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Amerika
Die Unvereinigten Staaten
Von Heinrich Wefing, San Francisco
04. Januar 2004 In weniger als zwölf Monaten wählt Amerika einen neuen Präsidenten, und es könnte durchaus sein, daß das Ergebnis im November ähnlich knapp ausfallen wird wie vor vier Jahren, als erst eine Entscheidung des Supreme Court George W. Bush die Tür des Weißen Hauses öffnete. Die Manager beider Parteien jedenfalls planen für einen neuerlich hauchfeinen, nervenzerfetzenden Ausgang der Abstimmung. Die derzeit oppositionellen Demokraten suchen sich Mut zuzureden mit Parolen wie der Amtsinhaber sei verwundbar und seine Wiederwahl stehe keineswegs fest. Und die regierenden Republikaner wollen durch den Hinweis auf das Unentschiedene des Wahlausgangs die eigene Anhängerschaft anstacheln und jede überschäumende Siegeszuversicht dämpfen. Aber es sind nicht allein taktische Winkelzüge, die den Graben befestigen, der quer durch die Vereinigten Staaten läuft. Vieles spricht dafür, daß Amerika heute noch genauso tief gespalten ist wie im Jahr 2000, vielleicht sogar tiefer.
Damals hatte Al Gore zwar mehr Stimmen gewonnen als George Bush, aufgrund des antiquierten Wahlrechts und dank des gnädigen Richterspruchs aber errang der Gouverneur von Texas im Wahlmännergremium eine Mehrheit und konnte die Regierungsgeschäfte übernehmen. Ähnlich knapp gingen damals die Wahlen für die beiden Häuser des Parlaments aus. Unlängst hat nun das"Pew Research Center for the People and the Press" eine Studie über das aktuelle politische Klima in den Vereinigten Staaten vorgelegt. Danach ist das Land weiterhin genau in der Mitte geteilt, und die Polarisierung verschärft sich ("evenly divided and increasingly polarized"). So hat sich etwa die Zahl registrierter Wähler beider großen Parteien mittlerweile bis auf einen Prozentpunkt angenähert.
Vor dem Urnengang
Bedenklicher noch ist die Verhärtung der Fronten. Es gibt kaum mehr eine Frage, über die sich die Lager einig sind. Fünfundachtzig Prozent der Republikaner sagen zum Beispiel, der Einmarsch im Irak sei richtig gewesen, vierundfünfzig Prozent der Demokraten sehen darin einen Fehler. Fast doppelt so viele Demokraten wie Republikaner, zweiundsiebzig zu neununddreißig Prozent, fordern mehr Hilfe für die Bedürftigen im eigenen Land. Ähnlich breit gähnt die Kluft bei allen anderen Themen. Terrorbekämpfung, Homosexuellenehe, Rassenpolitik - überall schreitet die Ideologisierung voran. Im Senat liegt die Ernennung mehrerer Bundesrichter still, weil sie der Opposition zu radikal erscheinen. Und im vergangenen Sommer mußten mehrere Abgeordnete des texanischen Parlaments in den Nachbarstaat New Mexico fliehen, um der Nachstellung von texanischen Polizisten zu entgehen, die sie auf Anweisung der republikanischen Kammermehrheit zwangsweise zu einer Abstimmung über den Neuzuschnitt der Wahlbezirke vorführen sollten: Die Fifty-fifty-Nation vor dem Urnengang.
Einen weniger augenfälligen, gleichwohl eindrucksvollen Beleg für die These von der inneren Teilung des Landes liefert jede Woche die Bestsellerliste der"New York Times". Seit Monaten stehen dort Bücher an der Spitze, für die das Wort Polemik eher milde gewählt ist. Es sind Werke von konservativen Einpeitschern wie Bill O'Reilly und Ann Coulter auf der einen und linken Giftspritzern wie Al Franken oder Michael Moore auf der anderen Seite, in denen Pöbeleien die Gedanken ersetzen. Die verschiedenen Hetzschriften lösen einander nicht in Wellen ab, die für ein Hin- und Herwogen der politischen Debatte sprechen würden, sondern stehen zwieträchtig nebeneinander, den politischen Antagonismus, von dem sie profitieren, mit jedem verkauften Exemplar befestigend. Das Pamphlet von Ann Coulter etwa trägt den Titel"Hochverrat" und unterstellt"den Linken" pauschal mangelnden Patriotismus, kollektive Drogenabhängigkeit und"instinktive Idiotie". Der Gegenschlag des Komödianten Al Franken gibt sich ähnlich differenziert. Das Buch heißt"Lügen und die lügenden Lügner, die sie erzählen. Ein fairer und ausgewogener Blick auf die Rechte". (In Deutschland soll das Buch unter dem entschärften Titel"Kapitale Lügen" auf den Markt kommen.) Je lauter freilich das Gebrüll, desto schwerer haben es die vermittelnden Positionen, die sich um Ausgleich und Argumente bemühen.
Urteile in Kampfabstimmungen
Natürlich ändern sich Umfrageergebnisse mitunter schneller als das Wetter, und der Verkaufserfolg von Büchern hängt von vielen Faktoren ab, nicht allein vom Parteibuch der Leser. Um so eindrucksvoller - und beunruhigender - jedoch, wenn sich der Graben, der die Unvereinigten Staaten teilt, auch in einer Institution auftut, die von Anspruch und Auftrag her zu Überparteilichkeit und strikter Neutralität verpflichtet ist: in der Gerichtsbarkeit. Schon seit geraumer Zeit, nicht erst seit dem mit fünf zu vier Stimmen gefaßten Entschluß des Supreme Court, George W. Bush die Präsidentschaft zuzusprechen, sind einige der wichtigsten Urteile der amerikanischen Obergerichte in Kampfabstimmungen zustande gekommen. Für die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Washington etwa, die"affirmative action", die staatliche Förderung von Minderheiten, beizubehalten, votierten fünf der neun Richter, vier stimmten dagegen. Mit demselben Ergebnis bestätigten sie drakonische Strafgesetze für Rückfalltäter, und auch das hochumstrittene Urteil des Supreme Court von Massachusetts über die Zukunft der Homosexuellenehe kam mit nur einer Stimme Mehrheit zustande.
Daß ein riesenhaftes, vielgestaltiges, facettenreiches Land wie die Vereinigten Staaten mit all seinen ethnischen, sozialen, religiösen Fraktionen und Friktionen so exakt in zwei Lager geteilt ist, daß am Ende ein einziger Richter oder ein paar tausend Wähler über das Geschick eines Volkes von fast dreihundert Millionen Menschen entscheiden können, ist schwer zu begreifen. Wie kann ein Staat, dessen Integrationskraft geradezu sein Daseinsgrund ist, in zwei Hälften auseinanderfallen? Wie kann eine Nation, deren Motto"E pluribus unum" auf jeder Münze prangt, sich derart tief entzweien? Wie ist es möglich, daß ein Land, das aus seiner Vielfalt stets seine Energie bezog, in dem Gegenüber zweier Blöcke erstarrt?
Zwei Nationen
Der Publizist Terry Teachout hat angesichts der überwältigenden Symmetrie beider Lager gelegentlich von"zwei Nationen" gesprochen, einer"Demokratischen Nation" und einer"Republikanischen Nation", die auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten nebeneinanderlebten, ohne viel gemein zu haben. Und tatsächlich, was - außer vielleicht der Begeisterung für Baseball und Bier - verbindet noch den Kartoffelfarmer im Mittleren Westen mit dem Software-Designer in San Francisco? Was den Marketingexperten in Baltimore mit dem Evangelisten in Alabama? Teachout hat die gegenwärtige Situation denn auch alarmistisch mit der Lage um 1860, kurz vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges, verglichen. Das ist selbstredend absurd. Zum einen fehlt das eine, alles beherrschende Thema, das - wie einst die Sklaverei - die Menschen auseinandertreibt, Familien zerreißt und den Staat sprengt. Vor allem aber zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß die beiden Lager durchaus keine monolithischen Blöcke sind. Sie gleichen vielmehr bunten Mosaiken, zusammengesetzt aus vielen Bevölkerungssteinchen, die sich eher zufällig so genau die Waage halten.
Die"Demokratische Nation" ist tendenziell urban, säkularisiert, weiblich und farbig, die"Republikanische", die"Bush-Nation", dagegen vorwiegend männlich, ländlich, gottesfürchtig und weiß. Aber solche Verallgemeinerungen täuschen leicht über die innere Differenziertheit der Lager hinweg. Unverheiratete etwa haben vor vier Jahren mehrheitlich für Gore gestimmt, Verheiratete für Bush. Einundsechzig Prozent der Waffenbesitzer wählten republikanisch, siebzig Prozent derer, die sich als homosexuell bezeichneten, demokratisch, und neun von zehn Schwarzen gaben Gore ihre Stimme. Im Herbst wird es kaum anders sein. Dreiundsechzig Prozent der Amerikaner, die mehr als einmal pro Woche in die Kirche gehen, haben im Jahr 2000 Bush gewählt, exakt genauso viele favorisieren heute seine Wiederwahl.
Die alten Risse
Betrachtet man diese Zahlen, wird zugleich verständlicher, warum selbst eine nationale Katastrophe wie der 11. September 2001 an dem großen amerikanischen Schisma nichts geändert hat. So spontan sich die Nation damals auch um Fahne und Präsidenten geschart haben mag, das"United we stand" des ersten Schocks hat nicht ewig gehalten; heute zeigen sich im Lack des erneuerten Patriotismus die alten Risse, und die vertrauten Verwerfungslinien kommen wieder zum Vorschein. Es bedürfe wohl einer Invasion Außerirdischer, um das gegenwärtige Patt aufzubrechen, hat der Kommentator Mickey Kaus einmal gespottet, und er könnte recht haben. Wie zwei Kontinentalplatten, die sich mit gewaltigem Druck und unendlicher Langsamkeit aneinander vorbeischieben, kennt auch die politische Tektonik Amerikas keinen schnellen Wandel, allenfalls kurze Beben, die vieles durcheinanderwerfen und doch die Spannung nicht lösen. Parteien, Programme oder Präsidenten mögen sich jeden Tag unter lautem Getöse ändern, aber die inneren Antriebskräfte gehorchen ganz anderen Rhythmen.
Zuverlässig erhitzte Gemüter
In einem Aufsatz für die Zeitschrift"National Journal" hat der Kolumnist Michael Barone bereits kurz nach dem Kopf-an-Kopf-Rennen in Florida darauf hingewiesen, daß die vorangegangenen Präsidentschaftswahlen gleichfalls nicht zu Erdrutschsiegen geführt haben. Selbst der erklärte Zentrist und begnadete Menschenfänger Bill Clinton gewann 1996 nur neunundvierzig Prozent der Wählerstimmen. Auch die polarisierende Persönlichkeit von George W. Bush, den seine Anhänger feiern und seine Gegner hassen (ganz wie spiegelverkehrt zuvor Clinton), erklärt die Teilung nicht - sie verstärkt sie allenfalls. Die Spaltung reicht vielmehr tief hinab in den kulturellen Urgrund aller Politik, in das Magma von Moral und Religion, Tradition und Moderne. Nicht zufällig besetzen Themen wie Abtreibung, Schulgebet, Todesstrafe oder Schwulenrechte die Demarkationslinie zwischen den beiden Amerikas. Themen, die Kompromissen kaum zugänglich sind, aber die Gemüter zuverlässig erhitzen.
Vieles spricht daher dafür, daß es auf absehbare Zeit bei dem großen Gegeneinander bleiben wird. Das verheißt spannende Wahlen, vielleicht gar ein neues Florida, könnte aber auch zu einer weiteren Radikalisierung der Positionen, zum Ende aller Kompromisse führen. Und was die Zerrissenheit Amerikas für seine Rolle in der Welt bedeutet, ist überhaupt nicht abzusehen.
<ul> ~ Amerika</ul>
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