-->Eine kleine Geschichte zur schnellen Hilfe für den der sich zu sehr ärgert.
DIE SCHILDBÜRGER BAUEN EIN RATHAUS
Erich Kästner
Der Plan, das neue Rathaus nicht viereckig, sondern
dreieckig zu bauen, stammte vom Schweinehirten. Er
hatte, wie schon gesagt, den schiefen Turm von Pisa
erbaut, der mittlerweile eine Sehenswürdigkeit geworden
war, und erklärte stolz: »Ein dreieckiges Rathaus ist noch
viel sehenswerter als ein schiefer Turm. Deshalb wird
Schilda noch viel berühmter werden als Pisa!« Die
andern hörten das mit großem Behagen. Denn auch die
Dummen werden gern berühmt. Das war im Mittelalter
nicht anders als heute.
So gingen also die Schildbürger schon am nächsten Tag
morgens um sieben an die Arbeit. Und sechs Wochen
später hatten sie die drei Mauern aufgebaut. In der dem
Marktplatz zugekehrten Breitseite war ein großes Tor
ausgespart worden. Und es fehlte nur noch das Dach.
Nun, auch das Dach kam bald zustande, und am Sonntag
darauf fand die feierliche Einweihung des neuen
Rathauses statt. Sämtliche Einwohner erschienen in ihren
Sonntagskleidern und begaben sich, mit dem
Schweinehirten an der Spitze, in das weißgekalkte,
dreieckige Gebäude. Doch sie waren noch nicht an der
Treppe, da purzelten sie auch schon durcheinander,
stolperten über fremde Füße, traten irgendwem auf die
Hand, stießen mit den Köpfen zusammen und schimpften
wie die Rohrspatzen. Die drin waren, wollten wieder
heraus. Die draußen standen, wollten unbedingt hinein.
Es gab ein fürchterliches Gedränge! Endlich landeten sie
alle, wenn auch zerschunden und mit Beulen und blauen
Flecken, wieder im Freien, blickten einander ratlos an
und fragten aufgeregt: »Was war denn eigentlich los?«
Da kratzte sich der Schuster hinter den Ohren und sagte:
»In unserm Rathaus ist es finster!«  »Stimmt!« riefen
die andern. Als aber der Bäcker fragte: »Und woran liegt
das?«, wußten sie lange keine Antwort. Bis der Schneider
schüchtern sagte: »Ich glaube, ich hab's.«  »Nun?«  »In
unserm neuen Rathaus«, fuhr der Schneider bedächtig
fort, »ist kein Licht!« Da sperrten sie Mund und Nase auf
und nickten zwanzigmal. Der Schneider hatte recht. Im
Rathaus war es finster, weil kein Licht drin war!
Am Abend trafen sie sich beim Ochsenwirt, tranken ein
Bier und beratschlagten, wie man Licht ins Rathaus
hineinschaffen könne. Es wurden eine ganze Reihe
Vorschläge gemacht. Doch sie gefielen ihnen nicht
besonders. Erst nach dem fünften Glas Braunbier fiel
dem Hufschmied das Richtige ein. »Das Licht ist ein
Element wie Wasser«, sagte er nachdenklich. »Und da
man das Wasser in Eimern ins Haus trägt, sollten wir's
mit dem Licht genauso machen!«
»Hurra!« riefen sie alle. »Das ist die Lösung!«
Am nächsten Tag hättet ihr auf dem Marktplatz sein
müssen! Das heißt, ihr hättet gar keinen Platz gefunden.
Überall standen Schildbürger mit Schaufeln, Spaten,
Besen und Mistgabeln und schaufelten den Sonnenschein
in Eimer und Kessel, Kannen, Töpfe, Fässer und
Waschkörbe. Andre hielten große, leere Kartoffelsäcke
ins Sonnenlicht, banden dann die Säcke geschwind mit
Stricken zu und schleppten sie ins Rathaus. Dort banden
sie die Säcke auf, schütteten das Licht ins Dunkel und
rannten wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren
Säcke von neuem aufhielten und die Eimer und Fässer
und Körbe wieder vollschaufelten. Ein besonders
Schlauer hatte eine Mausefalle aufgestellt und fing das
Licht in der Falle. So trieben sie es bis zum
Sonnenuntergang. Dann wischten sie sich den Schweiß
von der Stirn und traten gespannt durch das Rathaustor.
Sie hielten den Atem an. Sie sperrten die Augen auf.
Aber im Rathaus war es noch genau so dunkel wie am
Tag zuvor. Da ließen sie die Köpfe hängen und stolperten
wieder ins Freie. Wie sie so auf dem Markt
herumstanden, kam ein Landstreicher des Wegs und
fragte, wo es denn fehle. Sie erzählten ihm ihr
Mißgeschick und daß sie nicht ein noch aus wüßten. Er
merkte, daß es mit ihrer Gescheitheit nicht weit her sein
konnte, und sagte: »Kein Wunder, daß es in eurem
Rathaus finster ist! Ihr müßt das Dach abdecken!« Sie
waren sehr verblüfft. Und der Schweinehirt meinte:
»Wenn dein Rat gut sein sollte, darfst du bei uns in
Schilda bleiben, solange du willst.« »Jawohl«, fügte der
Ochsenwirt hinzu, »und essen und trinken darfst du bei
mir umsonst!« Da rieb sich der Landstreicher die Hände,
ging ins Wirtshaus und bestellte eine Kalbshaxe mit
Kartoffelsalat und eine Kanne Bier. Tags darauf deckten
die Schildbürger das Rathausdach ab, und o Wunder! mit
einem Male war's im Rathaus sonnenhell! Jetzt konnten
sie endlich ihre Ratssitzungen abhalten, Schreibarbeiten
erledigen, Gemeindewiesen verpachten, Steuern
einkassieren und alles übrige besorgen, was während der
Finsternis im Rathaus liegengeblieben war. Da es damals
Sommer war und ein trockner Sommer obendrein, störte
es nicht weiter, daß sie kein Dach überm Kopf hatten.
Und der Landstreicher lebte auf ihre Kosten im Gasthaus,
tafelte mittags und abends, was das Zeug hielt, und
kriegte einen Bauch. Das ging lange Zeit gut. Bis im
Herbst graue Wolken am Himmel heraufzogen und ein
Platzregen einsetzte. Es hagelte sogar. Und die
Schildbürger, die gerade in ihrem Rathaus ohne Dach
saßen, wurden bis auf die Haut naß. Dem Hufschmied
sauste ein Hagelkorn, groß wie ein Taubenei, aufs
Nasenbein. Der Sturm riß fast allen die Hüte vom Kopf.
Und sie rannten durchnäßt nach Hause, legten sich ins
Bett, tranken heißen Fliedertee und niesten wie die
Schöpse.
Als sie am nächsten Morgen mit warmen Tüchern um
den Hals und mit roten, geschwollenen Nasen zum
Ochsenwirt kamen, um den Landstreicher zu fragen, was
sie nun tun sollten, war er verschwunden. Da sie nun
niemanden hatten, der ihnen hätte helfen können,
versuchten sie es noch ein paar Wochen mit dem Rathaus
ohne Dach.
Als es dann aber gar zu schneien begann und sie wie die
Schneemänner am Ratstisch hockten, meinte der
Schweinehirt: »Liebe Mitschildbürger, so geht es nicht
weiter. Ich beantrage, daß wir, mindestens für die nasse
Jahreszeit, das Dach wieder in Ordnung bringen.« Sein
Antrag wurde von allen, die sich erkältet hatten,
angenommen. Es waren die meisten. Und so deckten sie
den Dachstuhl, wie vorher, mit Ziegeln. Nun war's im
Rathaus freilich wieder stockfinster. Doch diesmal
wußten sich die Schildbürger zu helfen. Jeder steckte sich
einen brennenden Holzspan an den Hut. Und wenn er
auch nicht sehr hell war, so konnten sie einander doch
wenigstens ungefähr erkennen. Leider begannen die
Späne nach einer Viertelstunde zu flackern. Nach einer
halben Stunde roch es nach angebrannten Hüten. Und
schon saßen die Männer, wie vor Monaten, im Dunkeln.
Es war ganz still geworden. Sie schwiegen vor lauter
Erbitterung. Plötzlich rief der Schuster aufgeregt: »Da!
Ein Lichtstrahl!« Tatsächlich!
Die Mauer hatte einen Riß bekommen, und durch ihn
hindurch tanzte ein Streifen Sonnenlicht! Wie gebannt
starrten sie auf den goldenen Gruß von draußen. »O wir
Esel!« brüllte da der Schweinehirt. »Wir haben ja die
Fenster vergessen!« Dabei sprang er auf, fiel im Dunkeln
über die Beine des Schmieds und schlug sich an der
Tischkante drei Zähne aus. So war es. Sie hatten
tatsächlich die Fenster vergessen! Sie stürzten nach
Hause, holten Spitzhacken, Winkelmaß und
Wasserwaage, und noch am Abend waren die ersten
Fenster fix und fertig. So wurden die Schildbürger zwar
nicht wegen ihres dreieckigen Rathauses, sondern
vielmehr durch die vergessenen Fenster berühmt. Es
dauerte nicht lange, so kamen auch schon die ersten
Reisenden nach Schilda, bestaunten die Einwohner,
übernachteten und ließen überhaupt ein gutes Stück Geld
in der Stadt. »Seht ihr«, sagte der Ochsenwirt zu seinen
Freunden, »als wir gescheit waren, mußten wir das Geld
in der Fremde verdienen. Jetzt, da wir dumm geworden
sind, bringt man's uns ins Haus!«
Also, schön locker bleiben
prinz_eisenherz
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