Dimi
09.10.2004, 22:40 |
Chronologie (Poggio) - Dottore Thread gesperrt |
-->Hallo Dottore,
in einem früheren Beitrag http://www.f17.parsimony.net/forum30434/messages/19572.htm hast Du die Handschrift"Esemplare di Eusebio-Girolamo, De temporibus, con la continuatione di Prospero" erwähnt, die noch nicht veröffentlicht war. Hat sich daran was geändert? Geht sie über das bekannte (Eusebius etc.) hinaus?
Nachdem immer mal wieder Bibliotheken abbrennen und mit ihnen Unikate, und nachdem der Inhalt früherer Chronologien wichtig werden könnte, halte ich ein Nachfragen für angezeigt.
Gruß, Dimi
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dottore
10.10.2004, 13:55
@ Dimi
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Re: Chronologie (Poggio) - Dottore |
-->>Hallo Dottore,
>in einem früheren Beitrag http://www.f17.parsimony.net/forum30434/messages/19572.htm hast Du die Handschrift"Esemplare di Eusebio-Girolamo, De temporibus, con la continuatione di Prospero" erwähnt, die noch nicht veröffentlicht war. Hat sich daran was geändert? Geht sie über das bekannte (Eusebius etc.) hinaus?
Hi Dimi,
darf ich fragen, wieso das"Bekannte"? Es ist das Bekannte.
Poggio hat diese"Chronologie" erfunden und, damit sie"schön alt" wirkt, Eusebius/Hieronymus"zugeschrieben" (fiktiven Gutmenschen, eu = gut, hieros = heilig). Auf diese beiden (recte: Poggio, 1380-1459)) hat sich dann Scaliger berufen und noch einen"Julius Africanus" dazu genommen.
Schon die Zählung nach "Olympiaden" ist herzig (ab 776 BC - den Schwindel mit diesem Datum hatte schon der Sport- und Katatsrophismus-Forscher Benny Peiser
Und vergleichen ihn mal kursorisch mit dem Oxforder Eusebius-Chronicon, das angeblich aus dem 9. Jh. (!) stammt, aber just den selben (sogar farblichen: schwarz-rot-grün) Duktus hat wie der vom 28jährigen Poggio in der Laurenziana.
Dazu dürfen wir uns so aufklären lassen:
"Note that the handwriting has changed; here Valla gives us a superb example of Humanistic script, a handwriting quite similar to our own, modelled deliberately on the earlier Carolingian script, as a reaction against Gothic script.
It had been invented, or better created,
[Erfunden? Geschaffen? Wie das, wenn es diese Schrift als karolingische Minuskel schon 500 Jahre früher gegeben haben soll?]
by the Florentine Humanist Poggio Bracciolini at the beginning of the fifteenth century. This handwriting became the model of modern book fonts, which we call"Roman"; the cursive equivalent we now call"italic".
[Bei uns die altbekannte"Antiqua"]
They date from the fifteenth century, and we have Poggio Bracciolini and Niccolo' Niccoli (Büchersammler, Bücherhändler, konnte schön an die dämlichen, aber schwerreichen Medici abladen, wie Poggio auch, der sich davon gleich eine Spitzenvilla bauen und eine große Familie durchfuttern konnt) to thank for it."
[Ach so, ich dachte, sie"dates" aus der"Karolinger"-Zeit...]
An der Schrift hat jeder nach Herzenslust herumgefummelt, so wie es heute Antiqua mit und ohne Cerifen (Serifen) gibt, Times, Baskerville, Garamond, Cooper, usw., usw., vgl. kurz (ohne):
[Auch aus einem"Eusebius"-Ms.]
Und dies wiederum aus dem 15. Jh.:
[img][/img]
Die von Poggio "neu" entdeckte Schrift ist in der Tat von ihm und seinen Companeros erfunden worden. Der ganze sog."karolingische" Klumptasch wurde aus Vermarktungszwecken erfunden, incl. Inhalt (schöne Bücher sind's ja, die Preise, soweit eruierbar - ich hatte es mal gepostet - lagen schon dunnemals bei Hunderten von Gold-Florenen).
Interessant ist gerade bei Poggio, dass er zwar stets angibt, in einem"alten verstaubten Kloster" fündig geworden zu sein. Das Original konnte leider in keinem einzigen Fall von ihm präsentiert werden, da es unmittelbar nach seiner "Abschrift" zerfallen ist.
O sancta simplicitas!
Und Gruß!
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bernor
10.10.2004, 19:05
@ dottore
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Re: Chronologie (Poggio) - Dottore |
-->Hi dottore,
Poggio hat diese"Chronologie" erfunden und, damit sie"schön alt" wirkt, Eusebius/Hieronymus"zugeschrieben" (fiktiven Gutmenschen, eu = gut, hieros = heilig). (...)
Die von Poggio"neu" entdeckte Schrift ist in der Tat von ihm und seinen Companeros erfunden worden. Der ganze sog."karolingische" Klumptasch wurde aus Vermarktungszwecken erfunden, incl. Inhalt (schöne Bücher sind's ja, die Preise, soweit eruierbar - ich hatte es mal gepostet - lagen schon dunnemals bei Hunderten von Gold-Florenen).
Das mit der gleichen / ähnlichen Form der Urkunden (Schrift, Pergament) leuchtet ein - die Frage ist, wenn Du die"Kirchenväter" wie Hieronymus als fiktiv bezeichnest, nur: Konnten Poggio u.a. im späten Mittelalter auch die Inhalte solcher Schriften einfach so erfinden, hatten sie's kirchenrechtlich/-"geschichtlich" so drauf, daß sie entsprechende, möglichst konforme Texte schreiben konnten, eventuell mit Hilfe kirchlicher"Ghostwriter"?
Auch wenn man diese Frage mit"Ja" beantworten kann, bleibt ein Rest, der nicht so leicht zu erklären ist: die Erwähnung von Unterschieden zwischen Vulgär- und klassischem Latein, z.B. bei Augustinus:
Dieser setzte sich dafür ein, in Gebeten / Liedern bereits etablierte"falsche" Formen aus der Umgangssprache nicht zu korrigieren: also z. B. statt florebit ("wird blühen / sich hervortun") die vulgäre Form floriet (aus der 3./4. Konjugation in die 2. übernommen) zu belassen (De doctrina christiana 2, 13, 10).
Und:"Ein Mensch, der Gott um Vergebung seiner Sünden bittet, kümmert sich nicht viel darum, ob die dritte Silbe von ignoscere kurz oder lang gesprochen wird..." (De doct. christ. 2, 10, 19).
(Auch Hieronymus beließ es bei Vulgarismen.)
Waren Leute wie Poggio u.a., die gerade zugange waren, Italienisch neben Latein schriftsprachlich zu etablieren, überhaupt interessiert, soetwas (vielleicht als eine Art Echtheitsmerkmal?) in die Schriften hineinzufälschen?
Von der fachlichen Eignung, die Lautentwicklung des Vulgärlatein nachvollziehen zu können, mal ganz abgesehen.
Es wird also irgenwelche Vorläufer-Manuskripte gegeben haben - wenn auch wohl keine Originale mehr, sondern nachträglich (11./12. Jh.?)"bearbeitete" Fassungen, in denen den"Kirchenvätern" diverse Neuerungen der hochmittelalterlichen Kirche untergeschoben wurden, ohne dabei andere Textteile, siehe oben, zu verändern.
Offen bleibt weiterhin, was die"Ur- und Frühchristen-Gemeinde" überhaupt für ein Verein war - siehe die militärische Ausdrucksweise, auch bei Kirchenvätern.
Interessant ist gerade bei Poggio, dass er zwar stets angibt, in einem"alten verstaubten Kloster" fündig geworden zu sein. Das Original konnte leider in keinem einzigen Fall von ihm präsentiert werden, da es unmittelbar nach seiner"Abschrift" zerfallen ist.
Denkbar ist daher auch, daß sehr wohl"Originale" vorhanden waren (aus welchem Jh. auch immer), diese jedoch von Poggio & Konsorten nach der Abschreibeaktion vernichtet wurden - aus geschäftlichen Gründen, um mögliche Konkurrenz durch spätere Abschreiber (und auch das Aufdecken von Fehlern bei der Abschrift) auszuschließen.
Unsere heutige Anschauung, wonach alte, historisch bedeutsame"Originale" an sich erhaltenswert sind (siehe Denkmalschutz usw.), hat sich erst seit dem 19. Jh. entwickelt - vorher hatte man offenbar keine Probleme damit, Altes durch adäquat erscheinendes Neues zu ersetzen: bei den o.a. Manuskripten (und später Büchern) kam es wohl weniger auf den Inhalt als vielmehr auf die"schöne Form" an, deren Nachfrage in gehobenen Kreisen es pekuniär auszunutzen galt.
Bei den traditionell ebenfalls merkantil orientierten Katalanen heißt es heute noch, daß z.B. ein Bild nicht"schön ist", sondern"schön macht" - vor allem, wenn es teuer genug (bezahlt worden) ist.
Gruß bernor
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Dimi
10.10.2004, 20:42
@ dottore
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Re: Chronologie (Poggio) - Dottore |
-->Hallo Dottore,
danke für die Antwort. Ganz erstaunlich, was Du an Fotos ausgegraben hast.
>darf ich fragen, wieso das"Bekannte"?
Du darfst ;-)
Veranlaßt war meine Frage durch Deine damalige Bemerkung:"Diese Chronologie ist bisher unbekannt und auch noch nicht ediert."
>Es ist das Bekannte.
>Poggio hat diese"Chronologie" erfunden und, damit sie"schön alt" wirkt, Eusebius/Hieronymus"zugeschrieben" (fiktiven Gutmenschen, eu = gut, hieros = heilig).
Fiktiv? Eusebius und Hieronymus?
Ohne Zweifel wurden Texte ge- und verfälscht und Geschichten und Personen dupliziert und dergleichen. Aus den unterschiedlichsten Motiven, und sei es Wichtigtuerei oder Fälschung als Broterwerb. Aber es kann übers Ziel hinausgehen, gleich z.B. Jesus und Paulus und Caesar als erfunden aufzufassen. Diese haben existiert, und auch Eusebius würde ich nicht komplett wegwerfen.
Es ist im übrigen spannender, nicht ganze Personen oder Schriften zu verwerfen, sondern nur das Falsche von ihnen zu entfernen.
>Und vergleichen ihn mal kursorisch mit dem Oxforder Eusebius-Chronicon, das angeblich aus dem 9. Jh. (!) stammt, aber just den selben (sogar farblichen: schwarz-rot-grün) Duktus hat wie der vom 28jährigen Poggio in der Laurenziana.
Hatest Du davon Fotos gemacht?
>Die von Poggio "neu" entdeckte Schrift ist in der Tat von ihm und seinen Companeros erfunden worden. Der ganze sog."karolingische" Klumptasch wurde aus Vermarktungszwecken erfunden, incl. Inhalt (schöne Bücher sind's ja, die Preise, soweit eruierbar - ich hatte es mal gepostet - lagen schon dunnemals bei Hunderten von Gold-Florenen).
>Interessant ist gerade bei Poggio, dass er zwar stets angibt, in einem"alten verstaubten Kloster" fündig geworden zu sein. Das Original konnte leider in keinem einzigen Fall von ihm präsentiert werden, da es unmittelbar nach seiner "Abschrift" zerfallen ist.
Auch eine Geschäftsidee: Im Keller ein dutzend Schreiberlinge anstellen, fleißig phantasieren lassen, die Erzählungen zu einem guten Preis an die Reichen&Schönen verkaufen, und nebenbei die halbe Weltgeschichte erfinden ;-)
Gruß, Dimi
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dottore
11.10.2004, 17:40
@ bernor
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Re: Chronologie (Poggio) - Dottore |
-->Hi bernor,
>Das mit der gleichen / ähnlichen Form der Urkunden (Schrift, Pergament) leuchtet ein - die Frage ist, wenn Du die"Kirchenväter" wie Hieronymus als fiktiv bezeichnest, nur: Konnten Poggio u.a. im späten Mittelalter auch die Inhalte solcher Schriften einfach so erfinden, hatten sie's kirchenrechtlich/-"geschichtlich" so drauf, daß sie entsprechende, möglichst konforme Texte schreiben konnten, eventuell mit Hilfe kirchlicher"Ghostwriter"?
Das kanonische Recht ist wohl die Basis. 12. Jh, siehe unten.
>Auch wenn man diese Frage mit"Ja" beantworten kann, bleibt ein Rest, der nicht so leicht zu erklären ist: die Erwähnung von Unterschieden zwischen Vulgär- und klassischem Latein, z.B. bei Augustinus:
Reden wir von Augustinus: Wie sollte man an"seinen" Schriften erkennen, dass sie von"ihm" sind? Die ältesten Handschriften beginnen mit dem bekannten"Incipit" (Es fängt an...), hier ein sogar noch spätes Beispiel, datiert Salzburg 1474/6 (ein Traktat"gegen alle Pest"):
("Es beginnt der Prolog der himmlischen Offenbarungen der Herrin Brigitte (= Heilige von Schweden) SEELIGEN Gedenkens..." -"INcipit prologus in libro reuelacionum celestium beate memorie domine Birgitte...")
Brigitte, Patronin Europas - Selig-/Heiligsprechung wann?
Wichtig: Die Bücher der (spät)-mittelalterlichen Bibliotheken waren nicht nach Autoren geordnet. Man fand (und identifizierte sie als"Eigentum") sie zumeist nach dem xten Wort auf der zweiten Seite.
Es gibt kein Titelblatt (wie heute) und nirgends erscheint"vorne" ein Autorenname.
>Dieser setzte sich dafür ein, in Gebeten / Liedern bereits etablierte"falsche" Formen aus der Umgangssprache nicht zu korrigieren: also z. B. statt florebit ("wird blühen / sich hervortun") die vulgäre Form floriet (aus der 3./4. Konjugation in die 2. übernommen) zu belassen (De doctrina christiana 2, 13, 10).
Das halte ich für - mit Verlaub - kompletten Schwindel. Niemand legt mehr Wert auf das klassische, eben nicht"umgangssprachliche" und also verderbte Latein (Latein als Umgangssprache ist ein Thema für sich) als die Kirche. Schon das Wort"doctrina" hat mit klassischem Latein nichts zu tun.
>Und:"Ein Mensch, der Gott um Vergebung seiner Sünden bittet, kümmert sich nicht viel darum, ob die dritte Silbe von ignoscere kurz oder lang gesprochen wird..." (De doct. christ. 2, 10, 19).
Ein mittellateinische Gelehrten-Gag. Bestenfalls 11./12. Jh., wenn nicht später.
>(Auch Hieronymus beließ es bei Vulgarismen.)
MA-Latein und streckenweise ganz und gar schrecklich. Wie seine Vulgata - immerhin gerade bei"Offenbarungstexten" auf größte Akkuratesse zu achten, noch dazu bei einer Übersetzung aus dem griechischen Urtext!
>Waren Leute wie Poggio u.a., die gerade zugange waren, Italienisch neben Latein schriftsprachlich zu etablieren, überhaupt interessiert, soetwas (vielleicht als eine Art Echtheitsmerkmal?) in die Schriften hineinzufälschen?
Gute Frage! Würde ich mit glattem Ja beantworten.
>Von der fachlichen Eignung, die Lautentwicklung des Vulgärlatein nachvollziehen zu können, mal ganz abgesehen.
Wo bleibt z.B. das"mangnus" (statt"magnus" = groß), wie wir es noch in St. Mang ("Heiliger" im Allgäu) als schriftlich fixiert bewundern dürfen?
>Es wird also irgenwelche Vorläufer-Manuskripte gegeben haben - wenn auch wohl keine Originale mehr, sondern nachträglich (11./12. Jh.?)"bearbeitete" Fassungen, in denen den"Kirchenvätern" diverse Neuerungen der hochmittelalterlichen Kirche untergeschoben wurden, ohne dabei andere Textteile, siehe oben, zu verändern.
"Kirchenväter" halte ich sämtlich für fiktiv. Schon die Namen! Ignatius (ignatus = ungeboren), Athenagoras (Athen plus"agora" = Marktplatz), Melitos (Süßer?), Theophilos ("Gottlieb"), Athanasios (unsterblich), Gregor (Wachsamer), Epiphanios (Erschienener), Chrysostomus (Goldmund/-band), Germanus (!), usw. usw.
>Offen bleibt weiterhin, was die"Ur- und Frühchristen-Gemeinde" überhaupt für ein Verein war - siehe die militärische Ausdrucksweise, auch bei Kirchenvätern.
Sehr gut! Wir haben es mit versprengten Resten der römischen Militärmaschinerie zu tun bzw. den daran (direkt?) anschließenden mittelalterlichen ("klösterlichen") Kampfbünden. Fulda stellte für Romzüge mehrere Dutzend schwer bewaffnete Ritter, hatte aber lt. seinem ersten Bibliotheksverzeichnis nicht einen einzigen"Kirchenvater" im Bestand.
>Interessant ist gerade bei Poggio, dass er zwar stets angibt, in einem"alten verstaubten Kloster" fündig geworden zu sein. Das Original konnte leider in keinem einzigen Fall von ihm präsentiert werden, da es unmittelbar nach seiner"Abschrift" zerfallen ist.
>Denkbar ist daher auch, daß sehr wohl"Originale" vorhanden waren (aus welchem Jh. auch immer), diese jedoch von Poggio & Konsorten nach der Abschreibeaktion vernichtet wurden - aus geschäftlichen Gründen, um mögliche Konkurrenz durch spätere Abschreiber (und auch das Aufdecken von Fehlern bei der Abschrift) auszuschließen.
Guter Einwand. Aber bei der Handvoll schneller und gewandter Schreiber (Poggio war auch deshalb päpstlicher Sekretär) eher unwahrscheinlich. Außerdem hätte ein"Original" eher mehr als weniger gebracht. Und die Äbte haben der Vernichtung wohlwollend zugeschaut? Danach hatten sie doch selbst nichts mehr in Händen. Man beachte auch die Geschichte des Codex Sinaiticus (heute BM in frischem Exemplar, gleich am Eingang). Da ging's um große Summen...
>Unsere heutige Anschauung, wonach alte, historisch bedeutsame"Originale" an sich erhaltenswert sind (siehe Denkmalschutz usw.), hat sich erst seit dem 19. Jh. entwickelt - vorher hatte man offenbar keine Probleme damit, Altes durch adäquat erscheinendes Neues zu ersetzen: bei den o.a. Manuskripten (und später Büchern) kam es wohl weniger auf den Inhalt als vielmehr auf die"schöne Form" an, deren Nachfrage in gehobenen Kreisen es pekuniär auszunutzen galt.
Auch das hat was. Die Poggio-Mss. sind Prachtexemplare. Aber wenn's eh nur auf die schöne Form ankommt, kann man den Inhalt dazu doch gleich erfinden. Man denke an Silius Italicus und seinen Punischen Krieg in Versform (!). Übrigens auch ein Poggio-Elaborat. Den Verfasser-Namen hat er frei erfunden.
>Bei den traditionell ebenfalls merkantil orientierten Katalanen heißt es heute noch, daß z.B. ein Bild nicht"schön ist", sondern"schön macht" - vor allem, wenn es teuer genug (bezahlt worden) ist.
Niccoli und die Medici haben richtig abgelegt. Aber noch etwas Wichtiges zum Schluss:
Bekanntlich sind Rechtstexte erheblich wichtiger als Belletristik. Und die müssen nun wirklich in Urschrift erhalten bleiben. Wie kömmt's dann, dass sich das kanonische Recht erst im 11. (!) Jh. überhaupt nachweisen lässt. Das Decretum Gratiani (Sammlung) zwischen 1120 und 1140 datiert wird.
Auch das weist auf den mehr und mehr gehegten Verdacht hin: Christentum ab 1000 (siehe Christus 1053).
Danke für die Mühen und schönsten Gruß!
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bernor
12.10.2004, 01:15
@ dottore
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Re: Chronologie (Poggio) - Dottore |
-->Hi dottore,
erstmal schönen Dank für die Fotos und den übrigen Input, der mich (und andere sicher auch) wieder ein bißchen schlauer (oder wenigstens nachdenklicher) gemacht hat:
Das"christliche Latein" der Spätantike ist ja auch in der herkömmlichen Wissenschaft längst als"Sondersprache", die vom klassischen Latein in vielem abweicht, erkannt worden - allerdings mit einer Herleitung aus der"vulgären" Umgangssprache, die bei näherer Betrachtung so nicht (mehr) überzeugen kann:
Aus anderen Texten / Inschriften sind typische Veränderungen in der Aussprache des spätrömischen Lateins erkennbar, z.B.:
1) der Wandel von -ti- vor Vokal zu -ts(j)- wie in Vincentza, sapiensie usw. (schon ab dem 2. Jh., siehe auch heutiges ital. nozze aus nuptiae, frz. grace aus gratia, span. razón aus ratione),
2) das b wurde weicher und damit praktisch identisch mit v (Aussprache offenbar noch wie engl. w) gesprochen und daher häufiger mit diesem verwechselt (unibersis statt universis u.a., siehe analog dazu heutiges spanisches b und v),
3) g vor hellen Vokalen und j wurden zu z (stimmhaftes ts), ebenso teilweise -di- vor Vokal, z.B.: hodie (heute) zu ozie (daraus ital. oggi),
4) das Schluß-m, schon vorher nur flüchtig (nasal?) gesprochen, fiel ganz weg, ebenso n vor s (z.B. pensum zu pesu / peso, in Rom: Trans-TÃberim zu Trastévere),
5) für die Vokale i und u wurde oft e und o geschrieben (und umgekehrt), siehe auch heutiges span. torre für turris u.a.),
6) die Diphthonge au, ae und oe wurden zu langen o, ä und e,
7) und und und...
(Nr. 2, 4, 5, 6 wirkten sich auch auf die Grammatik aus - z.B. Reduzierung der fünf bzw. sechs Fälle des Substantivs auf nur noch zwei).
Wie weit sich das Vulgärlatein teilweise von der klassischen Form entfernt hatte, zeigt ein Beispiel aus dem"Appendix Probi" (Wortliste als Anhang zu einem Werk eines"Oberlehrers" Probus, ca. 4. Jh.): dort wird der"richtigen" Form auris (Ohr) ein"falsches" oricla (aus auricula) gegenüber gestellt.
Von alledem findet sich im angeblich"volkstümlichen" Kirchenlatein - nichts.
Dieses ist daher offenbar, einschließlich der von mir geposteten Beispiele, nur ein Sammelsurium aus klassischen lateinischen und griechischen Wörten / Formen und Versatzstücken, aus Wortwurzeln und Ableitungen beliebig zusammenbastelbar (siehe doct(o)r + ina = doctrina) - und damit, wie Du es schon gesagt hast, nur ein Teil, ein Spiegelbild des Lateins im Mittelalter, wo es schwierig gewesen sein muß, an die klassische Form heranzureichen.
Dazu noch ein schöner (entlarvender?) Satz von"Augustinus" im doctrina dingsbums:
"Besser, ihr versteht uns in unserer barbarischen Sprechweise, als daß ihr mit all unserer gepflegten Redekunst verlassen bleibt."
Schönen Gruß zurück
bernor
PS: Und auch vom"doctor" als vermeintlich klassische Form müssen wir uns wohl verabschieden: das Wörterbuch (Langenscheidt) bringt als Belege nur"doctor gentium" = "Apostel Paulus als Lehrer der Heiden" und"quattuor doctores" = "Ambrosius, Augustin(us), Gregor I. und Hieronymus" - gut, daß wenigstens"dottore" echt ist... [img][/img]
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dottore
12.10.2004, 23:11
@ Dimi
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Re: Chronologie (Poggio) - Dottore |
-->Hi Dimi,
das war gut:
>Auch eine Geschäftsidee: Im Keller ein dutzend Schreiberlinge anstellen, fleißig phantasieren lassen, die Erzählungen zu einem guten Preis an die Reichen&Schönen verkaufen, und nebenbei die halbe Weltgeschichte erfinden ;-)
Die Nummer wurde in Pienza/Rom erdacht.
Wenn Du Dir den Piccolimini-Palast anschaust (Pius"II.") und zwar auf der Seite oben links (rechts der Palast) und unten rechts, rechts neben der"Kirche", dann haben die"Schreiberlinge" nicht im Keller, sondern in den oberen Etagen gehaust.
Gerade der Piccolomini-Palast (der gegenüber liegende Borgia-Palast ebenso) haben mir keine Erklärung für die Funktion der"oberen" Geschosse liefern können. Ich kenne die Gebäude in- und auswendig. Die Piccolomini-Loggia (nach Westen, nicht gezeigt) ist im Ausblick schlicht sensationell.
So möchte ich auch jeden Morgen aufstehen und schauen dürfen...
Die"Bibliothek" hatte Raum für ca. 3000 Bände. Leider heute leer. Also?
Es war eine Fabkrikationsstätte für"Bücher" (i.e. damals"manu" = von Hand; Geschriebenes ="scritti", also Manuskripte).
Soweit, so gut + Gutenacht-Gruß!
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