Popeye
18.10.2003, 19:09 |
OT: Was ist Not: Selbstmord, Trockenheit und Kredihaie Thread gesperrt |
-->Die Lage vieler Landwirte in einigen Bundesländern Indiens ist ausweglos/Von Christoph Hein
BANGALORE, 16. Oktober. Bhaskar sah keine Chance mehr, keine Tür schien ihm offenzustehen. Die Zuckerrohrernte war dem Bauern aus dem indischen Süden verdorrt, der Sohn ging noch zur Schule, die Kreditsumme hatte sich auf unbezahlbare 60 000 Rupien (1147,50 Büro) angehäuft. Erst hörte Bhaskar auf zu arbeiten. Tage später hängte er sich in der Scheune auf.
Das Schicksal des Fünfzigjährigen ist alles andere als ein Einzelfall. Vor den Toren der Computer- und Software-Metropole Bangalore in Südindien spielt sich ein Drama ab, das mittelalterlich anmutet. Während in den Bürotürmen der Stadt an neuen Programmen gefeilt wird, die Call-Center für Anrufer aus Europa oder Amerika rund um die Uhr besetzt sind, bringen sich mehr und mehr Bauern nur wenige Kilometer entfef nt wegen ihrer verzweifelten Lage um. Seit März haben sich im südlichen Bundesland Karnataka mehr als 200 Landwirte das Leben genommen, 90 im August. Nach einem Bericht, den Landesvater S. M. Krishna der indischen Kongreßpräsidentin Sonia Gandhi vorgelegt hat, haben im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre jeweils 2200 Bauern Selbstmord begangen -Monat für Monat 180. Statistisch machen die Bauern ein Fünftel aller Suizide in Karnataka mit seinen 53 Millionen Einwohnern aus. „Kein außergewöhnlicher Wert", heißt es in der Landesregierung. Krishna ist um warme Worte nicht verlegen: „Warum nimmt sich unser Freund, der Bauer, sein eigenes Leben, wo er dank seiner Felder unser aller Leben erhält? Wir müssen uns des Problems ernsthaft annehmen."
Gleichwohl gibt es in der Regierung Karnatakas einen bizarren Streit darüber, wie viele der Bauern wegen ihres Elends und wie viele wegen persönlicher Probleme zu diesem letzten Mittel gegriffen haben. Bis-
lang erkennt sie nur 63 der Toten seit März als Selbstmord wegen der Sorgen der Landbevölkerung an. Nur ihren Hinterbliebenen zahlt sie je 100 000 Rupien Entschädigung.
Jenseits aller makabren. Zahlenspiele steht außer Frage, daß die Lage der Kleinbauern in einigen Bundesländern Indiens dramatisch ist. Es ist der immer gleiche, teuflische Kreislauf: Der - in diesem Jahr insgesamt gute - Monsunregen erreicht nicht alle Landesteile. Die Trockenheit läßt die Ernte ausbleiben. Der Einkommensverlust zwingt die Bauern in die Arme von Kredithaien, oftmals Großbauern. Deren Wucherzinsen - Fachleute der Asiatischen Entwicklungsbank (Asian Development Bank, ADB) sprechen von mindestens 5 Prozent monatlich - sind nicht zu bezahlen. Manche der Großbauern verlangen als Zins schlicht den" Ernteertrag - was die Kleinbauern weiter in die Abwärtsspirale zwingt. Stehen ihnen die Schulden bis zum Hals, müssen sie ihr von den Vorvätern übernommenes, verpfändetes Land und damit ihre einzige Einkommensquelle abgeben. Bevor das geschieht, bringen sie sich um.
Hinzu kommt der Druck, den die Geldverleiher ausüben. „Jeden Tag kam hier einer vorbei, um Forderungen einzutreiben. Aber wir hatten nichts, weil wir keine Ernte hatten", sagt ein Mann, dessen sechsund-zwanzigj ähriger Sohn sich aufgehängt hat. Er hatte Schulden von umgerechnet knapp 1500 Euro - bei einem Monatseinkommen von vielleicht 500 Rupien (9,50 Euro) unerreichbar. Doch nicht nur die Geldverleiher sind schuld. Viele Bauern verpfänden den Schmuck ihrer Frauen. Wenn sie ihn nicht mehr auslösen können, fürchten sie den Ansehensverlust. Sie greifen zum Strick oder trinken die Pestizide für die Felder.
Fachleute wie der Psychiater Mohan Is-sac machen - neben vielen anderen Ursa-
chen - die Entschädigungspolitik der Regierung verantwortlich. 100 000 Rupien für die Hinterbliebenen mögen manchem Bauern so viel Geld erscheinen, daß er dafür sein Leben gibt. „Wir sollten lieber über vorbeugende Maßnahmen nachdenken, als für den Tod Geld zu bezahlen", sagt Issac. Die Regierung hatte die Zahlungen im vergangenen Jahr schon beendet, sie nun aber, vor den Wahlen, wiederaufgenommen. Ohnehin bleibt den Familien nicht viel davon. Nur wenige Stunden habe es gedauert, bis nach der Übergabe des Schecks der Regierung die Geldverleiher an ihre Tür klopften, berichtet die Witwe Jayalakshmi den Reportern der Zeitschrift „The Week".
Rund 70 Prozent der gut einen Milliarde Inder leben von der Landwirtschaft. In Karnataka aber ist die Abhängigkeit von den Feldern noch größer. „90 Prozent der Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Und 89 Prozent haben Schulden", heißt es in Mysore, einer der größeren Städte. Viele der Bauern verfügen nur über Felder von etwa 1,5 Acre (6070 Quadratmeter) - zum Leben ist das nur in guten Zeiten genug.
Im Zuge der Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) im mexikanischen Cancünnahm nun der politische Druck stark zu. Die Regierung hat nun ein Paket von 8,5 Milliarden Rupien zur Entlastung der Bauern geschnürt. Geldverleiher dürfen künftig offiziell nicht mehr als 14 bis 16 Prozent Zinsen verlangen. Und sie müssen den Bauern nun ein Jahr Zeit zur Rückzahlung ihrer Kredite lassen, andernfalls riskieren sie eine Strafe von 30 000 Rupien -eine Summe, wegen deren sich mancher verschuldete Bauer schon das Leben nahm - oder bis zu drei Jahre Gefängnis. Zudem ließ sie ein amerikanisches System testen, das Wolken gezielt abregnen läßt. Die Bauern nennen das Naß „Regierungsregen".
Quelle: FAZ vom 17. Oktober 2003, Seite 16
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R.Deutsch
18.10.2003, 20:16
@ Popeye
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Was willst Du damit sagen? |
-->Wenn ich es richtig verstehe, bezahlt der Staat 10 Jahresverdienste, wenn sich der Bauer umbringt. Ich denke mal, wenn der Staat hier anfängt 500.000 Euro für Selbstmord zu bezahlen, steigt die Rate auch.
Wie Ronald Reagan schon sagte: „if you start paying people for being poor, you will get a lot of poor people”
Auch in Indien ist das Problem nicht der Monsun, sondern der Staat.
Gruß
RD
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Herbi, dem Bremser
18.10.2003, 21:27
@ Popeye
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Re: OT: Was ist Not ** Kartoffeln ernähren nicht nur, sie machen auch arm! |
-->>Die Lage vieler Landwirte in einigen Bundesländern Indiens ist ausweglos
Moin Popeye,
warum in die Ferne schweifen, wo das Positive liegt doch so nah (auch wenn heute nicht Mittwoch ist [img][/img] ).
Die Lage vieler Landwirte in einigen Bundesländern Deutschlands ist ausnamslos ausweglos.
Grad gestern habe ich einen"großen" Kartoffelhof besucht:
"Wenn du arm werden willst, dann mach' in Kartoffeln!
Es lohnt nicht mehr!
Wir müssen mehr geben, als wir erhalten!
Mit dem Thema sind wir durch!",
so einige Kommentare, warum der Kartoffelist den Anbau mit der Ernte 2003 einstellen wird.
Es klang fatal final.
In jedem Altende liegt auch die Chance eines Neuanfangs.. bladibla.
Gruß
Herbi
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vasile
19.10.2003, 02:40
@ Herbi, dem Bremser
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Re: Nu mach mal halblang! |
-->Hallo Herbi,
ich find`s schon nicht mehr lustig, wenn in der Jammer-Kakophonie des Leides auch noch unsere deutschen Bauern ihren Chorsplatz erhalten sollen. Und das zusäzlich zu den ganzen Subventionen!
Ist schon klar, daß es dem ein oder anderen dreckig geht! Relativ gesehen zu VORHER. Aber ein Vergleich zu den armen Schweinen in Indien ist Zynismus pur. Jeder der mal in Indien war, weiß wovon ich spreche. (Aber warum in der Ferne schweifen, wenn das Elend ist so nah: Russland, Türkei, Rumänien,...etc.)
Da wo ich wohne, da gehört das halbe Dorf einem reichen Bauern. Der hatte zufällig seinen Boden genau da, wo jetzt Mercedes, Sartorius und noch 'n paar andere Große ihre Hallen hingestellt haben. Der kam zum Reichtum wie der Esel zu den großen Ohren! Jetzt nur mal so als Gegenbeispiel!
Tschüß ne!
vasile
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vasile
19.10.2003, 03:28
@ R.Deutsch
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Das ist Deflationsbekämpfung pur! R.Deutsch knackt die Kopfnuss! |
-->Hi RD,
da sind hier einige (z.B.Dottore) schon lange am rumsuchen und Du löst doch tatsächlich diese Kopfnuss: Wie kann der Staat erfolgreich die Deflation bekämpfen?
Ganz einfach: indem er jedem Selbstmörder (bzw. den Hinterbliebenen) 500.000 € auszahlt. Zwar müßten dafür einige Gesetze geändert werden; dennoch lohnt sich der Aufwand, schlägt man doch zwei Fliegen mit einer Klappe!
Denn das Renten- und das Gesundheitskostenproblem werden auch der Vergangenheit angehören. Man muß lediglich per Gesetz erlassen, daß die Entschädigung nur an die Angehörigen ausgezahlt wird, deren Selbstmörder mindestens 60 jahre alt ist.
Was meinst Du, wieviel Senioren dann plötzlich und auf einen Schlag lebensmüde werden. Und keine Renten mehr beziehen. Und nicht mehr zum Arzt gehen!
Deine Forderung, die Leute in Indien nicht auch noch dafür zu bezahlen, daß sie im Elend verrecken, unterstütze ich voll und ganz. Wo kämen wir denn da hin, wenn auf einmal alle versifften Elendsbewohner der Erde Entschädigung dafür wollten, im Elend zu verrecken?
Allerdings hier muß ich energisch wiedersprechen:
>Auch in Indien ist das Problem nicht der Monsun, sondern der Staat.
Das Problem in Indien und auch sonstwo ist nicht der Staat, sondern der Mensch selbst. Denn"der Mensch ist im klassischem Sinn kein Säugetier. Jedweder Säuger auf diesem Planeten entwickelt instinktiv ein natürliches Gleichgewicht mit seiner Umgebung. Der Mensch tut das nicht. Der Mensch zieht in ein bestimmtes Gebiet und vermehrt sich, bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Der einzige Weg zu überleben, ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf dem Planeten, der genauso verfährt. Das Virus! Der Mensch ist eine Krankheit. Das Geschwür dieses Planeten. Eine Pest!"
Tja, und aus diesem Blickwinkel ist das ganze Gesülz über"der Staat ist schuld, aber wir können leider nicht ohne" eben nur Gesülz; das Herumdoktern an einem Symptom dessen Ursache gleichzeitig es selbst ist. Die Henne frißt das Ei!
Tschüß ne!
vasile
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Popeye
19.10.2003, 06:51
@ R.Deutsch
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Re: Was willst Du damit sagen? |
-->>Wenn ich es richtig verstehe, bezahlt der Staat 10 Jahresverdienste, wenn sich der Bauer umbringt. Ich denke mal, wenn der Staat hier anfängt 500.000 Euro für Selbstmord zu bezahlen, steigt die Rate auch.
Hallo, @R.D.,
wie nicht anders zu erwarten, hast Du den makabren Kern meines Anliegens richtig erfasst. Vielleicht lassen sich so eine Menge von Problemen lösen. @vasile deutet einen Bereich an. Aber für Selbstmordprämien als (sozial-)politisches Instrument sehe ich noch ein breites Anwendungsfeld...
Grüße
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Herbi, dem Bremser
19.10.2003, 22:45
@ vasile
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Re: Nu mach mal halblang! ** Würde ich gern machen ;-), allerdings |
-->>Ist schon klar, daß es dem ein oder anderen dreckig geht! Relativ gesehen zu VORHER.
Moin vasile,
als ein Beispiel
(ex http://www.ndr.de/ndr/wirtschaft/po...826_pleiten_niedersachsen.html):
Massiver Zuwachs von Insolvenzen
.. im Gastgewerbe
Sprunghaft gewachsen ist die Zahl der Insolvenzfälle im Gastgewerbe. 126 Kneipen und andere Gastbetriebe mussten den Gang zum Gericht antreten - das waren 85 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2002. Auch in der Landwirtschaft stieg die Zahl der Insolvenzen stark, und zwar von 15 auf 44 Betriebe. Als Gründe nannte das Landesamt für Statistik die schlechte Ernte 2002, die mäßigen Erwartungen an die Ernte in diesem Jahr sowie neue, restriktive EU-Förderrichtlinien.
Mehr in den Statistiken der Ämter.
Irgendwie ist mir eine Zahl von 19 monatlich insolvierenden landwirtschaftlichen Betrieben in Bayern in Erinnerung. Mögen es inzwischen weniger sein [img][/img].
Gruß
Herbi
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Euklid
19.10.2003, 23:00
@ Herbi, dem Bremser
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Re: Nu mach mal halblang! ** Würde ich gern machen ;-), allerdings |
-->Der massive Anstieg der Insolvenzen ist nicht nur auf die wirtschaftlichen Probleme zurückzuführen.
Das ist eine elegante Art um sich vom Personal zu trennen ohne Abfindung und manchmal sogar von Rechnungen der Vorlieferanten.
Da scheint eine ganze Menge geplanter Konkurse vorhanden zu sein.
Ist ja heute kein Kunststück eine Firma sach und fachgerecht um die Ecke zu bringen oder? [img][/img]
Gruß EUKLID
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