-->>Michel Friedman (wird heute 50)
>na klar, deutsche Nutten gibts ja kaum noch!
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Ich gehöre bestimmt zum harten Kern der Gegner jeglicher multikultureller Ansätze.
Nehmen wir mal die Türkei als Beispiel:
Nein zum Beitritt der Türkei
Von Ernst-Wolfgang Böckenförde (ehem. Richter am Bundesverfassungsgericht)
09. Dezember 2004 Die Diskussion über die Frage eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union kann nicht befriedigen. In ihr stehen Positionen einander gegenüber, die sich wechselseitig versteifen, auch polemisch gegeneinander richten, sich aber auf die Probleme in der Sache nur bedingt oder gar nicht einlassen. Das betrifft ebenso die These, es gebe zu einem Beitritt der Türkei als Ziel und dem Beginn von Beitrittsverhandlungen aufgrund der bisherigen Entwicklung keine Alternative, wie die Gegenthese, ein Beitritt der Türkei und Verhandlungen daraufhin bedeuteten das Ende der Europäischen Union als politischer Union.
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Die Türkei ist nach geographischer Ausdehnung, Bevölkerungszahl, nationaler und kultureller Identität, ökonomischer und politischer Struktur von einer Bedeutung und Eigenart, die die Frage nach dem Konzept, der finalité der europäischen Einigung unausweichlich macht. Denn die Frage der Eignung der EU für eine Aufnahme der Türkei und der Türkei für eine Mitgliedschaft in der EU ist anders gelagert und hat eine andere Dimension, wenn das Konzept und Ziel der europäischen Integration eine politische Union mit auch politischer Handlungsfähigkeit und darauf bezogener Konsistenz und demokratischer Struktur ist, wenn es sich lediglich auf eine Freihandelszone mit funktionsfähigem Binnenmarkt samt dazu erforderlicher ökonomischer Entwicklung und Angleichung richtet oder wenn es primär auf eine sicherheitsstrategische Vormacht in der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zielt, als Seitenstück und Juniorpartner der Weltpolitik der Vereinigten Staaten.
Betrachten wir die Entwicklung der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, so hat die europäische Integration eine Richtung erhalten, die auf eine politische Union zielt, über eine Wirtschaftsgemeinschaft und einen europäischen Binnenmarkt hinaus. Das begann mit der Errichtung der Währungsunion im Vertrag von Maastricht. Es setzte sich im Amsterdamer Vertrag und in den Beitrittsverhandlungen um die Erweiterung der EU vor allem nach Ostmitteleuropa hin fort, schließlich kam der jetzt unterzeichnete europäische Verfassungsvertrag hinzu. Ebendieser Verfassungsvertrag zielt ebenso auf eine institutionell und in ihren Kompetenzen politisch handlungsfähige Union, nicht zuletzt im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wie auf einen gewissen Ausbau der demokratischen Legitimation in der Union.
Eine politische Union bedarf anderer Grundlagen und Gemeinsamkeiten, einer anderen Art von Zusammengehörigkeit und Solidarität als eine Freihandelsund Wirtschaftsgemeinschaft oder eine sicherheitsstrategische Aktionsgemeinschaft. Unter diesem Gesichtspunkt sind mehrere Faktoren in Betracht zu ziehen.
Beginnen wir mit dem geographisch-geopolitischen Faktor. Geographisch bedeutet eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU deren Ausdehnung nach Asien, und zwar in erheblichem Umfang. Nur ein kleiner Teil der Türkei, nicht mehr als drei Prozent des Staatsgebietes, gehört geographisch zu Europa. Die Türkei erstreckt sich über 1500 Kilometer auf asiatisches Gebiet, was in der Länge mehr bedeutet als die Entfernung von Warschau nach London. Sie wäre mithin weit mehr als nur ein Anhängsel zum europäischen Teil der EU. Geographisch wird mit dem Beitritt der Türkei aus der Europäischen Union eine europäisch-kleinasiatische Union.
Wichtiger erscheint die geopolitische und geostrategische Komponente, die mit solcher geographischer Ausdehnung verbunden ist. Eine um die Türkei erweiterte Union hat direkte Grenzen mit Armenien, Georgien, Iran, Irak und Syrien. Die Außengrenzen der EU reichen dann bis nach Kaukasien und zum Vorderen und Mittleren Orient, mit allen Problemen, die damit verbunden sind. Eine so erstreckte EU wird von den Interessenkonstellationen, Konflikten und Unruheherden, die sich dort ergeben, unmittelbar mitbetroffen. Sie unterliegt möglichen Reaktionszwängen, denen sie - Grenzland und Anlieger - nicht ausweichen kann. Was bedeutet das für die politische Handlungsfähigkeit und innere Konsolidierung der EU?
Jede Gemeinschaft, die über Warenaustausch, Dienstleistungsverkehr und Geldtransfer hinaus politisch aktionsfähig sein will, bedarf einer gebietsmäßigen Begrenzung, die strategisch, aber auch binnenstrukturell Kohärenz vermittelt und eine Problemüberlastung fernhält. Ungehemmte Ausdehnung bewirkt eher eine Schwächung als Stärkung politischer Handlungsfähigkeit, indem sie ein Übermaß an Problemdruck und Involviertheit hervorruft - die Schwächung durch Überdehnung.
Besteht aber nicht - gerade auch geostrategisch und geopolitisch - eine notwendige Brückenfunktion der Türkei zwischen Europa und der islamischen Welt? In der Tat ist die Türkei der Staat der islamischen Welt, der sich Europa am meisten angenähert hat. Die Modernisierung der Türkei, seit Kemal Atatürk betrieben, ist in der weitgehenden Adaption europäischen Rechts und der Veränderung der Gesellschaftsstruktur stark an Europa ausgerichtet; nicht zuletzt belegen das die Reformbestrebungen der jüngsten Zeit.
Die Türkei ist also zu einer Brücken- und Vermittlungsfunktion zwischen Europa und der islamischen Welt durchaus berufen und, sofern sie ihren Charakter als islamisches Land nicht negiert, auch in der Lage. Aber ist die Ausübung dieser Funktion nicht gerade an die Selbständigkeit der Türkei gebunden? Wird die Türkei über eine volle Mitgliedschaft integrierter Teil der EU, kann das durchaus die Wirkung haben, daß sie von der islamischen Welt, insbesondere der islamisch-arabischen Welt, als islamisches Land abgeschrieben wird, eben weil sie ins westliche Lager übergetreten und damit dem Islam untreu geworden ist. Kann und soll die Türkei helfen, Aggressionen der islamischen Welt gegen den Westen vermittelnd abzubauen und selbst demonstrieren, daß westlich-europäische Lebensform und Islam keine unvereinbaren Gegensätze sind, so spricht viel dafür, daß dies gerade die Selbständigkeit und Eigenständigkeit, auch die volle Souveränität einer Türkei - mag sie auch wirtschaftlich und womöglich monetär mit der EU eng verbunden sein - voraussetzt. Eine Brücke ist mehr und anderes als ein bloßer Brückenkopf, sie verbindet, eigenständig und aus sich heraus, verschiedene Ufer oder Länder.
Geschichtlich-kulturell sind Europa und die Türkei nicht nur am Rande, sondern grundlegend unterschieden. Darüber dürfen die zum Teil hektischen Reformgesetze der jüngsten Zeit, so anerkennenswert sie als Anpassung an europäische Standards sein mögen, nicht hinwegtäuschen. Zumeist wird die Prägung durch die christliche Religion und durch den Islam angeführt, die Europa und die Türkei voneinander scheide. Das Problem liegt jedoch weniger in der Religion als solcher. Es liegt in der einerseits von der christlichen Religion, andererseits vom Islam geprägten Kultur und Mentalität in Europa und der Türkei. Hier und dort haben sich unterschiedliche Grundeinstellungen, Denkmuster, Traditionen und Lebensformen herausgebildet. Dieses kulturelle Erbe hat die Menschen über Jahrhunderte geprägt und geformt, mit entsprechenden Auswirkungen auf ihr Denken und Empfinden. In dieser Vermittlung gehört die christliche Religion zum kulturellen Boden Europas, der Islam zum kulturellen Boden der Türkei.
Kann nicht im Zeichen von Religionsfreiheit und Toleranz aus der Anerkennung des jeweils anderen eine gemeinsame Grundlage für ein produktives Zusammenwirken entstehen? Versteht sich das Europa der EU nicht selbst als säkulare, ja säkularisierte Ordnung, offen für verschiedene Religionen, ebenso wie für Areligiosität? Gewiß hat das heutige Europa säkularen Charakter und existiert, von Malta und teilweise Griechenland vielleicht abgesehen, in der Form säkularisierter Gesellschaften. Aber dieser Charakter ist erwachsen nicht durch Beiseitestellen, sondern in lebendiger Auseinandersetzung mit dem fortwirkenden Christentum und in der Umsetzung gerade auch christlicher Gedanken. Die Kultur Europas - genauer und politisch unkorrekt, aber zutreffend: des lateinischen Europas - ist geprägt durch epochale Vorgänge wie den Investiturstreit, den ersten Freiheitskampf zwischen Kirche und politischer Ordnung, sodann die Reformation, den europäischen Rationalismus und die Aufklärung, schließlich die Menschenrechtsbewegung. Diese Vorgänge haben tiefe Spuren im lateinischen Europa hinterlassen.
An einer in dieser oder einer vergleichbaren Weise geprägten geistig-kulturellen Identität fehlt es in der Türkei. Sie läßt sich auch nicht durch die vielberufene Laizität der Türkei ersetzen oder kompensieren. Die türkische Laizität ist, was oft übersehen wird, keineswegs gleichbedeutend mit der laïcité in Frankreich. Diese hat die völlige Freigabe der Religion bei ihrer Beschränkung auf den privat-persönlichen Bereich zum Inhalt, die türkische Laizität demgegenüber die Gestaltung der Religion des Islam - ohne Freiheit für andere Religionen - durch den Staat, um sie einerseits zu entpolitisieren und andererseits in das kemalistische nationale Modernisierungsprogramm zu integrieren; deshalb auch die neutralisierenden Züge. So sind Glaubensfragen und der religiöse Kult dem Direktorium für Religionsangelegenheiten (Diyanet), einer staatlichen Behörde, unterstellt; sie hat, nach der letzten, 2003 beschlossenen Erweiterung, etwa 100 000 Angestellte, darunter Vorbeter, Prediger, Gebetsrufer und so fort, und ihr unterstehen an die siebzigtausend Moscheen. Unter ihrer Ägide wird eine Art sunnitischer Staatsislam als Grundlage für Religionsunterricht und religiöse Bildung praktiziert. Dies ist etwas grundlegend anderes als säkulare Religionsfreiheit; die nach wie vor beschämende Lage der Christen in der Türkei, die ungeachtet papierner Deklarationen fortbesteht, bestätigt dies nur.
Für einen Staatenverbund, der auf eine politische Union und Gemeinschaft abzielt, reicht als gemeinsame Grundlage nicht aus, daß alle darin miteinander Verbundenen Menschen sind und sich als solche in ihren Menschenrechten anerkennen. Für eine politische Union in Europa bedarf es darüber hinaus einer Gemeinsamkeit und Solidarität, die ungeachtet der eigenen nationalen Identität auf ein gemeinschaftliches Zusammenleben mit anderen Völkern und Nationen bezogen ist. Solche Übereinstimmung kristallisiert sich in Fragen wie: Wer sind wir? Wie sollen und wollen wir miteinander leben?
Ein gemeinsames"Wir-Gefühl" prägt sich darin aus, daß mental wie auch emotional dasjenige, was die anderen betrifft, auch mich angeht, nicht von der eigenen Existenz getrennt wird. Auf dieser Grundlage kommt es - Ausdruck der Solidarität - zur Anerkennung gemeinsamer Verantwortung, von Einstandspflichten und wechselseitiger Leistungsbereitschaft. Es ist der"sense of belonging", von dem Lord Dahrendorf spricht, das Bewußtsein, Empfinden und der Wille, zusammen eine Gemeinschaft zu bilden, ihr anzugehören und an ihr - im Angenehmen und Nützlichen wie im Schweren und Belastenden - teilzuhaben.
Dieser"sense of belonging" muß in demokratisch organisierten Gemeinschaften stärker ausgebildet sein als in autoritär oder technokratisch verfaßten. In jenen müssen die zum Bestand und zur Fortentwicklung der Gemeinschaft ergehenden Entscheidungen von den Menschen nur hingenommen werden. In dem Maße, in dem eine Gemeinschaft auf demokratische Legitimationsverfahren angelegt ist, müssen diese Entscheidungen von den Menschen positiv mitgetragen werden, als von ihnen selbst getroffene und ausgehende. Daher bedarf es in weiterem Umfang gemeinsamer Auffassungen und Zielvorstellungen, die das aktive Handeln der Gemeinschaft mittragen und sie dazu befähigen.
Die hier aufgewiesenen Probleme und Schwierigkeiten lassen sich auch nicht mit dem Hinweis auf Europa als Wertegemeinschaft beiseite stellen. Gewiß sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten der EU, wenn auch in unterschiedlicher Tiefe, anerkannt und praktiziert. Insofern läßt sich von einer Wertegemeinschaft in Europa sprechen. Auch die Türkei hätte daran Anteil, falls sie die genannten Merkmale aufweist, sie nicht nur proklamiert, sondern auch realisiert. Diese Merkmale sind fraglos wichtig, aber sie enthalten noch nicht den positiven politischen Impetus und Antrieb für eine solche Union; sie sind zwar eine notwendige, aber noch hinreichende Bedingung für die Zusammengehörigkeit. Käme es nur auf die genannte Wertegemeinschaft an, könnte sich die EU ohne weiteres auf Australien, Neuseeland oder Japan erstrecken und diese Länder zu Beitrittskandidaten machen. Umgekehrt kann deshalb die Mitgliedschaft in der EU auch nicht auf eine Anerkennungsprämie für die Reformbereitschaft der Türkei reduziert werden.
Das politisch-integrative Problem, das wir bislang behandelt haben, erfährt durch die demographische Dimension eine weitere Zuspitzung. Für die Bevölkerungsentwicklung der Türkei bis 2050 kommt eine Dokumentation der Vereinten Nationen von 2003 (je nach Annahmen über die Reproduktionsraten) zu folgenden Prognosen: Im Jahr 2050 ist (bei einer oberen Annahme von 2,7 bis 2,35) mit einer Bevölkerung von 119,9 Millionen zu rechnen, bei einer mittleren Annahme (2,3 bis 1,85) mit 97,8 Millionen und bei einer unteren Annahme (1,9 bis 1,35) mit 78,4 Millionen. Hierbei sind die Steigerung der Lebenserwartung und Migrationsanteile eingerechnet. Im Blick auf die fortschreitende Modernisierung in der Türkei erscheint Professor Birg aus Bielefeld die mittlere Annahme, bei der eine deutliche degressive Entwicklung berücksichtigt ist, am ehesten realistisch. Danach ergeben sich für das Jahr 2015 82,2 Millionen, für 2020 85,7 Millionen, für 2030 91,9 Millionen an Bevölkerungszahl.
Die Türkei wird also bei einem Beitritt 2015 oder später unweigerlich der bevölkerungsreichste Mitgliedstaat der EU sein. Entsprechend gestalten sich die Zahl der Sitze und damit die Einflußpositionen im Europäischen Parlament, der Anspruch auf angemessene Vertretung in der Kommission und das Gewicht beim Zustandekommen und womöglich der Verhinderung von Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat. Repartitionen gerade für die Türkei sind hier nicht denkbar, sie bedeuteten eine Diskriminierung und wären gerade mit den Wertegrundlagen der EU unvereinbar. Weiter sind die Auswirkungen der vier Freiheiten des EG-Vertrages, insbesondere der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit zu beachten. Zuzugsbewegungen aus der Türkei im Rahmen europäischer Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, sind primär nach Deutschland hin zu erwarten, weniger zur EU insgesamt, weil in Deutschland bereits die meisten Türken, etwa 2,8 Millionen, seßhaft sind. Zwar können solche Zuzüge durch Übergangsfristen etliche Jahre hinausgezögert, jedoch auf der Basis gleichberechtigter Mitgliedschaft nicht endgültig abgewehrt werden. Greift man dennoch zu"unbefristeten Schutzklauseln", auf Dauer gestellten Beschränkungen von Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, wie sie jetzt sogar der Kommissionsbericht in Erwägung zieht, schafft man eine geminderte Mitgliedschaft, einen Beitritt zweiter Klasse; er wäre im Grunde ein Einstieg in die privilegierte Partnerschaft.
Fehlendes Zusammengehörigkeitsbewußtsein und"Wir-Gefühl" wirken sich hier verstärkt aus, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen EU-weit für die gemeinsame, von politischer Solidarität getragene Handlungsfähigkeit und die wechselseitige Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und Einstandspflichten - eine Bedingung für das Fortschreiten einer politischen Union auf demokratischer Grundlage. Zum andern im nationalen Bereich für die konkrete Integrationsbereitschaft über bestehende Andersheit hinweg. Es sei nur auf das schon heute bestehende Problem von Grundschulklassen mit deutlicher Mehrheit ausländischer, nicht zuletzt türkischer Kinder hingewiesen und auf die möglichen Folgen des gleichen Kommunalwahlrechts für alle EU-Ausländer, wenn in großen Städten etwa eine türkische Gruppierung zweitstärkste oder gar stärkste Fraktion im Gemeindeparlament wird. Können aber solche Schwierigkeiten nicht abgefangen werden durch plurale Lösungen auf der Grundlage der Anerkennung von kultureller und sprachlicher Eigenheit und Vielfalt? Das mag so scheinen und erwünscht sein. Aber es würde ein anderes Integrationsmodell als das bisher verfolgte bedingen.
Was war die Grundlage für das oft über Jahrhunderte hinweg im großen und ganzen friedliche und beziehungsreiche Miteinanderleben von Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Sprache und Kultur im alten Europa? Es war die Anerkennung ihrer Eigenheit und Lebensform durch einen eigenen Rechtsstatus, der ihnen religiöse und kulturelle Eigenständigkeit gewährleistete. Denken wir als Beispiele an die Hugenotten in Berlin, die Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen in Ungarn beziehungsweise später Rumänien und - noch im zwanzigsten Jahrhundert - die Muslime und Christen in Bosnien-Hercegovina. Sie alle sollten im Rahmen staatlich festgelegter Verträglichkeit nach ihren Religionsbegriffen, wie es alteuropäisch so schön hieß, nach ihren Sitten, ihrer Sprache, ihrem Recht leben, also ihre Wurzeln behalten können. Was heute als Parallelgesellschaft ausgemacht wird und als Gefahr erscheint, war durch Anerkennung in eine übergreifende Ordnung eingebunden und insofern integriert.
Solche Art kultureller Vielfalt steht freilich in einem dauernden Spannungsverhältnis zum modernen Nationalstaat, verstärkt zur nationalstaatlichen Demokratie. Diese beruht auf der Nation als einer politischen Willens- und Kulturgemeinschaft, einem einheitlichen nationalen Recht, prägt sich in der eigenen nationalen Kultur aus und empfindet sprachlich und kulturmäßig deutlich anders Geprägte als fremd. Ihre Integration soll weithin durch Eingewöhnung, Ein- und Übernahme von Ordnung und Lebensform, insbesondere die Übernahme der eigenen Sprache erreicht werden. Das ist in sich nicht ohne Folgerichtigkeit. Aber es bedeutet, daß die Aufnahme- und Integrationskapazität in solchen Staaten und Gesellschaften durchaus eine begrenzte ist und nicht überfordert werden darf.
Auch die ökonomischen Probleme sind nicht leicht zu nehmen. Nach verläßlichen Angaben beträgt die Wirtschaftskraft der Türkei derzeit nur 25 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftskraft der EU. Ein Beitritt der Türkei würde das regionale Wirtschaftsgefälle innerhalb der Union erheblich verstärken und, wie der jüngste Kommissionsbericht ausführt, der Türkei lange Zeit Anspruch auf erhebliche Unterstützung aus den Mitteln des Strukturfonds und des Kohäsionsfonds geben. Gleiches gilt hinsichtlich der Teilnahme an der gemeinsamen Agrarpolitik. Insgesamt werden die notwendigen Aufwendungen für eine längere Zeit auf zwanzig Milliarden Euro jährlich beziffert. Andererseits ist im ökonomisch-verteilungspolitischen Bereich Raum für Verhandlungen und Veränderungen; die Herausforderungen, die ein Beitritt der Türkei insoweit mit sich bringt, können auch Anlaß sein, die Agrar-, Kohäsions- und Strukturpolitik der EU grundlegend neu zu formulieren und so realisierbar zu halten. Das würde freilich keine einfache Prozedur, weil vielerlei Besitzstände auf den Prüfstand kommen müßten. Doch liegt darin zugleich eine Chance für die EU, zu einer stärker rational bestimmten ökonomischen Struktur und Politik zu kommen. Die Aufgabe, die Türkei ökonomisch an die EU heranzuführen und in sie zu integrieren, kann so nicht von vornherein als unlösbar angesehen werden.
Was gegen einen vollen Beitritt der Türkei zur EU als politischer Union spricht und ihn höchst bedenklich macht, liegt mithin nicht eigentlich im ökonomischen Bereich, obwohl auch dieser nicht ohne Risiken ist; es ergibt sich primär und durchschlagend aus den dargelegten geographisch-geopolitischen, kulturellen und politisch-integrativen Problemen in Verbindung mit demographischen Gesichtspunkten. Hinzu tritt die gegenwärtige, in die Zukunft hineinwirkende Befindlichkeit der Europäischen Union selbst. Wie kann dann aber eine angemessene Lösung des Beitrittsproblems, auch auf dem Hintergrund der der Türkei gemachten Zusagen, aussehen? Es kann und muß ein besonders enges Verhältnis der Türkei zur EU hergestellt werden, das nicht nur Handel und die Wirtschaftsförderung mit dem Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse umfaßt, sondern auch darüber hinausgeht. Zu diesem Verhältnis kann auch die Teilnahme an der Euro-Währung gehören sowie jenseits von Handel und Wirtschaft eine enge, institutionell ausgestaltete Kooperation mit Beteiligungs- und Anhörungsrechten, wie sie durchaus schon bestehen, mit Konsultationen und auch - allerdings überstimmbaren - Einspruchsrechten. Hier ist vieles möglich und auch realisierbar, was die eingangs erwähnte Brückenfunktion ermöglicht.
Das Assoziationsabkommen mit der Türkei von 1963, ersichtlich auch unter Auspizien des Ost-West-Gegensatzes abgeschlossen, hatte das Ziel, eine"beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen" zwischen der EWG und der Türkei zu erreichen. Die Annäherungs- und Beitrittsperspektive, von der heute oft die Rede ist, war entsprechend dem damaligen Charakter der EWG auf eine Wirtschaftsgemeinschaft gerichtet, nicht auf mehr. Das machte heute kein Problem, und insofern wäre das Abkommen von 1963 auch erfüllt. Indem diese Perspektive aber fortgeschrieben und bestätigt wurde, als die EG nach den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 - Zusammenbruch des Ostblocks und Wiedervereinigung - im Vertrag von Maastricht sich auf eine politische Union auszurichten begann und zudem die Ost-Erweiterung ins Auge faßte, erhielt sie einen anderen Inhalt. Die Zäsur liegt im Beschluß des Europäischen Rates in Helsinki 1999. Er erkannte der Türkei ausdrücklich den Status eines Bewerberlandes zu, das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen Bewerberländer gelten, Mitglied der Union werden solle. Noch 1998 hatte Bundeskanzler Kohl gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten Yilmaz erklärt, daß ein Beitritt der Türkei zur EU nicht in Betracht komme. Diese Position hatte Europa mit Helsinki verlassen - verstärkt noch durch den Beschluß von Kopenhagen.
Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen rundweg abzulehnen muß nach alledem tiefe politische Zerwürfnisse hervorrufen, zumal die Türkei lange Jahre immer wieder hingehalten wurde und ihrerseits beträchtliche Anstrengungen unternommen hat, um sich beitrittsfähig zu machen. Aber eine Beitrittsoption ist noch keine Beitrittszusage, so daß nur noch über die Modalitäten zu verhandeln wäre. Auch das Ob eines Beitritts - voller Beitritt oder andere Formen spezifischer Verbundenheit - ist dabei offen und kann durch entsprechende Verlautbarungen offengehalten werden. Dies muß dann aber auch ausdrücklich geschehen, will man der normativen Kraft des Faktischen, die sich gerade in diesen Fragen vehement breitmacht, wirksam entgegentreten. Eine tragfähige Anknüpfung dafür gibt es in den Beitrittskriterien von Kopenhagen selbst. Denn im Gesamttext der Kriterien findet sich ein heute eher verschwiegener Zusatz, den eine französische Diplomatin wieder zutage gefördert hat. Er hebt"die Kapazität der EU, neue Mitglieder zu integrieren", als ein"wichtiges Element" vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hervor. An ebendieser Integrationskapazität der EU, will sie eine politische Union bleiben, fehlt es heute und auf absehbare Zeit, und dies kann gegenüber der Türkei geltend gemacht werden.
Die Bereitschaft, einen solchen Vorbehalt zu empfehlen und sich dafür einzusetzen, fehlt indes sowohl bei der Europäischen Kommission wie bei der Bundesregierung. Wie jüngste Äußerungen des EU-Kommissars Verheugen, von Bundeskanzler Schröder und von Außenminister Fischer zeigen, wird unter dem Eindruck des 11. September 2001 ein neues Strategiekonzept für die EU verfolgt, das - ohne weitere Diskussion - die finalité der europäischen Integration nachhaltig verändert. Nunmehr ist die Frage des endgültigen Platzes der Türkei in Europa eine sicherheitspolitische Frage, und zwar, wie Verheugen sagt, ganz und gar. Die EU übernimmt eine fortentwickelte und erweiterte Sicherheitsfunktion in Ergänzung zur Nato und soll, selbständig oder eingefügt in das Weltvorherrschaftskonzept der Vereinigten Staaten, ein weltpolitischer Akteur werden. Dieses Konzept bedeutet einen folgenreichen Strategie- und Finalitätswechsel für die europäische Integration, übrigens zum dritten Mal in ihrer Geschichte.
Steht das sicherheitspolitische Ziel so dominant im Vordergrund, kann es auf andere Erfordernisse und Gegebenheiten, die für eine politische Union notwendig sind, nicht mehr in gleicher Weise ankommen; diese müssen hinter dem neuen Ziel zurücktreten, gegebenenfalls auch unter Inkaufnahme einer Änderung der Struktur der Europäischen Union.
Für die EU bedeutet dieser Pfad einen Scheideweg. Denn die volle Einbeziehung der Türkei in die Union aus Gründen und unter Dominanz eines sicherheitsstrategischen Konzepts steht einer Fortentwicklung der Union als politischer Union entgegen, die von einer Gemeinsamkeit und Verbundenheit der Völker, die in ihr leben, getragen und bestimmt wird. Beides zugleich kann man nicht haben. Die Europäische Union steht also in der Tat am Scheideweg. Die Entscheidungen, die der Europäische Rat am 17. Dezember zu treffen hat, werden für sie eine Stunde der Wahrheit.
Leicht gekürzte Version der Dankesrede, die der Verfasser, früher Bundesverfassungsrichter, bei der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken in Bremen hielt.
th.
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