-->SPIEGEL ONLINE - 29. November 2003, 9:41
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Israels Apo
Die Macht der Neuen Hoffnung
Von Ulrike Putz, Tel Aviv
Auch wenn die Ankündigung des israelischen Regierungschefs Scharon, einige jüdische Siedlungen auf palästinensischem Gebiet zu räumen, nicht das Ende der Besatzung bedeutet: Sie zeigt, dass auch die Hardliner in der Regierung sich dem Druck einer neuen Macht beugen müssen: einer starken außerparlamentarischen Opposition.
Macht man in diesen Tagen in Israel den Fernseher an, hat man den Eindruck, einer 24-Stunden-Dauersendung zuzuschauen. Interviews, Talkshows und Kommentare gehen nahtlos ineinander über und drehen sich vornehmlich um eine Frage: Was sind"einseitige Schritte"? Seit Ariel Scharon am vergangenen Freitag genau diese ankündigte, um endlich Frieden zu schaffen, üben sich Israels Journalisten im ausdauernden Kaffeesatzlesen. Was kann Scharon damit gemeint haben? Die Räumung von Siedlungen? Wenn ja, von welchen? Und wann? Oder meint der Regierungschef gar den Rückzug aus den gesamten palästinensischen Gebieten?
Talkshow-Gäste und Nachrichtensprecher rätseln über diese Fragen, als könne man bei richtiger Antwort Millionär werden. Nur der, der sie beantworten könnte, hält sich bedeckt. Scharon teilt nur häppchenweise mit, zu welchen Zugeständnissen er wirklich bereit ist - und erhöht damit geschickt die Spannung. Siedlungen, die gebaut worden seien, um die Regierung zu provozieren, würden geräumt werden, sagte Scharon:"Legal ist legal und illegal ist illegal."
So unzureichend Scharons politische Statements erscheinen mögen: Für den Ministerpräsidenten, der 1977 als Landwirtschaftsminister den Grundstein zur planmäßigen jüdischen Besiedlung des Westjordanlands legte, sind sie ein großer Schritt - und nicht jedem in der Groß-Koalition genehm: Man dürfe nicht nachgeben und so den Terror belohnen, heißt es aus dem rechten Flügel des Kabinetts. Vor allem drei Minister, die selbst in Siedlungen leben, sind empört und werfen Scharon Doppelzüngigkeit vor.
Scharon muss reagieren
Scharons Kritiker übersehen, dass der Regierungschef gar nicht anders kann, als einzulenken. In der israelischen Ã-ffentlichkeit hat in den vergangenen Monaten ein Klimawandel stattgefunden, den selbst das politische Schwergewicht Scharon nicht ignorieren kann. Vorbei die Zeit, in der man Friedeninitiativen als naiv abtun und Verständigungs-Aktivisten als Vaterlandsverräter brandmarken konnte. Nach Jahren des Zynismus, der Resignation nach dem Scheitern von Camp David formiert sich an Israels Küchentischen, in Kasernen, Kneipen und Universitäten eine neue, außerparlamentarische Opposition. Einige fassen sie unter dem Begriff"Tikva Hadascha", Neue Hoffnung, zusammen.
Triebkraft der Graswurzel-Bewegung ist die in Israel nicht selbstverständliche Einsicht, dass den Palästinensern tatsächlich Unrecht zugefügt wird und dass es Frieden erst geben kann, wenn dieser Zustand beendet sein wird. Jahrelang hatten sich die Israelis hinter der Lebenslüge vom Terrorkrieg verschanzt, der den unschuldigen Israelis durch die Palästinenser aufgezwungen wurde."Wir haben keine Alternative", war das Mantra der vergangene drei Jahre - nun wird es aufgebrochen. Statt einer starren Verteidigungshaltung wollen die Menschen eine Perspektive. Und auch auf palästinensischer Seite setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Frieden machbar ist - wenn beide Seiten endlich bereit sind, Abstriche zu machen.
Begonnen hat der Stimmungsumschwung im Spätsommer, als 27 israelische Piloten sich mit einem offenen Brief an die Führung der Luftwaffe wandten. Sie erklärten, in Zukunft an keinen Einsätzen mehr teilzunehmen, bei denen palästinensische Terroristen aus der Luft bombardiert werden und in der Vergangenheit oftmals Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden. Wie bedeutend diese Weigerung war, zeigten die heftigen Attacken, die sie auslöste. Während vereinzelte Fälle von Befehlsverweigerung in der Vergangenheit eher im Stillen behandelt wurden, witterte die Armeeführung hinter dem"Nein" der Militär-Elite den Anfang einer breiten Bewegung und strafte sie entsprechend hart und öffentlich.
Annäherung zwischen den Völkern
Mit zwei alternativen Friedensplänen bewiesen israelisch-palästinensische Think-Tanks ebenfalls im September, dass es entgegen der offiziellen Sprachregelung sehr wohl möglich ist, mit dem Gegenüber in ernsthafte Verhandlungen zu treten - und dass die Bevölkerung auf beiden Seiten der Grünen Linie solche Annäherungen unterstützt. Mehr als 120.000 Israelis und 80.000 Palästinenser haben bislang ihren Namen unter die Friedensvorschläge des ehemaligen Chefs des israelischen Inlandsgeheimdiensts Ami Ayalon und des palästinensischen Philosophieprofessors Sari Nusseibeh gesetzt, der die Vision einer friedlichen Koexistenz zweier Staaten entwirft.
Das so genannte"Genfer Abkommen", dessen detaillierter Friedensplan in Privatinitiative von Israelis und Palästinensern ausgearbeitet wurde, ging in den vergangenen Wochen als blau-weiße Postwurfsendung samt Landkarte an die meisten israelischen und palästinensischen Haushalte. Umfragen zeigen, dass über 50 Prozent beider Völker den pragmatischen Plan begrüßen, der von beiden Seiten harsche Opfer fordert: Israel verliert danach seine Siedlungen, die vertriebenen Palästinenser verzichten auf ihr Rückkehrrecht in ihre Heimat im heutigen Israel, Jerusalem wird zwischen beiden Staaten aufgeteilt.
Konnte die Regierung angesichts der beiden Friedenspläne noch an ihrer alten Machtpolitik festhalten und jede Einmischung von außen als stümperhaft und illegitim diskreditieren, geriet sie in Bedrängnis, als sich vier frühere Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth in den Chor der Kritiker einreihten. In einem spektakulären Interview, das vor zwei Wochen in der Zeitung"Yediot Ahronot" veröffentlicht wurde, warf das Kleeblatt der Regierung Führungsschwäche und Orientierungslosigkeit vor.
Untergang mit dem Schwert im Morast
Mit der Einschätzung, dass Israel einer Katastrophe entgegeneile, entzogen die Sicherheitsexperten der Regierung ein großes Stück Glaubwürdigkeit."Wenn wir fortfahren, mit dem Schwert zu leben, werden wir im Morast untergehen und uns selbst zerstören", so die ehemaligen Geheimdienstchefs. Schon jetzt gehe Israel sicheren Schritts in eine Richtung, wo"dieses Land keine Demokratie mehr sein wird und auch nicht mehr die Heimat der jüdischen Nation".
Es reiche nicht, Arafat als Friedenshindernis zu stilisieren, die Israelis müssten ihre Siedlungen räumen, so die Sicherheits-Experten. Israel dürfe keine Furcht vor der Auseinandersetzung mit Siedlern haben, es selbst habe die Siedlungen gegründet, nun müsse der Staat selbst auch welche räumen. Die Art und Weise, in der die israelische Regierung die Palästinenser behandelt, sporne den Terror eher an, als ihn zu beseitigen.
Der Gegenangriff der Regierung, deren Sprecher die Einschätzung als"naiv" wertete, fiel dementsprechend kleinlaut aus - es war in Jerusalem klar geworden, dass die Kluft zwischen Regierung und Volkswillen unüberbrückbar tief zu werden droht. Scharon witterte, dass er einen Zug machen musste, wollte er sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. Seine überstürzte Ankündigung,"einseitige Schritte" zu unternehmen, die nun erst nach und nach mit Inhalt aufgefüllt wird, ist ein Zeichen dafür, dass der Stimmungsumschwung in Richtung"Tikva Hadascha" nun auch in Jerusalem wahrgenommen worden ist und zum Handeln zwingt.
Mit seinem Versprechen, Siedlungen zu räumen, hat Scharon einen ersten Fuß auf den Weg zu setzten, den die Friedenspläne für ihn geebnet haben. Zwar glaubt in Israel kaum einer, dass der alte Fuchs das Gesagte eins zu eins in die Tat umsetzen wird. Aber"auch wenn seine Ankündigungen wegschmelzen werden wie seine früheren Versprechungen, sind sie ein Anzeichen dafür, dass Israel auf dem Weg raus aus den besetzten Gebiete ist", analysiert die"Haaretz".
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stocksorcerer
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