei oder vier Leute zusammen, und plötzlich klirrte es'", berichtet Bönninghausen. Von selbst zugegeben hat noch niemand etwas; nur einige wenige konkrete Akte von Vandalismus (Pizza, Vasen, Bilder) lassen sich inzwischen namentlich zuordnen. Die Hoffnung, mit den Ermittlungen noch vor seinem Herbsturlaub fertig zu werden, hat der Polizist aufgegeben.
Eine ganze Reihe jener Jugendlichen, mit denen sich Bönninghausen abmüht, frequentieren die Jugendfreizeitstätte in Horneburg - eine Baracke, einst Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme. Heute sieht sie aus wie ein Trainingscamp für Vandalismus: blätternde Farbe, zerfetzte Sperrmüllmöbel, vor dem Haus ein kürzlich abgefackeltes Sofa. Die Sozialpädagogin, die diese Einrichtung im Einzelkampf führt, macht aus dem Jugendtreff gleichwohl einen letzten Außenposten der Zivilisation. Sie hat ihre Schützlinge gedrängt, freiwillig mit der Polizei zu reden. Sie duldet im Gespräch mit den Jugendlichen nicht den beliebten"Ich weiß nichts, ich war gar nicht da"-Gestus."Hierher kommen natürlich keine Mittelschichtkinder", sagt sie,"und wenn man nur mit Randgruppen arbeitet, gibt es keine Lernprozesse." <font color="#FF0000">Die Kinder seien heute immer häufiger und immer länger sich selbst überlassen. Mädchen hätten oft schon mit 12 Jahren Sex. Nach den Wochenenden sei es das größte Thema, wer wann wo wie besoffen gewesen sei. Es gebe eine gefährliche, alkoholinduzierte Gruppendynamik</font>:"Ich trau mich noch viel mehr." <font color="#FF0000">Materielle Güter hätten gerade bei den Benachteiligten eine ungeheure Bedeutung, der Handy-Kult kenne keine Grenzen</font>. Freiwillig melde sich kaum jemand, wenn in der Jugendfreizeitstätte eine Regel verletzt worden sei. Noch die Hausverbote, die sie gelegentlich aussprechen müsse, empfänden einige Jugendliche als Zuwendung.
"Niemand sieht diese Kinder", sagt sie,"und doch könnten Sie jedes einzelne von ihnen retten. Wenn Sie eine Lebensaufgabe suchten." Die Horror-Party im Vorort?"Ein Schrei nach Grenzen." So, wie es aussieht, gilt dieser Satz in der Samtgemeinde Horneburg nicht nur für die Randgruppen.
Quelle: http://www.zeit.de/archiv/2000/46/200046_glauben_horrorpa.xml, Die Zeit 46/2000
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B I L D U N G
<font size=5>Tatort Schule </font>
Trotz Pisa-Schock: Die Politiker dösen in der letzten Bank
Susanne Gaschke
<font color="#FF0000">Drei Monate sind seit dem großen Pisa-Schock ins Land gegangen - und es ist genau das eingetreten, was befürchtet wurde. Die quasiamtliche Erkenntnis, dass an deutschen Schulen nicht alles zum Besten, einiges sogar schlecht steht</font>, hat hektischen Aktionismus entfesselt. Jede Volkshochschule, jeder Elternbeirat, jedes Kultusministerium hält Podiumsveranstaltungen ab, auf denen über Pisa palavert wird, frei nach dem alten Wohngemeinschaftsmotto: Gut, dass wir mal drüber geredet haben. In Buchhandlungen sieht man Kunden ehrfürchtig in der Studie blättern, als könnte die Bildungsmisere durch Berühren des heiligen Gegenstandes ausgetrieben werden.
Doch magische Rituale werden nicht helfen, und der laute Wortschwall der Experten und Möchtegernexperten hält von gründlicherem Nachdenken ab. Pisa hat ein Festival nach dem Mülleimer-Prinzip ausgelöst. Jeder fischt alte bildungspolitische Lieblingslösungen aus dem Papierkorb: Ganztagsbetreuung, Abschaffung des Sitzenbleibens, weniger Differenzierung und mehr Gesamtschule, stärkere Kontrollen und Entbeamtung der Lehrer, Beseitigung des 45-Minuten-Unterrichtstaktes - die Liste ist endlos. Und immer klingt es so, als sei jedes einzelne Mittel erstens der einzige Heilsweg und zweitens noch nirgendwo in Deutschland ausprobiert worden. Als hätten die deutschen Schüler vor allem deshalb schlecht abgeschnitten, weil unsere Schulen in den vergangenen Jahren zu selten umgekrempelt worden seien.
Leistung gilt als Streberei
<font color="#FF0000">Richtig ist das Gegenteil: Im ganzen Bildungsbereich herrscht seit 30 Jahren Hyperaktivität. Seit ihrer Einführung in den siebziger Jahren ist zum Beispiel die gymnasiale Oberstufe in manchen Bundesländern sechs, sieben, acht Mal neu organisiert worden</font>. Und wer heute noch anklagend von"Frontalunterricht" spricht, kann seit Jahren in keiner Schule gewesen sein. Vielleicht sind Schüler wie Lehrer gerade deshalb verwirrt, weil zu viel, zu oft, zu kurzatmig an den Schulen herumgedoktert wurde - ohne zu überprüfen, <font color="#FF0000">ob </font>die Schüler in Teamarbeit, am Computer oder im Projektunterricht <font color="#FF0000">wirklich mehr lernen</font>.
Machen wir uns nichts vor: Es gab über Jahre in Deutschland einen Meinungs-Mainstream, der gute, fortschrittliche,"linke" Methoden kannte: die Entgrenzung, Entformalisierung und Entsystematisierung des Unterrichts - <font color="#FF0000">alles eben, was eine Reduzierung des"Leistungsdrucks" versprach</font>.<font color="#FF0000"> Und es gab reaktionäre, böse Methoden wie das Kopfrechnen, das Auswendiglernen, das laute Vorlesen, das Von-der-Tafel-Abschreiben - die waren verpönt</font>. Wahrscheinlich braucht effektiver Unterricht <font color="#FF0000">von beidem etwas</font>; sicher brauchen Schüler die genaue Kenntnis eines Gegenstandes, bevor sie die Kritik daran üben.
Wenn die Pisa-Debatte weiterläuft wie bisher, wird sie uns mehr vom Gleichen einbringen: hechelnde Reformhektik. Doch vielleicht gelingt es, die Debatte zu wenden: weg von den Methoden, hin zu den Ergebnissen. Also: Können Hauptschüler am Ende der neunten Klasse lesen, schreiben und rechnen? Kennen sie, wenigstens ungefähr, den Unterschied zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, zwischen Erst- und Zweitstimme, zwischen erstem und zweitem Fall?
Überließe man es einmal - unter Aussetzung der Dauerreform und der kultusbürokratischen Einmischungslust - den Lehrern, diese Ergebnisse sicherzustellen, man würde positive Überraschungen erleben. In keinem anderen Beruf - nicht bei Ärzten, nicht bei Juristen, nicht bei Fluglotsen - versteigen sich Nichtpraktiker zu so viel Besserwisserei wie in der Schule. Gestünden wir den Lehrern zu, dass sie ihren Job verstehen - wir könnten mit gutem Gewissen verlangen, dass Schulen, dass Bundesländer auf die Qualität ihres Unterrichts hin verglichen werden. Evaluation und Veröffentlichung der Ergebnisse, auch ein bisschen freundschaftlicher Wettbewerb: Das würde die Guten ermuntern und die Schlechten anstacheln.
Die Aufgabe der Bildungspolitiker wäre es in dieser Situation allerdings, loyaler zu ihren Beschäftigten zu stehen - und die Schulen in ihrer Obhut besser gegen rasch wechselnde Reformmoden und die billigen Forderungen der Wirtschaftsverbände zu schützen. Das erfordert Mut zu langfristigen Prioritäten: erst Geschichte, dann Internet-Kunde; erst souveräne Beherrschung der deutschen Sprache, dann Englischunterricht in der Grundschule. Bildung bedeutet nicht in erster Linie vermeintliche Arbeitsmarktverwertbarkeit. Ein wirklich gebildeter Mensch allerdings hat auf dem Arbeitsmarkt mehr Chancen als ein desorientierter Teamarbeits-Zombie.
Doch der Bildungsnotstand bei deutschen Schülern ist weit mehr als ein Stellschraubenproblem der Schulen. Bildung hat im Wer wird Millionär?-Deutschland ein ungünstiges Klima. <font color="#FF0000">Warum, zum Beispiel, sollen Kinder lesen, wenn ihre Eltern stundenlang vor den hirnlosen Programmen des Fernsehens sitzen? </font><font color="#FF0000">Warum sollen Jugendliche gern lernen, wenn die Jugendforschung ihnen seit Jahren einredet, in ihrer Altersgruppe habe man null Bock zu haben? Warum sollen sie sich anstrengen, wenn Leistung in Klasse und Clique als Streberei gilt</font>? Warum sollen sie sich mühsam grundsätzliche Kenntnisse in Literatur, Geschichte, Kunst, Fremdsprachen, Musik und Naturwissenschaften aneignen, wenn den Erwachsenen alles bildungsbürgerliche Wissen als spießig, veraltet und zur Not sowieso im Computer abrufbar gilt? <font color="#FF0000">Wenn den jungen Leuten darüber hinaus jede Zeitschrift, jede Plakatwand, jeder Werbespot entgegenruft: Fun, Spaß haben, Konsum - darum geht es im Leben!</font>
Kleinmütige Sozialdemokraten
Wir brauchen die zentrale, aufmerksamkeitsheischende Kraft der nationalen Politik, um unserer ganzen Gesellschaft ein neues Bildungsbewusstsein zu empfehlen. Ein Bildungsaufbruch hätte mindestens ebenso"Chefsache" zu sein wie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der Aufbau Ost - und hätte übrigens mit beidem zu tun. Der kleinmütige Hinweis der Sozialdemokraten, Schulfragen fielen in die Länder- und Kommunalhoheit, greift viel zu kurz. Der Kanzler hat bereits einmal gezeigt, wie gut sich die Ressource Aufmerksamkeit zentral mobilisieren lässt - mit seiner"Alle Schulen ans Netz"-Kampagne. Die war freilich gleichzeitig ein Beispiel, wie man es nicht machen darf: Jetzt stehen die Geräte in den Klassen, durch deren Dächer es noch immer regnet, und es fehlen sowohl die Lehrer, die sie warten, als auch die Lehrpläne, nach denen sie eingesetzt werden sollen. Daraus lässt sich nur eines lernen: mehr Ausdauer beim Bildungslobbyismus!
Vielleicht werden dann irgendwann die Eltern den Schulen auch wieder anders als mit Misstrauen und am liebsten in Begleitung eines Rechtsanwalts begegnen. Und sich stattdessen mehr um ihre Kinder kümmern: sich zum Beispiel dafür interessieren, was die eigentlich in der Schule lernen. <font color="#FF0000">Das traurigste, aber sehr aufschlussreiche Nebenergebnis von Pisa war schließlich die Erkenntnis, dass 60 Prozent aller 15-Jährigen meinten, Letzteres sei ihren Eltern ganz egal</font>.
[b] Quelle: http://www.zeit.de/archiv/2002/10/200210_1._leiter.xml, Die Zeit 10/2002
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