Popeye
03.10.2005, 12:35 |
Pragmatische Staatskunst im vorchristlichen Indien: Kautilyas Arthashastra Thread gesperrt |
-->Sieht man von den teilweise fragmentarischen Überlieferungen vorchristlicher Gesetze ab ( z.B. Codex Hammurapi und dessen Vorläufer oder die römischen Zwölftafelgesetze) geben uns erst die Werke von Platon Der Staat (Politea) und seines Schülers Aristoteles Politik (E) Einblick in staatstherotisches Denken der vorchristlichen Zeit.
Wahrscheinlich nur wenige Jahrzehnte nachdem Aristoteles „Politik“ entstand (350 v. Chr.), fand in Indien ein weiteres, im Westen weitgehend unbekanntes, staatstheoretisches Werk - die Arthashastra (auch Arthacastra bzw. Arthasastra), seine endgültige, uns überlieferte Form. Das Buch - obwohl nie ganz vergessen - wurde erst 1904 von dem indischen Bibliothekar an der Mysore Bibliothek R. Shamasastry in einer Palmblatt-Version (und in Grantha geschrieben) wieder entdeckt.
Shamasastry veröffentlichte 1909 den indischen (Sanskrit) Text und 1915 eine englische Übersetzung.
Eine deutsche Übersetzung von J. J. Meyer hat den Titel: Arthacastra. Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von J.J. Meyer, Leipzig 1926; Nachdruck 1977.
Eine dreibändige wissenschaftliche Bearbeitung des Textes gibt es von R.P. Kangle (ed.): The Kautiliya Arthasastra, 3 Bände, Bombay 1969, 1972, 1965; diverse Nachdrucke; (Band 2 ist eine vollständige englische Übersetzung mit kritischen & erläuternden Kommentaren).
Der am leichtesten zugängliche und verständliche Text ist die Kompilation von L. N. Rangarajan, die als ‚Penguin Classics’ unter dem Titel Kautilya - <a href="http://www.amazon.co.uk/exec/obidos/ASIN/0140446036/qid=1128185315/sr=8-4/ref=sr_8_xs_ap_i4_xgl/026-2561161-9646852">The Arthashastra</a> (1992) vorliegt.
Ferner gibt es diverse Text-Quellen und Kommentare im Internet (hier z.B. die englische Übersetzung (1915) von <a href="http://www.mssu.edu/projectsouthasia/history/primarydocs/Arthashastra/"> Shamasastry (s.o.)</a>.
Was ist das Besondere an diesem Buch?
Anders als z. B. in den erwähnten griechischen Quellen sind Staat und Herrschaft in der Arthshastra Axiome - Herrschaft, Herrschaftsform und Staat werden nicht hinterfragt. Das Buch hat didaktische Ziele als Lehr- und Ausbildungsquelle für Herrscher. Gerechtigkeitsziele etwa sind Mittel zum Zweck - eingebettet in die vier Lebensziele, die sich aus der Religion definieren (s.u.).
Autor des Textes ist ein gewisser Kautilya (350-275 v. Chr.? - a.k.a. Kautiliya, VishnuGupta oder Chanakya, Cánakka). Kautilya war Brahmane (zum indischen Varna (Kasten-System) siehe), um dessen Leben sich viele Legenden gebildet haben, auch weil die historischen Fakten rar sind.
Buddhistische Quellen weisen Kautilya als hochgelehrten Brahmanen aus, der am Hof des tyrannischen DhanaNanda in Pataliputra (heutiges Patna am Ganges) dem letzten Herrscher von <a href="http://www215.pair.com/sacoins/images/maps/Map3_small.jpg">Magadha</a> (= einem von 16 indischen Mahajanapadas [Fürstentümern]) weilte, und dort von DhanaNanda erniedrigt wurde.
Kautilya (mit Zopf) schwor daraufhin, sein Haar nicht mehr zu flechten, bis er die (Nanda-Dynasty vom Thron vertrieben hatte.
Als Asket getarnt wanderte Kautilya durch das Land, um jemanden zu finden, der ihm bei der Verwirklichung seines Schwures helfen konnte. Schließlich traf er in einem Dorf auf den Jungen Chandragupta Maurya, der von königlichem Blut, aber verstoßen war. Er kaufte Chandragupta (= kaufte seine Freiheit), nahm ihn mit nach Taxila, einer ‚Universitätsstadt’, und ließ ihm dort die Erziehung eines zukünftigen Königs angedeihen.
Nach Abschluss der Erziehung Chandraguptas machten sich beide ans Werk. Nach einigen Fehlschlägen konnten sie sich mit einem benachbarten Fürstentum verbünden, entdeckten und stahlen den fürstlichen Staats-Schatz, um schließlich Pataliputra zu erobern und DhanaNanda vom Thron zu stürzen.
Chandragupta Maurya (griech.: Sandrakottos) bestieg den Thron Magadhas (Kautilya wurde sein ‚Premierminister’) und begründete die Mauryan-Dynasty um 322 v. Chr.. Letzteres ist Fakt, alles andere Legende.
Dieser Kautilya also ist der Verfasser der uns überlieferten Arthashastra, ein Werk, das häufig, aber fälschlich mit Niccolò Machiavellis <a href="http://www.layline.de/geschichte/Machiavelli.html">Der Fürst</a> verglichen wurde.
Artha (Wohlstand) ist eines der viel Lebenziele im <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Hinduismus">Hinduismus</a>. (Die anderen drei lauten dharma, kama und moksha - weitergehende Erläuterungen zu den Einzelbegriffen über die Links die Wikipedia anbietet.)
„Artha“ bedeutet mehr als nackter Reichtum eines Individuums vielmehr umfasst der Begriff auch den Wohlstand eines Landes (für den der Fürst verantwortlich ist) eingewoben in die drei anderen hinduistischen Lebensziele. Wir würden heute arthashastra (in dem von Kautilya behandelten Sinn) als staatliche Rahmenbedingungen der Wirtschaft interpretieren. „Shastra“ kann frei mit „die Lehre/ Wissenschaft von“… übersetzt werden. Frei übersetzt also bedeutet arthashastra: Die Lehre von den Rahmenbedingungen der Wirtschaft. („…that science which treats of the means of acquiring and maintaining the earth is the Arthasástra...”).
Entsprechend umfassend sind die Themen, die Kautilya in seinem Werk abhandelt:
>b>Buch 1[/b] handelt vom König, seiner Erziehung, seinen Aufgaben, seiner Sicherheit, der Bestellung von Ministern und Beamten.
Buch 2 beschreibt die Pflichten verschiedener Staatsbeamten und vermittelt ein umfassendes Bild der staatlichen Aktivitäten in der Landwirtschaft, Bergbau, Infrastruktur und öffentlicher Unterhaltung.
Buch 3 enthält ein komplettes Gesetzbuch und beschreibt die Judikative.
Buch 4 befasst sich mit der Entdeckung und Unterdrückung von Verbrechen, Folter und Todesstrafe, sowie der Kontrolle des Handels und der Künstler.
Buch 5 enthält u. a. eine Gehaltsskala für öffentliche Ämter.
Buch 6 ist kurz und enthält die theoretischen Grundlagen des ganzen Buches - die konstituierenden Elemente eines Staates und dessen Außenpolitik.
Buch 7 diskutiert die verschiedenen Methoden und Strategien der Außenpolitik.
Buch 8 befasst sich mit Staatskrisen.
Buch 9 erläutert die notwendigen Vorbereitungen zur Führung von Kriegen.
Buch 10 befasst sich mit taktischen und strategischen Fragen der Kriegsführung.
Buch 11 beschreibt wie der Eroberer eines Landes verfahren sollte, wenn das eroberte Land von einer Oligarchie statt eines Fürsten regiert wurde.
Buch 12 untersucht Taktiken wie ein (militärisch) schwacher Herrscher sich dem Angriff eines stärkeren Angreifers widersetzen kann.
Buch 13 beschreibt wie eroberte Territorien zu regieren sind und beschreibt Taktiken für die Eroberung von befestigten Anlagen.
Buch 14 befasst sich mit okkulten und geheimen Techniken.
Buch 15 enthält redaktionelle Anmerkungen.
Leider gibt diese kurze Zusammenfassung nur einen blassen Eindruck von der Vielzahl der von Kautilya behandelten Themen - besonders der ökonomischen Themen. Erst die Kompilation der Themen in dem oben zitierten Buch von Rangarajan macht deutlich wie dicht die Durchdringung gerade der ökonomischen Themen ist. Ein komplexes Steuer- und Zollsystem wird (verstreut in verschiedenen Kapiteln) beschrieben. Gleiches gilt für das <a href="http://www.med.unc.edu/~nupam/ancient1.html">Münzsystem</a>, die Handelsregeln sowie Maße und Gewichte. (Stellvertretend siehe: <a href="http://www.findarticles.com/p/articles/mi_qa3657/is_200412/ai_n9466070">hier</a>)
In der ‚westlichen Welt’ findet sich (inkl. Nahen Osten) weder unter griechischen noch bei römischen Autoren ein vergleichbares Werk, das gerade wegen der vielen Details, die erkennbar werden, einen tiefen Einblick in die staatlichen Strukturen der letzten vorchristlichen Jahrhunderte bietet.
Nachsätze
- Endgültige Klarheit über den Entstehungszeitpunkt der Arthashastra besteht nicht. Rangarajan (s.o.) bietet - unter Verweis auf Sekundärliteratur - den Zeitraum von 350 v. Chr. bis 150 n. Chr. an. Sicher scheint, dass die Arthashastra Vorgänger hatte, die viele Jahrhunderte früher entstanden waren - <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Manusmriti">siehe zum Beispiel</a> oder The Laws of Manu ca. 1.500 v. Chr..
- Die Mauryan-Dynasty (s.o.) war äußerst erfolgreich expandierte geographisch und beherrschte unter <a href="http://en.wikipedia.org/wiki/Ashoka">Ashoka (ca. 273-232 v. Chr.)</a> praktisch den gesamten indischen Kontinent. Ashoka hat in der indischen Geschichte etwa den Stellenwert wie Karl der Große - falls es ihn denn gab .
- Wie Darius I (558?-486 v.Chr.) vor ihm, eroberte auch Alexander 326 v. Chr. Teile von Indien. Hier 326 v. Chr. der indische Herrscher <a href="http://lexikon.freenet.de/images/de/7/7e/328vc_schlacht-am-hydaspes-porus-alexander-der-grosse_1-640x451.jpg">Porus vor Alexander</a>. Es gibt Hinweise dafür, dass Chandragupta Maurya (Gründer der Mauryan-Dynasty s.o.) im Tross dem Heer von Alexander folgte und ihn sogar drängte Magadha anzugreifen. Ursprünglich wollte Alexander Magadha auch erobern, aber auf dem Wege dorthin meuterten seine Soldaten und er musste nach der Schlacht am Hydaspes - heute <a href="http://www.kashmirstamps.ca/JPGimages/geologyMap.jpg">Jhelum</a> - die Heimreise antreten.
- Sicher ist, dass Seleucus I Nicator (einer der diversen Nachfolger Alexanders) 303 v. Chr. einen Friedensvertrag mit Chandragupta Maurya schloss und angeblich dessen Tochter heiratete. Im Gegenzug erhielt Seleucus dreihundert Elephanten. Fortan hatte Seleucus auch einen Gesandten am Hofe Chandraguptas - Megasthenes. Leider ist uns Megasthenes „Indika“ nicht vollständig erhalten. Erschöpfendes über frühe griechische/persische Kontakte mit Indien hier.
- Zitate aus Arthashastra (hier nach Rangarajan)
- The source of the livelihood of men is wealth.
- A King with a depleted treasury eats into the very vitality of the citizens and the country.
- The treasury is ranked above the army because ‘the army is dependent on finance; in the absence of resources, a disaffected army goes over to the enemy or even kills the King.’
- The accumulation of wealth by the state was made possible by the fact that the king was principal and residual owner of all property.
- Without active policy, both current prosperity and future gains are destroyed.
- Any (state) official who did not generate adequate profits in a Crown undertaking was punished for ‘swallowing the labour of workers’.
- Generate profits -avoid losses.
- The punishment for paying counterfeit money into the government treasury: death.
- State monopolies or state controlled: Manufacture and sale of alcoholic beverages, gambling and prostitution, sale, manufacture and purchase of gold silver and precious stones.
- Power comes from the countryside, which is the source of all activities.
- The Chancellor was expected to keep precise and detailed records of land use and anticipated revenue, helped by magistrates and secret agents.
- Selling at places other than the designated markets was punishable.
- Weights and measurements used by merchants were periodically inspected. |
Popeye
03.10.2005, 12:56
@ Popeye
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Re: Pragmatische Staatskunst im vorchristlichen Indien: Kautilyas Arthashastra |
-->Durch einen Syntax-Fehler ist der folgende Absatz im ersten Posting verstümmelt:
Chandragupta Maurya (griech.: Sandrakottos) bestieg den Thron Magadhas (Kautilya wurde sein ‚Premierminister’) und begründete die Mauryan-Dynasty um 322 v. Chr.. Letzteres ist Fakt, alles andere Legende.
Dieser Kautilya also ist der Verfasser der uns überlieferten Arthashastra, ein Werk, das häufig, aber fälschlich mit Niccolò Machiavellis <a href="http://www.layline.de/geschichte/Machiavelli.html">Der Fürst</a> verglichen wurde.
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Elli (Boardmaster)--
03.10.2005, 13:11
@ Popeye
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Re: Pragmatische Staatskunst / im Orig. korrigiert, kommt i.s. Sammlung (o.Text) |
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dottore
05.10.2005, 18:05
@ Popeye
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Re: Versuch einer Ehrenrettung für West-of-India-Gebiete |
-->Hi @Popeye,
ein vorzüglicher Hinweis in einem hochinformativen Posting. Dafür großen Dank vorweg.
Es handelt sich bei dem Inder, was im weiter westlichen Kulturkreis sub rubrum „Fürstenspiegel“ (auch Regentenspiegel) tradiert wird, also die Lehre für das optimale „Regieren“. Diese sind ab dem 15./16. Jh., zunächst unter Rückgriff auf antike Vorbilder in großer Zahl erschienen (viele anonym), wobei die Grenzen zur klassischen „Kameralwissenschaft“ (camera = Fürstliche Schatzkammer, die auch beim Inder eine zentrale Rolle spielt) fließend sind. Nur als ein Beispiel (weil der Titel so schön sprechend ist):
Ch. F. Kottenkamp, Kurtzer Abriß und wahres Ebenbild eines großen Fürsten und erhabenen Geistes, worinnen die Grundlehren der gesunden Staatskunst... abgehandelt 1747. Kottenkamp wendet sich auch gegen Machiavell wie kurz zuvor (1740) schon Friedrich der Große in seinem „Anti-Machiavell“ (anonym und auf Vorbilder wie Barlaeus [„Adversus Machiavelli“ 1633] basierend). Allerdings hatte Friedrich kaum Zugang zum Phänomen der Staatsfinanzen (Steuer- und Münzverpachtung) und steht dem Inder in diesem Punkt bei weitem nach.
Aber sind die Potentaten des Nahen Ostens und des Abendlands tatsächlich so gänzlich ohne „Staats“- und/oder „Regierungstheorie“ geblieben und haben also mehr oder minder in den blauen Tag hinein geherrscht?
Vielleicht darf ich als Versuch der Ehrenrettung entsprechende Ausführungen zum Thema aus „früherer“ Zeit nachtragen, die außer den Aristoteles, außer Plato und Cicero zu nennen wären und auch außer dem, was unter „mosaischen Gesetzen“ zu verstehen wäre (Chronologien, so möglich, die Titel nach späteren Druckausgaben):
David (biblisch): Psalm 101 mit dem (freilich sehr kurzen) „Regentenspiegel“:
„Von Gnade und Recht will ich singen und dir, HERR, Lob sagen. Ich handle umsichtig und redlich, daß du mögest zu mir kommen; ich wandle mit redlichem Herzen in meinem Hause. Ich nehme mir keine böse Sache vor; ich hasse den Übertreter und lasse ihn nicht bei mir bleiben. Ein falsches Herz muß von mir weichen.
Den Bösen kann ich nicht leiden. Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den bring ich zum Schweigen. Ich mag den nicht, der stolze Gebärde und hoffärtige Art hat. Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, daß sie bei mir wohnen; ich habe gerne fromme Diener. Falsche Leute dürfen in meinem Hause nicht bleiben, die Lügner gedeihen nicht bei mir.
Jeden Morgen bring ich zum Schweigen alle Gottlosen im Lande, dass ich alle Übeltäter ausrotte aus der Stadt des HERRN.“
Immerhin lässt sich aus Samuel 1 und 2 indirekt eine Reihe von Herrschaftsmaximen für den dortigen „David“ ableiten, wenn auch eingebettet in die Theologie des AT und zuweilen höchst blumiger Sprache, die in keiner Weise an die strengen Formulierungen des Inders heranreicht.
Daniel (biblisch, gest. nach 536 BC?): Gewisse „moralische“ Ansätze, immerhin.
Xenophon (430 - 355 BC): Ihm (so er denn der wahre Autor ist) verdanken wir den staatstheoretischen Dreierschlag: „Erziehung des Kyros“ (Regentenspiegel), Hieron-Dialog (warum Tyrannis?) und den „Staat der Spartaner“ (lobend wie auch deren König Agesilaos in einem weiteren Werk), der - abgeschmeckt mit seinen ökonomischen Traktaten (über gute Hauswirtschaft und über die Staatseinkünfte) und einem über das taktische Vorgehen der Reiterei - dem Inder noch am ehesten das Wasser reichen könnte.
Isokrates (436 - 338): Keine direkte Staatstheorie, aber doch interessante staatspolitische Forderungen im Sinne Athens, gekleidet in die damalige schriftstellerische Kunstform der „Rede“ (Kunstrede zur Lektüre wie sein „Panegyrikos“).
Tacitus (55 - 115): „Annalen“, die mit Augustus, Tiberius usw. scharf ins Gericht gehen, woraus sich im Umkehrschluss die „wahre Regierungskunst“ oder „Staatsklugheit“ ableiten lässt.
Plinius der Jüngere (62 - 113) in seinem umfänglichen Briefwechsel mit Trajan, aus dem sich zumindest die Maximen der damaligen römischen Regierungs“kunst“ einigermaßen rekonstruieren lassen, z.B. in Trajans Antwort auf den berühmten „Christen-Brief“, dass man keine anonymen Anzeigen beachten (non nostri saeculi est) und nicht eigens nach Christen fahnden solle.
Marc Aurel (reg. 161 - 180): „Selbstbetrachtungen“. Eher in sich gekehrt (Stoiker), aber auch mit einer schönen Maxime:
„Hoffe nicht auf Platons Idealstaat, sondern gib dich zufrieden, wenn es ein ganz klein wenig vorangeht, und ziele auf diesen Ausgang, wie gering er auch ist.“
Agapetus (gest. 536, angeblich auch Papst): „De officio regis ad Iustinianum Caesarem“ (Kaiser Justinian I.).
Basileios (Byzanz, reg. 867 - 886): Einiges aus dem großen Gesetzessammelwerk („Basilika“), dem „Procheiron“ und der „Epanagoge“ zu Nutz und Frommen seines Nachfolgers (ob Sohn umstritten) Leo VI. ableiten ließe, dem wir wiederum eine militärlogistische Standardschrift verdanken.
Aegidius Romanus (1247-1316): Drei Bücher „De regimine principum“. Mir nicht näher bekannt.
Engelbert von Admont (1250 - 1331): „Speculum (Spiegel) virtutum moralium“ (um 1300). Auch nicht.
Die weiteren Mittelaltler sind mir ebenfalls nicht näher bekannt. Dass der Inder ein Meisterstück abgeliefert hat, vor allem, was das Abstraktionsvermögen angeht, ist wohl unstreitig. Ein gewisses Misstrauen bzw. Unbehagen bleibt doch, zumindest, was die Chronologie betrifft und die „Fundumstände“: nur ein Ex. und das rein „zufällig“ gefunden? Noch dazu auf höchst vergänglichem Material? *)
Die Geschichte der Textüberlieferungen ist immer wieder für schier unglaubliche Überraschungen gut, vgl. die Parallele in der Zeit des Humanismus, in der auch jahrhundertelang verschollene Mss. „plötzlich“ in „alten Klöstern“ entdeckt werden, danach Abschrift - und das „Original“ bleibt hinfort verschwunden.
Ein ähnlich mulmiges Gefühl beschleicht (jedenfalls mich) bei Sun Tzu („Kunst des Krieges“). 2400 Jahre zwischen dessen extrem klaren Ausführungen und einem nicht minder klaren Clausewitz?
Dennoch: Hut ab vor dem Inder! Und nochmals besten Dank an @Popeye für die Zusammenstellung und die dazu gefügten zahlreichen Links, die geradezu einen ganzen neuen Kosmos zu erschließen halfen.
Herzlichen Gruß!
*) Die Materialfrage ist ein Kapitel für sich, vor allem, was den ganzen Komplex „Finanzen und Wirtschaft“ angeht. Bei Palmblättern ist das so eine Sache, zumal in einer Monsun-Gegend, aber wer weiß?
Aus Mesopot haben wir immerhin (dank der robusten Tontafeln) inzwischen sogar die „Börse von Babylon“ in zeitlichem Ablauf (da kalenderartig) aus einer Zeit, die knapp vor dem Inder liegt, erhalten und in einer bereits hier besprochenen sauberen Arbeit rekonstruiert.
Aus der westlichen Antike zwei Beispiele:
- Umfangreiches Material bieten die umfangreichen Zenon-Papyri (3. Jh. BC, ca. 2000 Stück), die sich aber nur im trockenen Wüstensand einer Oase erhalten konnten.
- Und vor allem die griechische Epigraphik (Stein!), aus deren Zusammenstellung der große Gelehrte August Böckh seine mit Tausenden von Zahlen gespickte „Staatshaushaltung der Athener“ ab 1817 publizieren konnte (abdeckend 5./4. Jh. BC)
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Popeye
05.10.2005, 18:36
@ dottore
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Re: Versuch einer Ehrenrettung für West-of-India-Gebiete |
-->Dass der Inder ein Meisterstück abgeliefert hat, vor allem, was das Abstraktionsvermögen angeht, ist wohl unstreitig. Ein gewisses Misstrauen bzw. Unbehagen bleibt doch, zumindest, was die Chronologie betrifft und die „Fundumstände“: nur ein Ex. und das rein „zufällig“ gefunden? Noch dazu auf höchst vergänglichem Material?
Hallo, @dottore,
Wenn man rund +2000 Seiten Lesevolumen (824 + 1203) kurz zusammenfassen will, bleiben einige Details auf der Strecke.
Inzwischen wurden ein zweites vollständiges Exemplar und zahlreiche Fragmente und frühe Kommentare sowie Vorgänger- und Urversionen aufgefunden - siehe dazu im Detail Kangle und Rangarajan.
Wissenschaftliche Zweifel (so mein Kenntnisstand) konzentrieren sich vor allem auf das Entstehungsdatum.
Gruß
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