-->Die Beschäftigten der Büroetage müssen sich umorientieren. Nach den Arbeitsplätzen in der Industrie vergeben globale Firmen zunehmend auch Bürotätigkeiten in Tieflohnländer - von der Lohnabrechnung bis zu Programmieraufträgen.
Wenn der Bankangestellte mit seiner Freundin, einer Sachbearbeiterin, am Sonntag entspannt durchs frühherbstliche Zürcher Oberland wandert und beide sich an den leer stehenden Spinnereien und Webereien erfreuen - «Wie hübsch! Das gäbe ein super Loft!» -, ahnen sie nicht, was die verlassenen Fabriken mit ihrem Schicksal zu tun haben könnten. Auf dem Parkplatz essen sie an der Sonne das letzte Eingeklemmte mit Bündnerfleisch, bevor sie ins Auto steigen. Das Paar ist von unheilschwangeren Signalen und Hinweisen umgeben.
Die Textilfabriken stehen leer, weil Blusen und T-Shirts in Rumänien oder Bangladesch billiger genäht werden als in der Schweiz. Der Weizen fürs Brot wurde aus den USA eingeschifft, das Rindfleisch ist argentinischer Herkunft, und das Auto lief in Tschechien vom Band. Nicht dass den beiden Ausflüglern diese Fakten fremd wären. Das ist halt die Globalisierung! Wenn Näherinnen, Bauern und Mechaniker im Ausland kostengünstiger produzieren - weshalb soll man diese Dinge hier machen?
Bloss: Jetzt stellen sich Konzernchefs diese Frage plötzlich in Bezug auf das Büropersonal. Weshalb sollen Lohnabrechnungen hier gemacht werden? Oder die Buchhaltung? In den achtziger und neunziger Jahren wanderten in einer ersten Welle Fabrikjobs in Billiglohnländer, in einer zweiten Welle Dienstleistungen wie das Beantworten von Kundenanrufen in Call-Centern oder einfache Programmieraufgaben.
Nun trifft die Globalisierung mit einem Mal auch jene, die im weissen Hemd und mit Krawatte am Pult sitzen. Denn die Firmenlenker merkten: Was hiesige Buchhalter oder Softwareentwickler können, das können auch indische, ungarische oder polnische.
Der US-Konzern General Electric beschäftigt schon 20000 Mitarbeiter in Indien - diese erfassen Daten, klären Kreditanträge ab und bereiten Bilanzen vor. Beim Kreditkartenunternehmen American Express stehen 4000 Inder in Lohn und Brot, bei British Airways über 1000. Die Schweizer Fluggesellschaft Swiss lässt in Indien Buch führen über die Erträge aus dem Frachtgeschäft, während 65 indische Mitarbeiter für die Rückversicherung Swiss Re die Schadenadministration erledigen. Beim Pharmamulti Novartis ermöglichen vierzig indische Statistiker den 24-Stunden-Arbeitstag: Am Abend schicken sie ihre Daten jeweils in die USA, wo daran weitergearbeitet wird, bis Indien am Morgen wieder übernimmt. Der deutsche Chiphersteller Infineon lagerte die Konzernbuchhaltung kurzerhand nach Ungarn aus, der Softwarekonzern SAP will auf «billigere Standorte wie Indien und Bulgarien ausweichen».
Das ist erst der Anfang. Experten erwarten, dass die Abwanderung von Bürojobs, derzeit noch ein Rinnsal, innert Kürze zur Flut anschwellen wird. «Kein Chef eines globalen Konzerns wird darum herumkommen, Arbeiten, die anderswo billiger erledigt werden können, auszulagern», sagt Patrick Wetzel vom Beratungsunternehmen McKinsey. «Die Weltwirtschaft steht vor einem tiefen Wandel.»
Zwei Millionen Jobs werden allein Banken und Versicherungen in den nächsten fünf Jahren in Tieflohnländer verschieben, schätzt die Beratungsfirma Deloitte Research. In erster Linie nach Indien, aber auch in die Philippinen, nach Malaysia, Osteuropa und Irland. Bei den Banken in Deutschland, der Schweiz und Ã-sterreich werden nach Schätzungen von Experten 100000 Arbeitsplätze verschwinden und in den Personalabteilungen amerikanischer Konzerne jede sechste Stelle. Wohl auf Nimmerwiedersehen. Denn: Arbeitsplätze, die einmal weg sind, bleiben weg. «Die Abwanderung der Textilindustrie war auch endgültig. Das wird hier gleich sein», sagt Hansjörg Siber von der Beratungsfirma Cap Gemini.
Weshalb dieser Exodus? Der Grund ist denkbar einfach: der Lohn. Ein indischer Buchhalter verdient 5000 bis 10500 Franken. Im Jahr, wohlgemerkt. Der Programmierer in Bangalore trägt 8500 Franken nach Hause, sein Kollege im amerikanischen Silicon Valley 85000 Franken. Und während in Polen ein Ã-konom frisch ab Uni für 22 000 Franken im Jahr arbeitet, würde ein Schweizer viermal mehr fordern.
Zweitens verfügen diese Länder über schier unbegrenzte Reservoire an gut ausgebildeten jungen Leuten. In Indien strömen jedes Jahr 2,1 Millionen frisch gebackene Uni-Absolventen auf den Markt, perfektes Englisch inklusive.
Die Filipinos sind dank ihrer kulturellen Nähe zu den USA bestens bewandert, was amerikanische Buchhaltungsvorschriften angeht, weshalb sich das Inselreich hier eine Kompetenznische schuf. In Polen wiederum ist die Akademikerdichte ebenso hoch wie die Arbeitslosigkeit. Wer von einem westeuropäischen oder amerikanischen Konzern angeheuert wird, hat das grosse Los gezogen. «Der Leistungswille ist extrem hoch. Die Leute hier sind hungrig», sagt Hansjörg Siber. Seine Arbeitgeberin Cap Gemini bietet so genanntes Business Process Outsourcing an. Konzerne, die «Geschäftsprozesse» wie die Buchhaltung nicht mehr selber betreiben wollen, übergeben die der Firma Cap Gemini, die ihrerseits im polnischen Krakau arbeiten lässt. Siber gerät ins Schwärmen: «Im Westen finden Sie keinen ausgebildeten Ã-konomen mehr, der Finanzbuchhalter werden will. In Polen schon.» Auch spricht man in vielen Ländern Osteuropas Deutsch, was die Region für deutsche und Schweizer Konzerne attraktiv macht.
In den vergangenen Jahren hat bei der Kommunikation ein wahrer Preissturz stattgefunden - der dritte Grund, weshalb jede Arbeit, die am Bildschirm stattfindet, geradeso gut irgendwo am Golf von Bengalen oder in Ungarn verrichtet werden kann. Übers Internet lassen sich heute riesige Datenmengen in Windeseile transportieren. Oder via Weltall. Die Swisscom baute extra eine Satellitenverbindung auf, als sie vor einigen Jahren die ersten Softwarearbeiten nach Indien vergab. «Man merkte nicht, ob die Leute in Fribourg sassen oder in Bangalore», erzählt der Verantwortliche. Viertens spricht die Flexibilität für die neuen Bürokräfte. Nehmen wir zum Beispiel die Firma Office Tiger, deren Finanzanalysten von Madras aus für grosse US-Investmentbanken Research-Aufträge erledigen. Die jungen Leute arbeiten zu amerikanischen Bürozeiten, also nachts.
Russische Spezialisten bei Swisscom
Bislang bilden amerikanische und britische Unternehmen punkto Auslagerung die Vorhut. «Sie tun sich damit durch die englische Sprache am leichtesten», sagt Andreas Pratz von der Beratungsfirma A. T. Kearney. Auch sind die rechtlichen Bestimmungen, was Datenschutz angeht, weniger strikt als in Europa. Doch angesichts zehnmal tieferer Löhne in Asien wird wohl mancher europäische Konzernchef schwach werden und seine Bürobelegschaft ausdünnen.
Für Pratz gibt es auch überhaupt keinen Grund, weshalb eine Bank die Lohnabrechnungen ihrer Mitarbeiter selber erstellen soll. «Das wird zunehmend Standard und gehört nicht zum eigentlichen Bankgeschäft.»
Schätzungen zufolge werden denn auch drei Viertel aller grossen und mittleren Firmen in Europa bis Ende 2004 Arbeiten über den Erdball verschieben. «Auch die Schweizer CEOs wissen, dass sie sich mit dem Thema anfreunden müssen», sagt Patrick Wetzel von McKinsey. Schliesslich steht man nicht gut da, wenn die globale Konkurrenz plötzlich mit viel tieferen Personalkosten glänzt.
Ein Zwang, den man beim Versicherungskonzern Zurich Financial Services durchaus erkannt hat: «Wir müssen uns mit Konzernen messen, die das bereits tun», sagt Firmensprecher Daniel Hofmann. Zwar war die «Zurich» bisher zurückhaltend. Sie hat ein einziges Call-Center in Indien. Abends und nachts, «wenn in England niemand bereit ist zu arbeiten», werden Kundenanrufe dorthin umgeleitet.
Doch natürlich sieht der Konzern die Vorteile, auch höherwertige Büroarbeiten an günstigeren Standorten anzusiedeln. Hofmann: «Wenn Arbeit standardisiert werden kann und eher repetitiv ist, birgt sie eine geringe Wertschöpfung. Wir in der Schweiz müssen aber eine hohe Wertschöpfung erbringen, sonst steuern wir uns aus dem Wettbewerb. Und es ist wirtschaftlich nicht tragbar, solche Arbeitsplätze à la longue zu erhalten.» Deshalb prüft auch die Swiss Re, die 65 Leute in Indien beschäftigt, «laufend», wie administrative Arbeiten «optimiert» werden können.
Dem Telekommunikationskonzern Swisscom helfen russische Spezialisten, neue Dienstleistungen zu entwickeln. Überdies stehen indische Programmierer in seinem Sold, für einen «kleinen einstelligen Millionenbetrag» jährlich. In grosser Not hatte sich das Management vor fünf Jahren an die Inder gewandt. Es stand die undankbare Aufgabe an, ein System mit 2000 Programmen «millenniumsfähig» zu machen: das heisst, alle Jahreszahlen von zwei auf vier Ziffern umzuschreiben. Eine Fleissarbeit herkulischen Ausmasses. Welcher Schweizer wollte das schon machen? Informatiker waren hierzulande begehrt wie nie, da gab man sich nicht mit solcher Arbeit ab. Also die Inder. Die erledigten alles tipptopp, weshalb sich eine dauerhafte Beziehung ergab. Mittlerweile sind die Arbeiten anspruchsvoller.
«Outsourcing» - ein Dritter macht die Arbeit - und «Offshoring» - die Arbeit wird weg («off») an ferne Gestade («shores») vergeben -, ein Begriffspaar, das den Arbeitsmarkt in den Industrieländern spürbar verändern wird.
Das wissen auch die Unternehmen, die sich deshalb nur ungern über das Thema auslassen. Sie fürchten Anfeindungen in ihren Heimatländern, weswegen die reflexartige Reaktion jeweils so tönt wie bei Swiss Re und «Zurich», die beteuern: in der Schweiz sei keine einzige Stelle gestrichen worden wegen der Inder.
Man will ja um Himmels willen keine Schlagzeilen provozieren im Stil von: Die Inder nehmen uns unsere Jobs weg.
Konzerne in der Zwickmühle
Mit dem unangenehmen Sachverhalt setzten sich jüngst auch Manager des IBM-Konzerns auseinander. Man war unter sich und räsonierte an einer internen Sitzung über die grosse «Herausforderung», eine «Balance» zu finden zwischen den wirtschaftlichen Zwängen («Unsere Konkurrenz tut es auch») und den negativen Auswirkungen auf die heimischen Beschäftigten, deren Stellen in Gefahr sind. Fazit: eine wahre Zwickmühle.
Tags darauf ging lauthals der Protest los. «Amerikas Firmen schicken unsere besten Jobs ins Ausland», rief die Gewerkschaft Washington Alliance of Technology Workers, der das Gesprächsprotokoll zugespielt worden war. Andere sehen das Ende der technologischen Führerschaft der USA nahen: «Wir geben Ländern wie Indien und China die Unterstützung, die sie brauchen, um eigene Hightechindustrien aufzubauen», warnt Phil Friedman, Chef von Computer Generated Solutions in New York. Dies zum eigenen Nachteil. Denn so züchtet man spätere Konkurrenten heran. Auch die Politik hat den Zündstoff erkannt: Einige Bundesstaaten überlegen sich, staatliche Aufträge nur noch an Firmen zu vergeben, die alle Arbeiten im Inland ausführen.
Deutsche Politiker müssen sich derweil beschuldigen lassen, sie nähmen die Gefahr nicht ernst genug. Durch Produktionsverlagerungen gingen bereits jetzt jedes Jahr 50000 Stellen verloren, warnt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Wegen der hohen Abgabenlast wolle fast jede vierte Firma in den kommenden Jahren ihre Fabrikation auslagern. Und nun kämen auch noch Verwaltungen und Forschungsabteilungen auf den Prüfstand.
Die Aufregung rundherum hat die Schweiz noch nicht erreicht. Der Arbeitgeberverband mahnt lediglich, man dürfe die Arbeit nicht noch weiter verteuern. Ruhig Blut auch bei den Gewerkschaften. «Das Ganze ist doch mehr Rhetorik als Realität», meint Beat Ringger von der Internet-Gewerkschaft Syndikat. Und argwöhnt: «Mit der Diskussion will man Stimmung machen. Nach dem Motto: Wir kürzen hier die Löhne, sonst lagern wir aus.» Die miserable Konjunktur und die geplatzte Dotcom-Blase hätten viel schlimmeren Schaden angerichtet. «Das Hauptproblem ist nicht Indien.»
Vielleicht ist man hierzulande auch schlicht gewohnt, dass Arbeitsplätze über die Grenze wandern. Seit Anfang der neunziger Jahre verschwanden in der Schweizer Industrie rund 160000 Jobs. Gleichzeitig schufen Schweizer Unternehmen knapp 200000 neue Stellen - im Ausland.
Und überhaupt: «Es gibt keinen Grund, irgendjemandem eine Arbeit zu gönnen und einem anderen nicht», meint Gewerkschafter Ringger grossherzig. Schliesslich ist auch der indische Arbeitnehmer ein Arbeitnehmer.
Auf der anderen Seite der Erdkugel freuen sich die gut ausgebildeten Hochschulabsolventen, zu den weltweit gefragtesten Arbeitskräften zu gehören. Die 32-jährige Uma Satheesh ist Abteilungschefin bei Wipro, dem führenden indischen Outsourcing-Anbieter. Ihre Mitarbeiter machen Unterhaltsarbeiten für Grossserver des US-Konzerns Hewlett-Packard. Insgesamt sind 300 Wipro-Angestellte für die Aufträge des grossen amerikanischen Kunden abdelegiert.
Im letzten November stockte man um 90 auf, nachdem Hewlett-Packard in den Industrieländern im grossen Stil Personal auf die Strasse gestellt hatte. Was bei Uma Satheesh schon etwas «gemischte Gefühle» auslöste, wie die Abteilungschefin dem Nachrichtenmagazin Time anvertraute. Andererseits: So sei es halt. Um dann weiterzuerzählen, wie Informatikabsolventen vor fünf Jahren nur ein Ziel hatten: weg von Indien. Weg von den geisttötenden Programmierarbeiten, die westliche Firmen hierhin verschoben.
Das habe zwischenzeitlich wirklich gewaltig geändert. «Die Aufträge wurden anspruchsvoller, und die Leute sind zufrieden hier, mit dem Job und mit dem Lohn.» Autos und Häuser, all dies sei für die neue junge Mittelschicht längst nicht mehr unerschwinglich.
Die Jobverlagerung hilft also zumindest teilweise, das Reichtumsgefälle zwischen dem Westen und den Entwicklungsländern zu minimieren.
Doch gibt der Westen mutwillig die besten Jobs und künftigen Wohlstand aus den Händen? Sollten wir beunruhigt sein? Nein, sagt Ã-konomieprofessor Brad Delong von der kalifornischen Berkeley-Universität. «Für jeden Job, der nach Indien geht, wird hier ein neuer geschaffen.»
Geben die Inder ihre gestiegenen Löhne für Exporte aus dem Westen aus, profitieren hiesige Industrien und kreieren Arbeitsplätze. Investieren die Inder im Westen, entstehen Jobs in der Baubranche. «Es gibt mehr Gewinner als Verlierer», resümierte Professor Delong in der Wirtschaftszeitung Financial Times.
So war es auch damals, als die Frauen zu Tausenden vor den geschlossenen Fabriktoren standen, weil in Bangladesch das T-Shirt billiger genäht wurde. Auch da füllte sich das Vakuum. Globale Kleiderketten wie Hennes & Mauritz entstanden - und die einstigen Näherinnen wurden zu Verkäuferinnen.
«Dicht am Endkunden»
Doch zurück in die Gegenwart: Wird bald jedem Bürolisten der Stuhl unter dem Hintern weggezogen? Welche Jobs sind noch sicher, wenn nun schon Architekten (technische Zeichnungen) und Finanzanalysten aus Fernost für uns arbeiten? «Alles, was dicht am Endkunden ist», sagt Andreas Pratz von A. T. Kearney. Neue Produkte für Schweizer Banken beispielsweise könnten nie in Indien entwickelt werden. «Dafür braucht es das Gefühl für den Kunden.» Überhaupt sei alles, was mit Verkauf zu tun habe, sicher.
Möglicherweise wird sich das Personal in den Büroetagen aber komplett umorientieren müssen. «Wir haben immer noch einen grossen Personalmangel bei Dienstleistungsberufen. Vielleicht sollten wir die wieder selber machen, statt dafür Immigranten ins Land zu holen», sinniert Hansjörg Siber von Cap Gemini. Was nur heissen könnte: Kellner oder Serviertochter werden, oder Polizist. Eben etwas, was «dicht am Endkunden» ist.
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