-->"Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, dass auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen erscheint. Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft. Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem Leben weg, so meint man. Sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze der Gegenwart empfunden. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schon von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr hatte.
"In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob bestraft, wer den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird auch bestraft, wer den Koran und die Grundüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde. Meinungsfreiheit findet aber ihre Grenze darin, dass sie Ehre und Würde des anderen nicht zerstören darf; sie ist nicht Freiheit zur Lüge oder zur Zerstörung von Menschenrechten. Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiss kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will.
"Fassen wir zusammen: Die Festschreibung von Wert und Würde des Menschen, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit schließt ein Menschenbild, eine moralische Option und eine Idee des Rechts ein, die sich keineswegs von selbst verstehen, aber grundlegende Identitätsfaktoren Europas sind, die auch in ihren konkreten Konsequenzen verbürgt werden müssten und freilich nur verteidigt werden können, wenn sich ein entsprechendes moralisches Bewusstsein immer neu bildet.
Es gibt aber zwei weitere Punkte, in denen die europäische Identität erscheint. Da ist zuerst Ehe und Familie. Die monogame Ehe ist als grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisses von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung vom biblischen Glauben her geformt worden. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Grundzelle seines sozialen Aufbaus verschwände oder wesentlich verändert würde. Die Grundrechtscharta redet vom Recht auf Ehe, spricht aber keinen spezifischen rechtlichen und moralischen Schutz für sie aus und definiert sie auch nicht näher. Dabei wissen wir alle, wie sehr Ehe und Familie gefährdet sind - zum einen durch die Aushöhlung ihrer Unauflöslichkeit, durch immer leichtere Formen der Scheidung, zum anderen durch das Zusammenleben von Mann und Frau ohne die rechtliche Form der Ehe.
In krassem Gegensatz dazu steht das Verlangen homosexueller Lebensgemeinschaften, die nun paradoxerweise eine Rechtsform verlangen, die mehr oder weniger der Ehe gleichgestellt werden soll. Mit dieser Tendenz tritt man aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit heraus, die bei aller Verschiedenheit der Rechtsformen der Ehe doch immer wusste, dass diese ihrem Wesen nach das besondere Miteinander von Mann und Frau ist, das sich auf Kinder und so auf die Familie hin öffnet. Hier geht es nicht um Diskriminierung, hier stehen wir vor einer Auflösung des Menschenbildes, deren Folgen nur äußerst gravierend sein können. Dazu fehlt leider ein klares Wort in der Charta."
<ul> ~ Aus einer Rede im Jahr 2000</ul>
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