Simplici
22.12.2000, 14:22 |
Von Stilwechseln und Wendezeiten - Anregungen für die kommenden Tage Thread gesperrt |
Von Stilwechseln und Wendezeiten - Anregungen für die kommenden Tage
So liebe Freunde,
die Vorweihnachtszeit mit all ihrer Hektik ist bald geschafft und dann ist endlich Ruhe angesagt. Für alle die jenseits von Festtagsbraten, Lebkuchen und stundenlangen Besuchen in überglücklichen Familien noch für andere Dinge Zeit, Lust und einen scharfen Blick haben hier ein paar Anregungen.
Es soll ja Zeitgenossen geben, die treibt es bei ihren Sonntags- und Feiertagsausflügen nicht nur in die schöne Natur sondern in kunstgeschichtlich bedeutsame Regionen, Städte, Straßen und Bauwerke - die unverwüstlichsten hab´ ich mir sagen lassen soll es sogar in Museen treiben. Also an all jene, die sich so etwas tatsächlich antun wollen, richte mich mit den nachfolgenden Gedanken.
Habt ihr mal darauf geachtet, woran man erkennen kann, daß ein Stil, eine Epoche eine Phase der kulturellen Geschichte langsam aber sicher seinem Ende entgegengeht und welche Gegenbewegung anschließend einsetzt? Hier einmal - ohne Anspruch auf Vollständigkeit und gewiß sehr verkürzend - einigen Beobachtungen und Beispiele:
Ein Stil, der sich erschöpft, ist oft daran zu erkennen, daß man seine zentralen Elemente im Laufe der Zeit sehr verfeinert hat und am Ende in einer im Vergleich zum Anfang geradezu übertriebenen Weise einsetzt:
Am Anfang stand die Gotik für klare, strenge Formen. An ihrem Ende löst sie sich in einem unübersichtlichen Netzwerk ihrer Formen auf. Aus einem schlichten Kreuzrippen- wird ein dem gegenüber verworren erscheinendes Netzrippengewölbe und unübersichtliche Astwerkformen beherrschen das Gesprenge oder die Predella der Altäre. Abgelöst wird das ganze durch die Renaissance, die in Deutschland zwar meist unverstanden, wieder die strenge Architekturtheorie der Antike zu Ehren bringt.
Vergleicht die Altarbilder, die vor 1480 gemalt wurden, einmal mit jenen, die 50 Jahre später entstanden. Die innere Ruhe und Gefaßtheit der Figuren etwa eines Rogier van der Weydens werdet Ihr dort vergeblich suchen. Statt dessen ist der Bruch der Neuzeit mit all seinen Veränderungen geradezu mit Händen greifbar, was auch kein Wunder ist, denn dazwischen liegt u.a. 1492 und die Welt ist alles andere als „rund“ auch wenn das neuerdings immer seltener bestritten wird.
Der Barock leistet sich noch den Luxus gerader Linien. Das Rokoko löst auch die letzte in geschwungene Formen auf und wird selber vom strengen Klassizismus abgelöst. Überhaupt ist das Rokoko als eine Art „Entzeitkunst“ ein interessantes Phänomen. Ironisch bis zum „geht nicht mehr“ ist es die Kunst der Reichen und Gebildeten am Vorabend der französischen Revolution.
Die Impressionisten versuchen äußere Stimmungen einzufangen, die Expressionisten innere auszudrücken und am Ende kommt nach dem Schockerlebnis 1. Weltkrieg die „Neue Sachlichkeit“ und sagt: „Freunde konzentriert Euch mal wieder auf das wesentliche.“
Interessant sind besonders die Zeiten des Übergangs. Das alte ist noch da, aber seine Kraft ist erschöpft und läßt nach. Neues drängt nach vorne zunächst zögerlich, dann mit immer unwiderstehlicher Kraft. Und die Kunstwerke jener Phasen? Sie spiegeln die innere Zerrissenheit der Menschen wider, die sich als „Wanderer zwischen zwei Welten“ fühlen und unruhig eine neue Heimat suchen, weil die alte zunehmend verloren geht.
Ich möchte zu gerne mal wissen was man so in 200 oder 300 Jahren über unsere Zeit denken und sagen wird. Werden wir als die Epoche der großen Parkhauskathedralen und der grellen Leuchtreklame in die Geschichte eingehen? Also sollte jemand in den nächsten Tagen über diverse „Wendeindizien“ stolpern, ruhig mal sammeln, da kommt bestimmt eine bunte Mischung zusammen.
In diesem Sinne: Macht das beste aus den kommenden Tagen
Simplici
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Taktiker
22.12.2000, 15:21
@ Simplici
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Sehr schöner Artikel! Ein echter MEILENSTEIN! |
Genau diese Thematik begeistert auch mich!
Was steht hinter den Kursen?
Wie diagnostiziere ich das aktuelle Befinden in Kunst & Kultur?
wenn ich über den potsdamer platz in berlin gehe, dann sehe ich viele parallelen zu den 20ern. auch in der mode, showbiz, architektur, einrichtung: es ist frappierend.
Einerseits sehr sachliche Elemente, klar, kantig, einfarbig, grob. Das ordne ich der kommenden eppoche zu: sich beschränkend, schnörkellos, eher funktional. damenmode mit schmalen linien, nichts augeblasenes, die simplen dessins der 50er und 60er jahre. einrichtung spartanisch: sofa, schrank, bett verlieren sich in überdimensionierten zimmern. jedes ding hat genau EINE funktion. witzigerweise sind das genau die sachen, die mir gefallen. bin ich da"meiner zeit voraus"? ;-)
andererseits das übertriebene, exzessive, glitzernde, völlig überflüssige. zu sehen in der Mode mit den vielen glanzstoffen, glitzerstaub auf der haut, lämpchen an der kleidung, lack und perldessins. big brother im tv zur"unterhaltung", künstliches als kunst (britney spears, boygroups), nichtigkeiten (bobbeles ehe, alex & jenny elvers) machen die nachrichten.
einerseits zur schau getragener, bzw. imitierter luxus, andererseits spartanität und kokette bescheidenheit. sehr konträre stile, die sich aktuell noch gut vermengen. aber die waage wird kippen. die imitationen des luxus müssten demnach einem vollends sachlichen stil weichen.
was wird das für eine zeit sein, in der eine glitzerjacke oder glitzerstaub auf der haut nur noch als hochalbern und eindeutig unecht empfunden werden?
es müsste wohl eine zeit sein, in der die möglichkeit der authentizität des offensichtlichen imitats ziemlich abwegig ist. das klingt wenig beschwingend.
unsere jetzigen klamotten könnten dann so ca. in 30 jahren wieder IN sein, wenn unsere kinder die nächste bubble backen, einen neuen rausch begründen.
werden wir dann noch sowas wie einen dow jones haben oder vielleicht DEN Weltindex, weil nationale Eigenheiten völlig verschwunden sein werden?
Eine hochspannende Zeit, in der wir leben!
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Uluwatu
22.12.2000, 15:24
@ Simplici
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Drum lieb ich dieses Board |
FROHE WEIHNACHTEN
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JüKü
22.12.2000, 16:52
@ Simplici
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Re: Von Stilwechseln und Wendezeiten - Anregungen für die kommenden Tage |
Ein wunderbarer Artikel!
Aber bitte nicht noch mehr vor dem 11. Februar, denn das ist auch Thema von dottore auf unserem Treffen.....
Und die Spannung soll doch bleiben
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Georg
23.12.2000, 00:11
@ Taktiker
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Re: Berlin hatte in den 20ern! nicht danach sozusagen die 'TIme of Life', bisher |
Der Charakter und auch die Historie, bzw. auch die Stärke dieser Stadt liegt nach meiner Meinung in der charmanten Antizipierung von Trends,
u.a. die flapsigen Bezeichnungen von Bauwerken, man könnte dies auch geographisch: Mitte Europas, historisch: Der recht liberale 'Alte Fritz', militärische Amibitionen einmal herausgenommen,
begründen.
Einen eigenen Stil zu kreieren gelang immer nur für kurze Zeit, nämlich oft als Abschluss einer Epoche (20er, Ende 70er->eher unrühmlich).
Man sollte vielleicht die Antizipierung, bzw. den Pragmatismus als Maxime sehen, vielleicht auch als kreative Quelle sehen.
Tagestouristen werden dort wie sonst kaum woanders als Bewunderer 'Potemkimscher Dörfer' gesehen, die sich eben nicht die Mühe machen, die Dynamik erfassen zu wollen.
Aber da dürften wir (mit Verlaub) Börsianer wohl kein Problem damit haben
mfg
>Genau diese Thematik begeistert auch mich!
>Was steht hinter den Kursen?
>Wie diagnostiziere ich das aktuelle Befinden in Kunst & Kultur?
>wenn ich über den potsdamer platz in berlin gehe, dann sehe ich viele parallelen zu den 20ern. auch in der mode, showbiz, architektur, einrichtung: es ist frappierend.
>Einerseits sehr sachliche Elemente, klar, kantig, einfarbig, grob. Das ordne ich der kommenden eppoche zu: sich beschränkend, schnörkellos, eher funktional. damenmode mit schmalen linien, nichts augeblasenes, die simplen dessins der 50er und 60er jahre. einrichtung spartanisch: sofa, schrank, bett verlieren sich in überdimensionierten zimmern. jedes ding hat genau EINE funktion. witzigerweise sind das genau die sachen, die mir gefallen. bin ich da"meiner zeit voraus"? ;-)
>andererseits das übertriebene, exzessive, glitzernde, völlig überflüssige. zu sehen in der Mode mit den vielen glanzstoffen, glitzerstaub auf der haut, lämpchen an der kleidung, lack und perldessins. big brother im tv zur"unterhaltung", künstliches als kunst (britney spears, boygroups), nichtigkeiten (bobbeles ehe, alex & jenny elvers) machen die nachrichten.
>einerseits zur schau getragener, bzw. imitierter luxus, andererseits spartanität und kokette bescheidenheit. sehr konträre stile, die sich aktuell noch gut vermengen. aber die waage wird kippen. die imitationen des luxus müssten demnach einem vollends sachlichen stil weichen.
>was wird das für eine zeit sein, in der eine glitzerjacke oder glitzerstaub auf der haut nur noch als hochalbern und eindeutig unecht empfunden werden?
>es müsste wohl eine zeit sein, in der die möglichkeit der authentizität des offensichtlichen imitats ziemlich abwegig ist. das klingt wenig beschwingend.
>unsere jetzigen klamotten könnten dann so ca. in 30 jahren wieder IN sein, wenn unsere kinder die nächste bubble backen, einen neuen rausch begründen.
>werden wir dann noch sowas wie einen dow jones haben oder vielleicht DEN Weltindex, weil nationale Eigenheiten völlig verschwunden sein werden?
>Eine hochspannende Zeit, in der wir leben!
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