-->DIE ZEIT
18/2004
Das mitfühlende Gehirn
Die Betrachtung waghalsiger Verhaltensweisen lässt uns erschaudern. Hirnforscher versuchen, das Phänomen
zu ergründen
Von Bettina Gartner
Romantik auf der Leinwand: Leonardo DiCaprio und Kate Winslet stehen mit ausgestreckten Armen am Bug
der Titanic, der Fahrtwind bläst ihnen ins Gesicht. Der Zuschauer meint, die frische Meeresbrise zu spüren.
Das Gefühl von Freiheit schwappt vom Atlantik ins Kino. Minuten später hat sich der englische Luxusliner in
einen Ort des Schreckens verwandelt. Wenn die Passagiere verzweifelt versuchen, sich vom sinkenden Schiff
zu retten, rast auch das Herz des Zuschauers, sein Atem stockt, die Muskeln sind angespannt und zur Flucht
bereit.
Die Ursache für das Wechselbad der Gefühle liegt im Gehirn. Dort gaukeln uns spezielle Zellen so genannte
Spiegelneuronen vor, die Szenen auf der Leinwand tatsächlich zu erleben. Sie reagieren beim Beobachten
von Verhaltensweisen ebenso, als würde man diese selbst ausführen. Spiegelneuronen werden nicht nur aktiv,
wenn wir selbst jemand in den Arm nehmen, sondern auch, wenn wir dies nur sehen.
Früher glaubte man, Spiegelneuronen würden nur auf Bewegungen ansprechen. Nun konnte der
Biopsychologe Christian Keysers vom Neuro−Imaging Center im niederländischen Groningen nachweisen,
dass die Nachahmerzellen auch dann feuern, wenn Berührungen oder Emotionen wie Ekel betrachtet werden.
Wer beim Anblick der Vogelspinne auf James Bonds Brust eine Gänsehaut bekommt und angewidert erstarrt,
in dessen Hirn führen die Spiegelneuronen Regie. Der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist nur
eine Frage der Quantität. Während beim Fühlen einer echten Spinne Tausende von Haut−Sinneszellen
aktiviert werden, feuern beim Zusehen nur wenige Spiegelneuronen.
Entdeckt wurden die Gehirnzellen mit dem Drang zur Imitation 1991 in einem Versuchslabor im italienischen
Parma. Eigentlich wollte der Neurologe Vittorio Gallese damals nur testen, wie das Gehirn eines Affen
arbeitet, wenn das Tier nach einer Erdnuss greift. Mit Elektroden zapfte er einzelne Hirnzellen an und
untersuchte ihre Reaktion. Zu Galleses Überraschung feuerten bestimmte Neuronen im Affenhirn nicht nur
dann, wenn der Makake zugriff sondern auch, als der Forscher die Hand nach der Erdnuss ausstreckte.
Bis dato hatten die Wissenschaftler an eine strikte Arbeitsteilung der grauen Zellen geglaubt: Bestimmte
Bereiche im Gehirn seien nur für das Sehen zuständig, andere steuerten ausschließlich das Muskelspiel, so die
allgemeine Auffassung. Doch seit Galleses Entdeckung wird der Organisationsplan des Gehirns
umgeschrieben.
Wo genau und in welchen Bereichen des Gehirns die Multitalente zu finden sind, ist noch immer unklar. Doch
mit dem Fortschritt der bildgebenden Verfahren nimmt die neuronale Landkarte mehr und mehr Gestalt an.
Noch vor wenigen Jahren mussten die Forscher mit ihren Elektroden jede Hirnzelle einzeln untersuchen, um
in einem Zellhaufen ein Spiegelneuron aufzuspüren. Das dauerte oft tagelang. Heute liefern
Kernspintomografen, die die Aktivität ganzer Hirnareale abbilden, in Minutenschnelle Hinweise auf ihren
Aufenthaltsort. So weiß man mittlerweile: Spiegelneuronen sitzen sowohl im Prämotorischen Kortex, der für
Bewegungen zuständig ist, als auch im Insularen Kortex, wo Gefühle wie Ekel verarbeitet werden, und im
Sekundären Somatosensorischen Kortex, der Berührungen registriert. Wahrscheinlich sind Spiegelneuronen
auch in anderen Hirnregionen zu finden, glaubt Christian Keysers. Das hieße: Spiegelzellen sind in der Lage,
die ganze Palette menschlicher Gefühle zu imitieren: Freude und Trauer, Furcht und Angst. Tatsache ist:
Wir haben ein ziemlich soziales Gehirn, sagt Keysers.
Und doch gibt es Menschen, die auch das grausamste Gemetzel kalt lässt. Während der ganze Kinosaal
angesichts verstümmelter Leichenteile entsetzt aufschreit, lümmeln sie sich teilnahmslos im Sessel. Wie ist
das zu erklären? Vielleicht, so vermuten die Forscher, sind bei diesen Menschen die Spiegelneuronen kaum
aktiv. Oder sie liegen womöglich völlig lahm. Das sind bislang allerdings nicht mehr als Spekulationen.
Normalerweise machen sich die Imitationskünstler bereits im Gehirn von Säuglingen ans Werk. Sie feuern
beim Anblick von Gesten und Gesichtsausdrücken auch wenn die Kinder selbst noch gar nicht in der Lage
sind, diese auszuführen. Das Aktivitätsmuster der Spiegelneuronen kann dabei gespeichert und bei Bedarf
abgerufen werden. Das könnte erklären, warum mancher Dreikäsehoch, der zum ersten Mal aufs Fahrrad
steigt, gleich gekonnt in die Pedale tritt.
Die mentale Simulation hat aber auch einen lebenslangen Nutzen: Sie hilft, das Ziel einer Handlung zu
erkennen, noch bevor diese vollständig ausgeführt wurde. Das Aktivitätsmuster der Spiegelneuronen verrät,
ob ein Gegenüber die Hand zum Gruß ausstrecken will oder zum Faustschlag ausholt.
Doch warum sind wir bei so viel neuronaler Spiegelung nicht ein Haufen hemmungsloser Marionetten?
Wenn der Jogger vor uns strauchelt, stolpern wir nicht etwa selbst, sondern erleben den Sturz allenfalls mental
mit. Offenbar gibt es im Gehirn eine Art neuronaler Schranke, die verhindert, dass die Signale der
Spiegelzellen immer an Muskeln oder Organe weitergeleitet werden. Wie der Sperrmechanismus genau
funktioniert, ist unklar. Beobachtungen haben jedoch gezeigt, dass er bei großer Aufregung und starken
Emotionen durchbrochen werden kann. Der zuckende Fuß des Zuschauers, wenn ein Fußballspieler zum
Elfmeter ansetzt, ist nur ein Beispiel dafür.
Auch bei manchen Personen mit Hirnverletzungen scheint die Signalbremse im Gehirn lahm gelegt zu sein.
Dann dirigieren Spiegelneuronen ungehemmt das Geschehen. Patienten, die unter Echopraxie leiden, nehmen,
ohne es zu wollen, ihre Brille ab, binden sich die Schuhe oder kratzen sich die Nase nur weil sie es bei
anderen beobachten. Das Leben unter der Regie der Spiegelneuronen wird zur zwanghaften Qual.
Erste Hinweise auf einen therapeutischen Einfluss der imitationsfreudigen Zellen gibt es dagegen an der
Medizinischen Universität Lübeck. Dort arbeitet der Neurologe Ferdinand Binkofski mit einer Gruppe von
Schlaganfall−Patienten, die selbst nach monatelanger Physiotherapie nur mühsam ihren Arm bewegen
konnten. Durch die gezielte Aktivierung von Spiegelzellen will Binkofski ihnen helfen, ihre Fingerfertigkeit
wiederzuerlangen. Eine Stunde täglich sehen die fünf Patienten in Videofilmen, wie Menschen ihren Arm
bewegen, die Hand ballen oder die Finger spreizen. Dadurch scheinen die angeregten Spiegelneuronen neue
Nervenverbindungen im Gehirn zu aktivieren und funktionsfähige Areale trotz Zwangspause fit zu halten. Der
Mix aus Bilder−Kur und gezielten Übungen scheint zu wirken: Während die Physiotherapeuten die Hoffnung
auf Verbesserungen aufgegeben hatten, griffen Binkofskis Patienten bereits nach zwei Monaten wieder sicher
zu Stift und Tasse.
DIE ZEIT − Das mitfühlende Gehirn
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