-->Ich Opfer, du Täter
Die neue Gefühlswelt der Erbarmer- und Anklägergesellschaft
Im Juli meldeten die französischen Medien, daß eine junge Frau, die allein mit ihrem Säugling in der Pariser Bahn saß, von einem Haufen Männer angegriffen und mit antisemitischen Parolen belästigt wurde. Der Aufruhr war groß, an den Pranger wurde die mangelnde Zivilcourage der Zeugen gestellt, gegen die wachsende Unsicherheit und den schleichenden Rassismus wurden die zu erwartenden Reden gehalten, auch eine Ermahnung von Staatspräsident Chirac fehlte nicht. Dieser mußte sich jedoch ein paar Tage später korrigieren: Die Geschichte hatte sich als durch und durch erfunden erwiesen. Nichts war passiert. Das angebliche Opfer gab zu, daß es bloß von sich reden machen wollte.
Seither beschäftigt der"Fall Marie L." das Pariser Feuilleton. Von der Frage ausgehend, wie jemand zu solch einer schäbigen Selbstinszenierung kommen kann (weniger stellt man die komplementäre Frage ihres überstürzten Aufbauschens seitens der Medien und der Politik), wird die Geschichte als Symptom der neuartigen gesellschaftlichen Stellung des Opferseins erklärt. Opfer haben Konjunktur. Seit diesem Jahr gibt es gar in Frankreich eine Staatssekretärin für Opferrechte. Obwohl die Regierung bei der Bildung des Postens die Klarstellung für nötig hielt, ihr gehe es nicht darum, eine"Republik der Opfer" einzurichten, sieht der Philosoph Frédéric Gros die Lage pessimistischer. Es sei eine"Demokratie der empfindlichen Subjekte" im Anbrechen, die allesamt in einem Punkt übereinstimmen: Kein Leid wird weiter toleriert. Notwendigerweise wird die Nullrisiko-Ideologie von einer institutionellen Veropferung (victimisation) begleitet.
Auch der Soziologe Lucien Kaprik beobachtet die neue Situation. Früher passiver Gegenstand eines schicksalhaften Unglücks, ist das Opfer heute ein aktives Subjekt, das einen öffentlichen Status, die Anerkennung der Medien und die Bestrafung der Verantwortlichen fordert. Zugleich hat sich das Spektrum erweitert. Nicht nur physische Übergriffe, sondern auch psychische Verletzungen führen zur Opferbildung. Ein Blick, ein Wort reichen schon, um die Integrität des empfindlichen Subjekts in Gefahr zu bringen. Gegen Mobber, Rassisten, Homophobe, behindertenfeindliche Wirte, Eltern, Raucher und Autofahrer setzt sich die jeweilige Lobby ein und fordert Konsequenzen. Dank dieser inflationären Anwendung des Begriffs kann schließlich jeder von sich behaupten, er sei irgendwie Opfer. Zumindest potentiell."Insbesondere seit dem 11. September", so der Soziologe François de Singly,"wird in der kollektiven Phantasie die Wahrscheinlichkeit als immer größer empfunden, selbst Opfer einer Katastrophe zu werden."
Zugleich mit der Veropferung wächst das Erbarmen. Jede Unglücksnachricht ruft eine Welle des Mitleids hervor, die keineswegs altruistisch ist, sondern dem Kalkül entspringt: Wenn für die Opfer nichts getan wird, wird auch für mich nichts getan. Über die Ursachen des Phänomens sind die Kommentatoren trotz verschiedener Denkfärbungen gewissermaßen einig. Gut postmodern meint de Singly, daß mit der"großen Erzählung des Fortschritts" auch die heroischen Figuren verschwunden seien, mit denen man sich identifizieren konnte. Das Opfer ist das übriggebliebene Identifikationsmodell. Lady Di wird nicht wegen ihrer positiven Taten anhaltend verehrt, sondern als Madonna der Unglücksraben. Eher marxistisch weist der Historiker Georges Vigarello auf das Verwischen der Normen hin, die das traditionelle Weltbild strukturierten. So konnte früher ein Arbeitsunfall im Rahmen der Klassenverhältnisse verstanden werden und einen konkreten Betriebskampf auslösen. Heute findet sich der einzelne von Entscheidungen völlig ausgeschlossen, die sein Leben bestimmen (etwa durch den Import verseuchten Rindfleischs). Einer abstrakten Macht ausgeliefert, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in seiner Opferrolle einzurichten.
Ein Theologe, Olivier Abel, vermißt den tröstenden Überbau, der dem Unglück einen Sinn gab. Das Leid kann nicht mehr innerhalb einer Gemeinschaft geteilt und gelindert werden, daher schreit die vereinsamte Empfindung nach Aufmerksamkeit. Der philosophische Schluß des Ganzen wird von Michel Onfray gezogen:"Die Logik des Mitleids ruft eine binäre Anschauung der Realität hervor, entweder Opfer oder Täter. So wird die Welt vereinfacht. Man braucht nicht mehr weiterzudenken. Emotionen werden gegen Vernunft ausgespielt." Und die Emotionen rufen nach Vergeltung. Je mehr Opfer es gibt, desto mehr Täter gibt es, die verfolgt werden müssen."Penalneid" nennt der Schriftsteller Philippe Muray den herrschenden Trieb der Epoche, einen unlöschbaren Durst nach Bestrafung.
Vorbei sind die Zeiten, als nach einem Zugunglück entweder das Schicksal beklagt wurde oder Arbeitsverhältnisse und Technik in Frage gestellt wurden. Heute wird menschliches Versagen festgestellt und der Lokomotivführer für schuldig erklärt. Zuweilen erinnert diese Entwicklung an die animistischen Kulturen Afrikas, wo jeder Todesfall auf eine böswillige Beschwörung aus dem Nachbardorf zurückgeführt wird. Neulich wollte in einer französischen Gemeinde niemand für die Lokalwahl kandidieren. Der letzte Bürgermeister hatte wegen Fahrlässigkeit eine hohe Geldstrafe zahlen müssen, weil ein Passant an einem stürmischen Abend einen Ast auf den Kopf gekriegt hatte.
Die Gier nach Schuldigen führt zu einer Pervertierung der Justiz: Theoretisch dient die Rechtsprechung der Allgemeinheit, doch, so Karpik,"in der Tat wird der Strafprozeß zunehmend als therapeutische Behandlung des Opfers geführt, um dessen Trauma zu beseitigen. So wird das Recht schleichend zu privaten Zwecken mißbraucht." Erwartungsgemäß werden die Medien von allen Kommentatoren zum Hauptagenten der Opferbeförderung erklärt. Reality-TV wird die Konstruktion einer Mythologie der Intimität zugeschrieben.
Nach dem Ende der großen Erzählungen versucht jeder, mit seiner kleinen Erzählung aufzufallen. Zur Selbstbehauptung sind keine positiven, herausragenden Errungenschaften vonnöten, sondern die Darstellung eines erlittenen Mißgeschicks. In der Fernsehshow verwandelt sich das Opfer zum Helden seiner Geschichte, durch die Erzählung wird es wieder Herr der Situation, die es erdulden mußte. Dabei ist die Konkurrenz groß. Wenn alle aus irgendeinem Grund Opfer sind, dann muß die Darstellung des eigenen Unglücks optimiert werden, um einen Anteil am Mitleid zu haben. Da sind wir wieder bei dem Fall Marie L. Im Konkurrenzkampf der Opfer hat die junge Frau eine gelungene Aufmerksamkeitsstrategie verfolgt. Ganz gleich, ob ihre Geschichte erfunden war, daß sie doch Opfer sei, kann sie immer noch behaupten. Der eigenen Einbildungskraft etwa. Oder abwegiger Gesellschaftszustände.
GUILLAUME PAOLI
Nach 1968 reichte es erst einmal, wenn man sich allgemein als Opfer des Imperialismus darstellen konnte. Heute ist eine stärkere Dosis gefragt: Mehr Dramatik muß in die Leidensgeschichten. Eine Gier nach Schuld greift um sich, nicht nur in Frankreich.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.2004, Nr. 202 / Seite 35
[ im Web nur Text, keinen Link, gefunden ]
J.
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-->>Hallo JoBar,
>sobald sich mit einem tatsächlichen oder vermeintlichen Opfer-Status nicht mehr maßlose Geldbeträge abgreifen lassen, wird das Thema ganz von selbst entschlafen.
aber heutzutage ist das die Erfolgsmasche. Dazu ein Auszug aus einem Artikel im Euklid:)
KLAGE VON DJERBA-OPFER
Reiseriese TUI in der Imagefalle
Vor dem Landgericht Hannover klagt ein fünfjähriger Junge gegen das Reiseunternehmen TUI. Adrian Esper will Schadensersatz, weil er bei den Terrorattacken auf Djerba schwer verletzt wurde. Ungeachtet des Prozessausgangs muss der Tourismuskonzern um sein Image bangen.
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Die Eltern des verletzten Adrian, der trotz mehr als 30 Operationen noch immer stark entstellt ist, klagen auf Schadenersatz gegen TUI. Aus Sicht der Espers hätte das Unternehmen sie vor der Reise nach Djerba vor möglichen terroristischen Gefahren warnen müssen. Diese Gefahren, so die umfangreiche Klageschrift, waren TUI nach Steinwürfen auf Urlauberbusse und vermeintliche Geheimdienstinformationen bekannt. Trotzdem sei keiner der Urlauber über Risiken informiert worden.
Für die TUI ist der Fall klar. Die Anwälte des Reiseriesen sehen keine Berechtigung für die Klage. Weder hätten dem Konzern Informationen vorgelegen, noch hätte dieser seine Kunden getäuscht, so die Juristen. Die Gefahr eines Terroranschlags gehöre nach dem 11. September 2001 zum"allgemeinen Lebensrisiko eines jeden Reisenden", schrieb TUI in der Klageerwiderung. Deshalb habe der Konzern auch nichts zu befürchten.
Eine Geschichte wie David gegen Goliath [ man beachte die Wortwahl!!]
Entschieden wurde am Mittwoch in Hannover zunächst nichts. Die Richterin hörte die umfangreichen Ausführungen beider Seiten an. Nun sei zu prüfen, ob die TUI wirklich in Haftung genommen werden kann. Dazu seien Beweise für das vermeintliche Wissen einer Terrorgefahr dringend erforderlich. Nur in diesem Fall sei ein Schadensersatz möglich, sagte die Richterin. Daraufhin zog sich die Kammer bis zum 27. Oktober zurück, um eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen. Aus juristischer Sicht ist der Fall für die Espers damit eher schlecht ausgegangen, denn alle Prozessbeteiligten wissen, dass es für die Behauptungen der Klage nur dünne Beweise gibt.
Doch der Kampf vor der Richterin ist nur ein Kriegsschauplatz der Auseinandersetzung, die sehr an das Ringen von David gegen Goliath erinnert. Schnell haben die Klägeranwälte gemerkt, wo die wirkliche Achillesferse des Großkonzerns liegt - beim Image der TUI in der Ã-ffentlichkeit. Für einen Reiseriesen, der jährlich Millionen Menschen in die Ferien fliegt, kann schon der ausgesprochene Verdacht einer Nachlässigkeit bei der Sicherheit üble Folgen haben, so der Masterplan der Juristen. Außerdem sieht es unschön aus, wenn sich ein Konzern mit Milliardenumsätzen knauserig bei einer vergleichsweise geringen Entschädigung für den kleinen Jungen zeigt.
Wechsel der Kriegsschauplätze
Schon vor Prozessbeginn wurde der gesamte Fall in allen überregionalen Tageszeitungen und im Fernsehen diskutiert - lanciert von den Opferanwälten und daher eher aus der Sicht von Adrian Esper und seinen Eltern. Kopf dieser subtilen Kampagne ist ein Anwalt, dessen Talent für mediale Inszenierungen bekannt ist. Andreas Schulz drehte schon die Geschichte des umtriebigen Schweizer Ex-Botschafters Thomas Borer von einer Sexaffäre zu einer Opfernummer. Am Ende kassierte Borer sogar noch, da er angeblich ungerecht von den Medien behandelt wurde. Daneben ist Schulz auch noch Experte in Sachen Schadensersatz, da er für die Opfer des Anschlags auf die Diskothek"La Belle" aktiv ist. Beide Talente zusammen machen ihn für TUI zu einem gefährlichen Gegner.
Schon jetzt ist TUI in dem Fall Esper mehr oder minder in eine"Lose-lose-Situation" geraten. Auch der geplante mediale Gegenschlag, zu dem der Großkonzern vergangene Woche ausgewählte Journalisten für ein Hintergrundgespräch in die Zentrale nach Hannover bestellte, wollte nicht richtig klappen. Zwar schrieben am nächsten Tag fast alle großen Blätter - darunter die"Süddeutsche Zeitung", die"Frankfurter Allgemeine Zeitung", die"Frankfurter Rundschau" und viele andere - über den Fall. Doch am Ende hinterließ das entstellte Gesicht des fünfjährigen Jungen einen stärkeren Eindruck als die juristischen Gegenargumente von TUI. Auch die sachlich richtige Feststellung, die Familie habe ja schon 350.000 Euro aus verschiedenen Hilfstöpfen für die Opfer"kassiert", sah am nächsten Tag in den Zeitungen eher hässlich für die Hannoveraner aus.
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Ed Faigen & Co. haben hier schon kräftig Spuren hinterlassen.
J
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