-->"Warum nun wird das Projekt eines Verfassungs- bzw. Reformvertrages nicht einfach fallengelassen, zumal die EU ganz offensichtlich auf der Grundlage des Vertrags von Nizza ganz gut arbeiten kann? Doch hier ist die Frage der Macht in der Union berührt. Ein Umbau der Institutionen steht seit zehn Jahren auf der Tagesordnung der EU. Seitdem geht es darum, die »drei Left-overs« der Amsterdamer Vertragsreform von 1997 aufzulösen. Übrig geblieben waren damals Entscheidungen über die zukünftige Größe der Europäischen Kommission, über die Stimmengewichtung im Rat und über die inhaltlichen Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierten Mehrheiten abstimmen kann. Die hier vom Verfassungs- bzw. Reformvertrag vorgesehenen Änderungen werden zur Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen und zur Stärkung der großen Mitgliedsländer führen. Die Kommission wird deutlich verkleinert, so daß nicht mehr jeder Mitgliedstaat in ihr zukünftig vertreten sein wird. Der Rat bekommt einen ständigen Präsidenten, und die Verantwortlichkeiten für Außen- und Sicherheitspolitik werden in einer Person gebündelt. Viele Fragen, in denen im Rat bisher Einstimmigkeit erforderlich war, werden dort zukünftig mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Dort zählt zukünftig, neben der Anzahl der Länder, die hinter der Entscheidung stehende Bevölkerungsgröße, was die großen Mitgliedsländer bevorteilt."
Einige Schlußfolgerungen:
1. Mit dem Reformvertrag ist der alte Verfassungsvertrag nur an jenen Stellen substantiell verändert worden, wo er Anlaß für Referenden bieten könnte. Tatsächlich traut sich die europäische Elite in kaum einem Mitgliedsland mehr zu, eine Volksabstimmung zu gewinnen. In dieser um sich greifenden Angst vor dem Willen der Völker drückt sich zugleich ihr Hegemonieverlust über die öffentliche Wahrnehmung der EU aus. Die Vertrauenskrise der Europäischen Union dauert an. Weitere, überraschende Niederlagen bei möglichen Volksabstimmungen über den Reformvertrag sind daher keineswegs ausgeschlossen.
2. Der Reformvertrag würde, wie bereits der Verfassungsvertrag, zwar die Handlungsfähigkeit der EU erhöhen, dies aber auf Kosten der Demokratie.
Mit der Übertragung vieler Politikbereiche in das Mitentscheidungsverfahren, etwa im Bereich der Innen- und Rechtspolitik, verlören die Mitgliedsländer weitere Souveränitätsrechte. Zwar erhielte zugleich das Europäische Parlament ein Mitspracherecht in diesen Dingen, aber dieses Parlament ist eben nur ein halbes. Es besitzt weder ein Initiativrecht, noch kann es die Einnahmen der Union - das »Königsrecht« eines jeden echten Parlaments - festlegen. Es kann nicht die Kommission oder auch nur ihren Präsidenten wirklich wählen.
3. Durch die Umstellung des Abstimmungsverfahrens im Rat auf das Prinzip der Demographie würden sich die Machtverhältnisse in der EU dramatisch verschieben. Hauptgewinner wäre Deutschland, das seine mit der Vereinigung deutlich gewachsene Bevölkerung voll zur Geltung bringen könnte. Allein sein Anteil stiege im Rat um mehr als hundert Prozent. Anwachsen würden auch die Stimmanteile von Großbritannien, Frankreich und Italien. Die vier Großen könnten zukünftig ein Direktorium errichten. Verlierer wären hingegen die mittelgroßen Staaten, etwa Tschechien, Portugal, Belgien oder Ã-sterreich. Die Union droht damit ihren traditionellen Charakter einer Aushandlungsgemeinschaft zu verlieren und eine feste Hegemonialordnung von Metropole und Peripherie zu werden.
4. Bei der Ausarbeitung des Reformvertrages mußte nur wenig Rücksicht auf jene Kritiker genommen werden, die den Verfassungsvertrag ablehnten, da in ihm die neoliberale Ordnung des Binnenmarktes gemäß den Vereinbarungen von Maastricht festgeschrieben wurde. Im französischen Referendum dürften diese Argumente für das Non ausschlaggebend gewesen sein. Keine Rede ist jetzt mehr von der Idee Merkels, dem Vertrag ein Zusatzprotokoll über die soziale Dimension der EU beizufügen. Dieser unmittelbar nach der französischen Abstimmungsniederlage eingebrachte Vorschlag ist wieder fallengelassen worden. Angesichts einer gegenüber dem Verfassungsvertrag völlig unkritischen Sozialdemokratie war dies nicht länger notwendig. Doch auch von den großen europäischen Gewerkschaften war wenig Kritik zu hören. Nur wenige, etwa die französische CGT und der britische TUC, stellten sich gegen den Verfassungsvertrag. Die übrigen - unter ihnen auch die deutschen - nahmen eine zustimmende bzw. ambivalente Haltung ein. Weit verbreitet sind dort illusionäre Hoffnungen auf eine korrigierende Wirkung der Grundrechtecharta.
5. Ungeachtet der in Lissabon erreichten Einigung kommt der Prozeß einer Vertiefung der Integration ins Stocken. Unter den 27 Mitgliedstaaten der EU besteht offenbar noch Konsens über den Erhalt und den weiteren Ausbau des neoliberalen Binnenmarkts als auch über den Kurs der Militarisierung der Union. Keine Einigkeit besteht jedoch über die weiteren Integrationsschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wie auch in der Innen- und Rechtspolitik. Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angeht, so hat sich der bereits in den Verhandlungen des Konvents zu spürende Widerstand einzelner Länder gegen eine weitere Integration verstärkt. Ausdruck findet dies nun in dem Verzicht des Reformvertrages auf den Titel »Außenminister«. In der Innen- und Rechtspolitik bleiben die 1997 Großbritannien und Irland gewährten Ausnahmebestimmungen in den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und freier Reiseverkehr erhalten und werden sogar noch um Fragen der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen und polizeilichen Zusammenarbeit erweitert.
6. Mit dem Reformvertrag erweist sich die Hoffnung auf »eine immer engere Union« als Illusion. Der Verfassungsprozeß und damit der Versuch einer rechtlichen Legitimierung einer superstaatlichen Ordnung auf europäischer Ebene mußte auf Druck der Ã-ffentlichkeiten einiger Staaten abgebrochen werden. Augenfälliger Ausdruck davon ist der Verzicht auf den Begriff Verfassungsvertrag und auf die vertragliche Erwähnung der Symbole der Union. Die EU kann nun klarer als das wahrgenommen werden, was sie im Kern vor allem ist: Ein Zusammenschluß von Staaten unter Führung des Kapitals, dem die auf Gewinnmaximierung gerichteten Gesetze des Marktes als eigentliche Verfassungsgrundsätze dienen.
<ul> ~ http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/verf/wehr3.html</ul>
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