-->Städte und Gemeinden kassieren beim Mittelstand ab
„So werden Existenzen vernichtet“
Von Peter Brors, Handelsblatt
Der Rudi Völler unter Deutschlands Konditoren kommt aus Recklinghausen. Er heißt Andreas Sindern, ist Anfang 40, trägt eine unscheinbare Brille und die Locken ziemlich kurz. Ist der Teamchef der deutschen Konditoren-Nationalmannschaft für sein Land im Einsatz, schlüpft er in einen weißen Kittel mit einem schwarz-rot-goldenen Bündchen.
RECKLINGHAUSEN/KÃ-LN. Sindern leitet die Kollegen in drei Disziplinen an: Dessert-Torten aus Zucker, Eis und Schokolade backen, Blöcke aus Speiseeis zu Skulpturen meißeln und Schokoladen-Dekorationen modellieren. Die Übungscamps veranstaltet Sindern gern in seiner Backstube, die sich in einem Gewerbegebiet am Stadtrand Recklinghausens verliert, eingequetscht zwischen Autobahnen und Sportanlagen.
Vor Monaten aber stand der gekachelte Raum nicht nur im Mittelpunkt süßer Konditoren-Kunst, sondern auch im Zentrum eines staubtrockenen juristischen Streits. Sindern, seit 1989 mit seiner Konditorei vor Ort, erhielt vom Bürgermeister einen Brief zum Thema: „Erhebung eines Erschließungsbeitrags für das Grundstück,Am Stadion 27’.“ Die Kosten für die Erschließung, heißt es sinngemäß in dem Schreiben, seien überraschend wesentlich höher ausgefallen als zunächst geplant, deshalb diese Nachforderung.
Doch die plötzliche Einsicht kam den Beamten nicht einige Wochen oder Monate, nachdem Sindern das Grundstück gekauft hatte - sondern nach 13 Jahren. „7 500 Euro sollte ich für die Herstellung von Grünanlagen, Laternen und Bürgersteigen nachzahlen - und das, obwohl ich mit der Stadt einen Kaufpreis vereinbart hatte, der diese Leistungen ausdrücklich mit abdeckte“, beschwert sich Sindern.
Der Verband Deutscher Grundstücksnutzer spricht von einem „besonders dreisten Vorgehen, aber leider keinem Einzelfall“. Je leerer die kommunalen Kassen seien, umso öfter ergingen derartige Bescheide über Erschließungsbeiträge. „Und selbst wenn die Städte rein juristisch betrachtet oft im Recht sind, dann sind die Vorgänge doch formal meist weit von dem entfernt, was zwischen Geschäftspartnern normalerweise üblich ist.“ Oder anders ausgedrückt: Teilweise nach Jahrzehnten ergehen ohne jede Vorankündigung Beitragsbescheide über fünfstellige Beträge, die binnen vier Wochen zu begleichen sind. Der Verband berichtet gar von Fällen, in denen kürzlich noch Bauarbeiten aus den 20er-Jahren abgerechnet wurden. Ein Vertreter einer Handwerkskammer in Westfalen kritisiert: „So werden mittelständische Betriebe ausgenommen, die immer brav ihre Gewerbesteuer gezahlt haben und die mit den oft nicht nachvollziehbaren Forderungen an den Rand des Ruins getrieben werden.“
Welche Gesamtkosten für den sonst von Politikern aller Couleur so umschmeichelten Mittelstand auf diese Weise jedes Jahr zukommen, kann der Deutsche Industrie- und Handelstag nur schätzen: „Genaue Zahlen gibt es nicht, aber bundesweit ist es sicher ein dreistelliger Millionenbetrag.“ Mittelständler sind besonders betroffen, weil ihre Grundstücke oft viel größer sind als bei Privatpersonen.
Zwischen Kunstwerken aus Marzipan, ausgestellt auf Holzregalen, und Champagner-Trüffeln in gläsernen Schalen fahndet Konditor Sindern in seiner Backstube nach einem Kugelschreiber. Dann zieht er ein Blatt aus einer Schublade und malt die Umrisse des Gewerbegebiets „Am Stadion“ auf. „Erst werden Sie mit einem günstigen Kaufpreis, der angeblich alle Eventualitäten abdeckt, in ein bis dahin fast leeres Gewerbegebiet gelockt, dann hören Sie ein Jahrzehnt nichts mehr, und plötzlich sollen Sie Tausende Euro zahlen - so vernichtet man Existenzen.“
Sinderns Nachbar Stefan Henrich, der das Energietechnik-Unternehmen Malsbender führt und Heizungs- und Klimaanlagen montiert, sollte gar 25 000 Euro nachzahlen. Zusammen organisierten die Unternehmer eine Art Aufstand gegen die Stadt.Ihr Argument: Insbesondere habe es die Kommune versäumt, den Anteil der von ihr selbst genutzten Fläche bei der Abrechnung zu berücksichtigen - eine nicht zu vernachlässigende Größe angesichts des Stadions „Hohenhorst“, das nur über die Straßen im Gewerbegebiet zu erreichen ist.
Tatsächlich gab die Stadt schließlich nach. „Das Thema ist vom Tisch“, heißt es bei der Kommune. Sindern bewertet es so: „Sie hat es halt versucht, und wenn wir uns nicht gewehrt hätten, dann hätte sie auch kassiert.“
Der Kölner Druckerei-Inhaber Herbert Drewke, 65, ist eine imposante Erscheinung. Mit breiten Schultern, vollem grauen Haar und dem dazu passenden Vollbart stapft er an diesem kalten Wintermorgen durch seine Druckerei und schimpft, sofern man das angesichts seines warmen kölschen Tonfalls überhaupt schimpfen nennen kann: „So von der Stadt behandelt zu werden, das ist unglaublich, eine unglaubliche Schweinerei.“
Mit „so“ meint der Rheinländer den Beitragsbescheid, den er im November in der Post fand. 32 069,72 Euro soll der Chef von drei Angestellten binnen vier Wochen an die Stadtkasse Köln überweisen. Unter anderem soll er seinen Anteil entrichten für acht Beleuchtungsmasten, die 1966 entlang der Rösrather Straße im Stadtteil Ostheim aufgestellt wurden, für fünf weitere Lampen aus dem Jahr 1971 und für so genanntes „Straßenbegleitgrün“, das seit 1994 in kargen Beeten zusammen mit reichlich Unkraut sprießt. „Glauben Sie, die Stadt hat in all den Jahren mal was von sich hören lassen und darauf hingewiesen, dass wir mit Nachforderungen zu rechnen haben?“ ereifert sich Drewke.
Nachbarin Martina Stark, die als Marketing-Unternehmerin für den TÜV Rheinland arbeitet und einen Bescheid über 5 767,89 Euro in Händen hält, ergänzt: „Seit 1995 ist an der Straße kein Handschlag mehr gemacht worden. Da wäre irgendwann mal ein Hinweis,Legt euch was zur Seite’ angebracht gewesen.“
Cornelia Müller, Leiterin der Beitragsabteilung im Bauverwaltungsamt Köln, wischt die Kritik weg: „Es sieht doch jeder, wenn in seiner Straße gebaut wird. Als guter Grundbesitzer merke ich mir das.“ Auch wenn es teilweise schon Jahrzehnte her ist und der jetzige Besitzer vielleicht noch nicht einmal geboren war? „Was wollen Sie eigentlich?“ entgegnet die Beamtin. „Der bundesrechtlich vorgegebene Abgabenerhebungsvorgang sieht Derartiges nicht vor.“ Aber wenn dadurch Betriebe vor finanziellen Schieflagen bewahrt werden könnten, weil sie eben schon Jahre vorher die entsprechenden Rücklagen hätten bilden können? „Für derartige Vorabinformationen haben wir selbst kein Personal und auch kein Geld.“
Quelle: Handelsblatt vom 13.01.03
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Das ist organisiertes Raubrittertum in Reinkultur!
Angesichts u.a. dieses Machwerks der Machtfritzen stellt sich die Frage:
Können Grundstücke und Immos in D aufgrund der möglichen und drohenden Zwangsabgaben auch einen negativen Marktpreis haben?
Tobias
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