-->http://www.jungewelt.de/2003/09-23/010.php
23.09.2003
Inland
Ludwig König
Antifaschismus strafbar
München: Tumulte bei Verurteilung von 78jährigem wegen Aufruf zum Widerstand gegen Neonazis
Zwei Personen sind »im Namen des Volkes« vom Münchner Amtsgericht am Montag zu Geldstrafen verurteilt worden. Das Gericht wertete es als strafbar, daß beide zusammen mit Tausenden anderen Münchnern am 30. November vergangenen Jahres versuchten, einen Neonaziaufmarsch durch München zu verhindern. Anmelder dieser Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung war der vor zwei Wochen verhaftete mutmaßliche Rechtsterrorist Martin Wiese.
Die Staatsanwaltschaft warf dem 51jährigen Maschinenschlosser Christian Boissevain vor, kopierte Stadtpläne mit der markierten Marschroute der Neonazidemo verteilt zu haben. Daß Boissevain dabei konkret zu einer Blockade aufgerufen habe, konnten die als Zeugen geladenen Polizeibeamten nicht bestätigen. Seine Anwältin Angelika Lex konnte zudem die vom Staatsanwalt vorgeworfene »öffentliche Aufforderung« zu einer Straftat nicht erkennen, da Boissevain nicht einer anonymen Menge, sondern ausgewählten Personen die Stadtpläne gegeben habe. Sie verwies darauf, daß auch Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) wörtlich dazu aufgerufen habe, sich den Neonazis in den Weg zu stellen.
»Ich bin empört, daß hier Antifaschisten, die den von Politikern geforderten Aufstand der Anständigen mitorganisiert haben, stellvertretend für viele Menschen abgeurteilt werden«, erklärte Boissevain in seiner Verteidigungsrede. Statt der ursprünglich im Strafbefehl geforderten 50 Tagessätze verurteilte ihn der Richter zu 30 Tagessätzen von 30 Euro. Zu seinen Gunsten rechnete ihm der Richter das Motiv seiner Handlung an, doch sei er »über das Ziel hinausgeschossen«.
Auch Martin Löwenberg, Mitglied im VVN-Landesvorstand Bayern, bekam eine Geldstrafe. Das Gericht verurteilte den 78jährigen zu 15 Tagessätzen von 20 Euro wegen öffentlicher Aufforderung zu einer Straftat und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Während seiner Rede auf einer antifaschistischen Kundgebung am 30. November hatte er dazu aufgerufen, zum Ort der Neonazidemonstration zu gehen. »Verhindern wir gemeinsam den Aufmarsch von alten und neuen Nazis«, hatte Löwenberg erklärt. Es sei im Sinne des Grundgesetzes, sich den »Totengräbern der Demokratie« entgegenzustellen. Er habe Aufstieg und Ende der Nazidiktatur erlebt, schilderte Löwenberg in einer bewegenden Rede. Im November 1941 seien 15 Verwandte seines jüdischen Vaters aus Breslau deportiert worden. »Kein einziger hat den Holocaust überlebt.«
1944 mußte Löwenberg als Zwangsarbeiter in einem KZ in Lothringen die Leichen ermordeter jüdischer Arbeiter wegtragen. »Nach der Befreiung 1945 war für uns die entscheidende Lehre: Faschismus und Krieg hätten verhindert werden können, wenn Demokraten und Antinazis rechtzeitig die Gefahr erkannt und die Nazis aktiv bekämpft hätten. Solange mein Kopf und mein Körper mitmachen, werde ich weiterhin immer dort sein, wo die Nazis marschieren, um zu zeigen, daß sie in München nicht geduldet werden.«
Er habe sich im Namen einer höheren Moral bewußt für eine Straftat entschieden, warf der Staatsanwalt Löwenberg vor. Über die Rechtmäßigkeit einer Demonstration hätten alleine die Gerichte zu befinden. »Sonst würde bald der Mob auf der Straße bestimmen, wer sein Versammlungsrecht ausüben darf.«
Das Urteil löste wütende Protestrufe auf den überfüllten Zuschauerbänken aus. Mehrere empörte Prozeßbesucher, darunter der Fraktionschef der Münchner Grünen, Siegfried Benker, wurden vom Richter des Saales verwiesen. Im Oktober wird Benker selbst vor Gericht stehen. Auch er hatte im vergangenen Jahr dazu aufgerufen, den Neonaziaufmarsch zu stoppen.
|