bernor
17.12.2003, 00:48 |
Die Mär vom „freien Lohnarbeiter“ - Was geschah wirklich in England nach 1381? Thread gesperrt |
-->Hi,
zu der kürzlichen Debatte hier über das Proletariat ex Bauerbefreiung (siehe Dottore, Galiani, JoBar) möchte ich hier - auch im Hinblick auf monokausale Schlußfolgerungen - noch folgendes anmerken:
Dottore hat zwar recht, wenn er das Auftreten des Industrie- und Dritte-Welt-„Proletariats“ mit den Wanderungen ehemaliger Bauern auf die Aufhebung ihrer Leibeigenschaft zurückführt (z. B. aus dem Osten Preußens ins Ruhrgebiet, ebenso die heutige Landflucht in der Dritten Welt), was aber nicht der alleinige Grund ist.
Ein weiterer ist das jeweils vorangegangene (!) Bevölkerungswachstum, vor allem bedingt durch bessere medizinische Standards (unter Beibehaltung bisheriger Tabus bezüglich Verhütung / Abtreibung), siehe entsprechende Forschungen und Entwicklungen im 18./19. Jahrh. bzw. europäische Missionare und Mediziner in den ehemaligen Kolonien.
Die künftigen Industrie-Arbeiter kamen eben nicht von romantischen Bauernhöfen (mit glücklichen Kühen und so), sondern von solchen, die übervölkert waren. Wären sie dageblieben, wären sie dort verreckt.
Ganz anders war die Situation nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in England 1381 (und in der Schweiz ab dem 13. Jahrh., aber die lassen wir hier mal außen vor): nach der großen Pest („Schwarzer Tod“) herrschte dort ein Bevölkerungsmangel, vor allem ein Mangel an Bauern (es soll Güter gegeben haben, auf denen kein einziger Leibeigener überlebt hatte). Woher zu jener Zeit ein „Proletariat“ gekommen sein soll, ist nicht ersichtlich.
Die Bauern wollten nicht abwandern, sondern als „eigene Herren“ (möglichst auf eigenem Grund) leben.
In diesem Zusammenhang erinnere ich an den „Leviathan“-Aufsatz von Heinsohn und Steiger (H&S)
(da ich ihn nicht zur Verfügung habe, gebe ich hier nur folgenden Kurztext - aus „Geld & Wachstum“ von Binswanger / Flotho, Seite 183, Fußnote 7 - wieder, der allerdings schon das Wesentliche aussagt; Hervorhebung von mir):
Vgl. Heinsohn/Steiger (1981), S. 168. Mit Bezug auf die Bauernkriege im 14. Jahrhundert in England schreiben Heinsohn und Steiger: »Hier haben wir eine historische Situation, in der Geld entsteht. Der Leibeigene, der freier Bauer werden wollte, aber nur freier Lohnarbeiter wurde und daher seine Lebensmittel nicht selbst herstellen kann, muß diese nun kaufen können. Der Adelige, der Grundbesitzer, aber nicht Feudalherr geblieben ist, muß dem nun dringend benötigten Landarbeiter eben diese Kauffähigkeit verbürgen.... Das gelingt ihm dadurch, daß er für Ansprüche des Lohnarbeiters mit seinem Grundeigentum bürgt.«
der einen (wohl mangels zeitgenössischer Überlieferung durch übermäßiges Theoretisieren entstandenen) offensichtlichen Fehler enthält:
Wofür brauchte der befreite Bauer - als Quasi-Selbstversorger, der seine Nahrung & Kleidung sehr wohl selber herstellen konnte und dies seit jeher auch tat - jetzt eigentlich Geld? Schulden hatte er (noch) nicht, einen gehobenen Lebensstandard auch (noch) nicht - und die Poll Tax (die einzige Steuer, die er bisher zu zahlen hatte und die den Aufstand der Bauern ausgelöst hatte) war auch wieder aufgehoben worden!
Hätten sich H&S gelegentlich mal im Bremer Umland bei den dortigen „kapitalistischen“ Bauern erkundigt, was die so für’n Status haben, wäre die Antwort ganz sicher folgende gewesen: Ein (wie seine englischen Kollegen anno 1381) eigenständig im Familienbetrieb wirtschaftender Bauer ist entweder Eigentümer an Hof bzw. Flächen oder Pächter derselben - aber niemals Lohnarbeiter. Den gibt es - selbstverständlich „frei“ - nur als Hilfskraft in Lohnunternehmen (und evt. noch auf größeren Höfen).
Ganz ähnlich ist es aus dem England des 15./16. Jahrh. überliefert:
Da gab es
<ul> ~ </li>den landlord (Grundeigentümer = Ex-Feudalherr)
~ </li>den tenant farmer (Pächter = Ex-Leibeigener)
~ </li>und den landless wage labourer (landloser Lohnarbeiter = Ex-Leibeigener und Ex-Pächter).</ul>
Das hieß also:
Der befreite Bauer arbeitete als Pächter weiter und bezahlte fortan Pachtzins - und zwar in Geld, nicht zuletzt, weil der Herr Baron ja weiterhin Steuern zu zahlen hatte (da ham wir’s endlich wieder - Geld als Steuerzahlungsmittel!). Also mußte der Bauer schon bald effizienter produzieren und der Landlord hierfür neue /bessere Betriebsmittel liefern - mit entsprechender Vorfinanzierung, deren Kosten ebenfalls nur durch den Pachtzins wieder hereingeholt werden konnten.
Dieser Zwang zum „Mehrprodukt“ hatte zur Folge, daß
<ul> ~ </li>sich die Lords im (klimatisch benachteilgten) Norden England diesen Tort auf Dauer gar nicht antaten, sondern ihre Betriebe auf weniger kostenträchtige Schafzucht umstellten. wodurch viele Bauern überflüssig wurden und zunächst als „Proletariat“ in den Städten auftauchten (wo auch der wachsende Wollhandel nur einigen von ihnen Arbeit geben konnte).
~ </li>im Süden die Tendenz im Laufe der Jahrzehnte zu größeren Pachthöfen ging (Auflösung bäuerlicher Kleinstbetriebe, zumal mit der allmählich wieder zunehmenden Bevölkerung eine Zersplitterung der bisherige Höfe drohte). Um dieses Ziel zu erreichen, wurden entweder die Pachtverträge gekündigt (wo nicht inzwischen Erbpacht-Verhältnisse bestanden), oder die Pachtzinsen solange erhöht, bis der Betrieb wieder „rentabel“ war oder der Pächter aufgab. Aus diesen „freigesetzten“ Leuten resultierten dann die Lohnarbeiter, von denen die meisten ja auf den vergrößerten Höfen weiterhin als Arbeitskräfte gebraucht wurden - und teilweise (als bondmen) dort auch bleiben mußten, weil sie noch Schulden aus unbezahlten Pachtzinsen abzuarbeiten hatten (der Rest fand sich wiederum als „Proletariat“ in den Städten ein).</ul>
Daraus ergab sich auf den Pachthöfen und Gütern schließlich folgende „Arbeitsteilung“:
<ul> ~ </li>Finanzierung und Bezug der Produktionsmittel durch Eigentümer
~ </li>Produktion und Absatz der Ware durch Pächter
~ </li>reine Arbeitsleistung durch Lohnarbeiter (frei oder als „bondmen“)</ul>
Ist halt nicht so einfach, die Sache mit dem „freien Lohnarbeiter“... wie überhaupt das Wort „frei“ unterschwellig eine positive Entwicklung suggeriert, die nach 1381 so keineswegs gegeben war: die „Zession“ der Macht (Eigentum an sich selbst) war, wie eben jede Machtzession, ein Zeichen von Schwäche, eine Aufweichung der Macht.
Siehe hierzu auch die Ablösung der bisherigen „Herren“-Sprache Französisch (Anglo-normannisch) durch Englisch in der Zeit von 1350 bis 1400 auf allen Ebenen (1399 konnte erstmals seit 1066 ein englischer König - der neu eingesetzte Henry Bolingbroke - vor Engländern wieder eine Rede auf Englisch halten...).
Wirklich aufwärts ging es - wie bei Aktien - erst wieder, nachdem der Tiefstpunkt durchschritten war; in England ab den Tudors: Stärkung der Königsmacht, nachdem sich der bisherige Adel in den Rosenkriegen (1455 - 1485, nach dem entgültig verlorenen Hundertjährigen Krieg gegen Frankreich) gegenseitig fast aufgerieben hatte.
Dazu zum Abschluß ein Gedicht aus jener Zeit („On the Times“, ca. 1450):
„Now ys Yngland alle in fyght,
Moche peple of consyens lyght,
Many knyghtes, and lytyl of myght,
Many lawys, and lytylle ryght;
Many actes of parlament,
And few [of them] kept wyth tru entent; (...)“ ["y" steht für"i"]
Long, long time ago...
Gruß!
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dottore
17.12.2003, 10:13
@ bernor
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Re: Sehr saubere Arbeit - herzlichen Dank! |
-->Hi bernor,
nur das mit der vorangegangenen Bevölkerungsmehrung ist noch nicht ganz klar:
Auf dem Lande? Oder in den Städten? Gibt es dazu Untersuchungen?
In Frankreich wuchs im 18. Jh. nur die Stadt, das Land entvölkerte sich rapide. Dies nicht allein durch Abwanderungen, sondern durch massives Hinscheiden.
Es gab überall verzweifelte Versuche, Populationen anzusiedeln (Friedrich II., Salzburg, Donauschwaben, Italien usw.). Den Neusiedlern wurden zahlreiche Privilegien versprochen.
Es verwundert auch, dass die europäische Besiedlung Amerikas erst ziemlich spät in die Gänge kam.
Jedenfalls ist das noch zu vertiefen. Einstweilen besten Dank + Gruß!
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Popeye
17.12.2003, 10:50
@ dottore
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Re: Sehr saubere Arbeit - herzlichen Dank! |
-->Bitte auch mal hier schauen - auch die angegebenen Links unter der Graphik:
<ul> ~ http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/personen/widder/ws9900/diagramm.htm</ul>
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JoBar
17.12.2003, 11:25
@ bernor
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Re: Was geschah wirklich in England nach 1381? Die Klimaveränderungen beachten |
-->Mir scheint die Klima-Veränderungen werden in der ganzen Diskussion zuwenig berücksichtigt. Hier mal eine Gegenüberstellung aus Popeys Posting, Klima-Entwicklung:
[img][/img]
und Bevolkerungswachstum:
<IMG SRC="http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/personen/widder/ws9900/bilder/dia1.jpg" WIDTH="650" HEIGHT="455" BORDER="1" ALT="DIAGRAMM: MODELL DER BEVÃ-LKERUNGSENTWICKLUNG IN EUROPA 500-1500">
Der parallele Anstieg und Abfall von Klima und Bevölkerung ist schon frapierend. IIRC verlief die Entwicklung um 1800 herum ähnlich, leider fehlen mir da Diagramme
Grüße
J.
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Popeye
17.12.2003, 12:00
@ JoBar
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Re: Was geschah wirklich in England nach 1381? Die Klimaveränderungen beachten |
-->Hallo, @JoBar,
hier findest eine zurückhaltende Bestätigung für Deine These: Klima/Bevölkerung.
Aber Kriege & Seuchen waren wahrscheinlich der größere Einflußfaktoren - aber beachte den Sprung in der Lebenserwartung in England im MA von warm auf kalt!!:
Life Expectancy at Various Periods
Mesolithic People in Europe -- Ice 32
Age
Neolithic, Anatolia -- Warm Period 38
Bronze Age, Austria -- Warm Period 38
Classical Greece -- Cooler 35
Classical Rome -- Cooler 32
England 1276 a.d. -- Warm Period 48
England 1376-1400 -- Mini Ice Age 38
Source: Lamb [1977]: 264.
Difference in Percentage Growth Rate of Population from the Expected
Period Climate Difference in Growth Rate
5000BC-1000BC Warmest Period +5deg.F +0.050%
500BC-600AD Cooling Period -0.011%
800AD-1200 Medieval Warm Period +0.001%
+3deg.F
1300-1800 Mini Ice Age -0.034%
Source: Kremer 1993, table 1 and the author.
Quelle
Ferner zwei Links zum Thema:
Medieval Sourcebook_1
Munro/Toronto
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CRASH_GURU
17.12.2003, 14:16
@ Popeye
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Re: Was geschah wirklich in England nach 1381? Die Klimaveränderungen beachten |
-->Habe gerade zufällig einen Artikel zum Thema gelesen.
Sonnenaktivität bzw. flecken und Vulkan Ausbrüche waren laut diesem Artikel nach Ansicht der Klimaforscher für frühere Warm-Kaltperioden verantwortlich.
Z.Z verhindern (!) die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aktiveren Vulkane
eine stärkere Erwärmung der Erde!!
Gruss
cg
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JoBar
17.12.2003, 14:25
@ Popeye
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Re: Die Temperatur-Schwankungen sind die Ursache!! |
-->>Aber Kriege & Seuchen waren wahrscheinlich der größere Einflußfaktoren - aber beachte den Sprung in der Lebenserwartung in England im MA von warm auf kalt!!:
< snip >
> Quelle
>Ferner zwei Links zum Thema:
> Medieval Sourcebook_1
> Munro/Toronto
Beim Stöbern in Deinen Quellen stoplerte ich über dieses hier:
Average Height of Icelandic Males
Period (a.d.) Mean Height
Medieval Warmth ( 874-1100 )_____68"
Mini Ice Age (1650-1800 )_____66"
Modern World (1952-1954 )_____70"
Das erinnerte mich an mein Chemie-Studium und die bekannte Erkenntnis, daß eine Temperatur-Zunahme um 10°C eine Verdoppelung der Geschwindigkeit chem. Reaktionen bewirkt.
Wenn jetzt also in einer Kleinen Eiszeit die durchschnittliche Temperatur um einige Grad absinkt, so hat das ganz gravierende Folgen auf mittelalterliche Vegetation und Menschen!
Die Vegetation wachst viel langsamer wie in Warmzeiten; es steht somit deutlich weniger pflanzliche Nahrung zur Verfügung.
Ohne die schuckeligen Häuschen von Euklid:) ist der Mensch des Mittelalters viel stärker den ungünstigeren Witterungs-Einflüßen ausgesetzt. Mit anderen Worten: Er muß nun einen viel größeren Teil der Nahrung allein für die Einhaltung der optimalen"Betriebs-Temperatur" von 37°C aufwenden. Dies geht natürlich auf Kosten anderer Funktionen, wie zB des Körperaufbaues, des Immun-Systems, uam. Krankeitserreger, wie zB die Pest, haben da beste Bedingungen!
Darüber hinaus hat man beobachtet, wenn die Anzahl der Fettzellen von Frauen unter einen kritischen Wert sinkt, daß sie nicht mehr schwanger werden können. Ein Grund mehr für eine schrumpfende Bevölkerung.
Der Übergang in eine Warm-Zeit wirkt natürlich genau entgegengesetzt.
Auf einmal steht den viel wenigeren Überlebenden viel mehr pflanzliche Nahrung zur Verfügung. Gleichzeitig wird davon aber weniger für die lebensnotwendingen Grundfunktionen benötigt.
Der Überfluß kann deshalb in"Luxus" investiert werden zB in Körper-Wachstum und dessen Folge einer überlegenen Körpergröße.
Natürlich werden auch mehr Kinder geboren und diese haben unter den verbesserten Bedingungen auch deutlich bessere Überlebens-Chancen.
Fazit: Nur weil die Menschen aufgrund der oben ausgeführten Klima-Folgen zu geschwächt waren, konnte die, ansonsten wohl gut in Schach gehaltene, Pest zu den Epedemien auswachsen und ganze Landstriche entvölkern!
Umgekehrt erlaubte der Überfluß an Nahrung und die geringere Nahrungs-Konkurrenz beim Übergang zur Warmzeit ein heftiges Bevölkerungs-Wachstum.
Und wie spielen die kriegerischen Zwischenfälle da hinein? Kampf um knappe Ressourcen oder Abbau von überschußiger Energie?
Grüße
J.
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