BossCube
23.04.2001, 22:17 |
Die Angst - Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken Thread gesperrt |
Die Angst vor der Angst
Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken
Seit einigen Wochen gehören Börsenmakler und Investmentbanker in New York zu jenen geplagten
Geschöpfen, die von Partygästen und Zufallsbekanntschaften abendelang mit Fachfragen gelöchert
werden. Wie das denn nun sei mit den Kursen und den Fonds und den Langzeitperspektiven, wo das
Geld denn jetzt noch sicher wäre. Das ist ungefähr so höflich, wie wenn man einem Arzt am
Bartresen die Zunge herausstreckt und ihn bittet, doch mal nachzusehen, ob die geschwollenen Dinger
da hinten eine Mandelentzündung sein könnten. Doch wer Angst hat, schert sich nicht um Etikette.
Seit letztem Herbst hat sich die Angst ganz langsam ausgebreitet. Erst kamen die Verunsicherungen.
Die Kursstürze. Das Wahldebakel von Florida. Die Massenentlassungen. Dann prognostizierten die
Analysten eine düstere Zukunft und die Massenmedien griffen das Thema auf. Das zeigt nun
Wirkung. Selbst in den erlauchten Kreisen, in denen man sich auch in schlechten Zeiten keine Sorgen
machen müsste, wird plötzlich heimlich gespart. In den New Yorker Edellokalen wie Bouley’s Bakery
oder Balthazar, die sich noch letztes Jahr damit rühmten, jeden Tag bis zu 2000 Anfragen für eine
Reservierung zu bekommen, kann man jetzt auch kurzfristig einen Tisch ergattern. In den
Designerboutiquen auf der Fifth Avenue und am West Broadway verlieren sich die wenigen Kunden
zwischen den minimalistischen Regalen. Beim Weinhändler kann man bei den teuren Flaschen schon
mal handeln.
Zugegeben, es sieht nicht gut aus für die amerikanische Wirtschaft - auch wenn das Platzen der
Dotcomblase und der Niedergang der so genannten Neuen Märkte lediglich die längst überfällige
Rückkehr zu Maß und Vernunft darstellen mögen. Das Unwort Rezession lauert als Menetekel in den
Wirtschaftsteilen der Zeitungen und Magazine, die jede Woche neue Gräuelnachrichten verbreiten. Im
März gingen schon wieder 86000 Arbeitsplätze verloren. Es könnte ein Jahrzehnt dauern, bis sich die
Aktienmärkte wieder auf den Stand vom letzten Jahr erholen. Laut Umfrage des Gallup-Instituts
haben immer weniger Amerikaner Vertrauen in die Wirtschaft ihres Landes. Selbst George W.Bush,
von Amts wegen zu Optimismus verpflichtet, hat jetzt zugegeben, dass die Dinge nicht nur zum Guten
stehen. Auf schlechte Nachrichten folgt eben schlechte Laune. Und die sollte man nicht
unterschätzen.
Teuflische Launenhaftigkeit
Angesichts der Unkenrufe begab sich Finanzminister Paul O’Neill kürzlich in das Studio von CNN, um
eifrig zu verkünden, dass von Rezession keine Rede sein könne. Aus gutem Grund. Keine Wirtschaft
ist so anfällig für kollektive Launen wie die der USA, denn sie beruht laut New York Times zu zwei
Dritteln auf einem Gemütszustand, der von den Wirtschaftsnachrichten inzwischen als legitimer
Indikator für die finanzielle Lage der Nation angeführt wird: Consumer Confidence. Ein großartiger
Begriff, der die Mischung aus Selbstbewusstsein und Gottvertrauen beschreibt, die ein gut gefülltes
Bankkonto verleiht. Consumer Confidence sorgt dafür, dass Geld im Umlauf bleibt und die Wirtschaft
am Leben. Doch der Teufelskreis der Self Fulfilling Prophecy hat sich schon geschlossen.
Das wirkliche Problem der mangelnden Consumer Confidence sind aber nicht nur die mageren
Wirtschaftsdaten, sondern eine Angstkultur, die sich über die letzten Jahre kontinuierlich
weiterentwickelt hat. Ausgerechnet während der optimistischen Clintonjahre entdeckten die
Massenmedien die Angst als Verkaufsargument. Irreale Bedrohungen werden immer häufiger zu
allgemeinen Gefahren aufgebauscht: Exotische Krankheiten wie das Ebolafieber oder der
West-Nile-Virus; Extremfälle wie amoklaufende Schulkinder und Rechtsradikale; Alltagsgefahren wie
die unzähligen Viren und Bakterien, gegen die neue Reinigungsprodukte angepriesen werden; bisher
unbekannte Zahnfleischerkrankungen oder Nervenleiden, für die Medikamente entwickelt wurden;
Konstruktionsfehler, die Luxusgüter wie Geländewagen oder Klimaanlagen in Todesfallen
verwandeln. Marktschreierisch kündigen die Nachrichtenmagazine der Fernsehsender ihre neuesten
Entdeckungen an. Floskeln wie „ein Problem, das es öfter gibt, als Sie glauben“ oder „Sie könnten der
Nächste sein“ sollen vertuschen, dass hier über Phänomene berichtet wird, die nur wenige betreffen.
Wie weit diese Verzerrungen gehen, bewies eine Studie des Journalisten Bob Garfield, der ein Jahr
lang die Berichterstattungen von Washington Post, New York Times und USA Today auswertete.
Nachdem er sämtliche Krankheitsfälle von Migräne bis Krebs zusammengezählt hatte, kam er zu dem
Ergebnis, dass 543 Millionen Amerikaner schwer erkrankt sein müssten. Nicht schlecht für ein Land
mit 280 Millionen Einwohnern.
Nun könnte man psychologische Massenphänomene ebenfalls als mediale Modeerscheinungen abtun.
Da wurden in der so genannten Me Decade der siebziger Jahre die Neurosen entdeckt, die Zipperlein
des zarten Egos. In den Achtzigern gab es das Chronic Fatigue Syndrome als Folge der
arbeitswütigen Yuppiegesellschaft. Die zunehmende Vernetzung während der neunziger Jahre
brachte die multiple Persönlichkeit und die verschüttete Erinnerung in die Diskussion. Und jetzt, an der
vermeintlichen Schwelle zur großen Weltwirtschaftskrise, kommt eben die Angst. Ihre Extremform,
die Phobie, wurde von Time Magazine vor kurzem mit einer Titelgeschichte zum nationalen Problem
geadelt.
Die Gesellschaft reagiert auf die psychologischen Massenphänomene meist mit Selbstmedikation, wie
der Drogenkonsum im Jargon der Psychologie genannt wird. In den siebziger Jahren versuchte man
sich vom Selbstbezug der Neurosen mit Psychedelika wie LSD zu befreien. Gegen die
Ermüdungserscheinungen der Achtziger wurde Kokain eingesetzt. Die vermeintliche Klarheit des
Ecstasy-Rausches sollte gegen die Verwirrungen der Neunziger helfen. Und heute vermelden die
Medien eine epidemische Verbreitung des Schmerzmittelmissbrauchs.
Das künstliche Opiat Hydrokodon, in Amerika gegen Rezept als Vicodin erhältlich, hat sich zum
absoluten Kassenschlager der Pharmaindustrie entwickelt. Wie ein weicher Kokon aus Sicherheits-
und Glücksgefühl umhüllt der sanfte Rausch das angstgeplagte Hirn. Fernseh- und Filmstar Matthew
Perry musste wegen seiner Sucht schon eingeliefert werden. Die Schauspielerin Melanie Griffith führt
im Internet Tagebuch über ihren Entzug. Der Rapper Eminem ließ sich eine Vicodin-Tablette auf
seinen Arm tätowieren. Teenager schlucken die Pillen auf Parties und Konzerten. Und die
Notaufnahmen der Krankenhäuser vermelden einen sprunghaften Anstieg der Überdosen durch
Schmerzmittel.
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Amerikas, dass Angst eine Wirtschaftskrise beschleunigt.
Auf dem Höhepunkt der Great Depression erkannte der neu gewählte Präsident Franklin D.Roosevelt
1933 die Gefahr der kollektiven Panik: „Wir sollten vor nichts Angst haben, außer vor der Angst“,
proklamierte er in seiner Antrittsrede. Er wusste, dass Reformprogramme allein nicht ausreichen
würden, die verängstigte Bevölkerung zu beruhigen. Und so behandelte er das Land wie einen
Patienten. Immer wieder versammelte sich die Nation vor den Radios, um seinen Fireside Chats zu
lauschen, den tröstenden Worten eines Landesvaters, der seine Bürger an einen virtuellen Kamin bat,
um sie von ihren Ängsten zu therapieren.
Was Roosevelt instinktiv verstand, hat die New York University nun bewiesen. Anfang April haben
die Wissenschaftler des neurologischen Instituts eine Forschungsarbeit vorgelegt, die nachweist, dass
sich die Angst längst von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst hat. Waren Angst und Schmerz in
Urzeiten Schutzmechanismen, um das Überleben in einer feindlichen Umwelt zu erlernen, so hat die
Studie ergeben, dass im modernen Menschen auch Gefahren, die lediglich vermutet oder von Dritten
kolportiert werden, jene Zentren des Gehirnes aktivieren, die einstmals nur auf direkte Erfahrungen
reagierten. Wenn sich die virtuellen Ängste aber schon biologisch manifestieren, muss man sie auch
ernstnehmen. Erst recht, wenn sie ganz realen Schaden anrichten. ANDRIAN KREYE
Aus der Süddeutschen von heute.
J.
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Rumpelstilzchen
23.04.2001, 22:35
@ BossCube
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Mit Panik hat das noch gar nix zu tun |
Die Leute sind verunsichert, ärgern sich über ihre Verluste, manche ziemlich stark.
In solchen Zeiten wollen sie natürlich bestärkt werden, das ihre ursprünglichen Annahmen von steigenden Kursen doch richtig sind. Also ein hübsches Beispiel, wie kognitive Dissonanz abgebaut werden soll. Soziale Unterstützung bietet sich da besonders an.
Da kommt mir beim Schreiben übrigens eine tolle Idee, wie man diese Verunsicherung nützen konnte.
Wir gründen einen Es-wird-alles-gut-Klub, wo zu jeder Befürchtung gegen ein geringes Entgelt ein Heiko Thieme Spruch angeboten wird.
Bsp:
Anleger:Herr Doktor, ich fürchte, ich habe an der Börse Mist gebaut.
Klubantwort: Der einzige Mist ist der Pessimist.
Das ganze könnte man mit einer 0190 Nummer abrechnen.
Aber zurück zum Thema: Mit Panik hat das nix zu tun. Panikattacken sind zwar meines Wissens die Störung mit der größten Zunahme, aber das läuft schon seit mehreren Jahren, also auch schon zu den Mega-Bullenzeiten.
Das mit den psychoaktiven Substanzen ist auch sehr, sehr weit hergeholt.
Obwohl ich zugeben muss, erst unlängst einen Artikel gelesen zu haben, in dem der Anstieg des Nasdaq mit dem Anstieg des Prozac-Verbrauchs (ein stimmungsaufhellendes Medikament, in den USA sehr weit verbreitet) korreliert wurde.
Aber bei solchen Statistiken sollte man auch nie vergessen, auf die hohe Korrelation von Geburten und regionaler Storchdichte hinzuweisen.
So, dass war jetzt sehr weitschweifig. Ich sollte nur noch in nüchternem Zustand schreiben.
Hickks
R.
> Die Angst vor der Angst > Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken
>Seit einigen Wochen gehören Börsenmakler und Investmentbanker in New York zu jenen geplagten
>Geschöpfen, die von Partygästen und Zufallsbekanntschaften abendelang mit Fachfragen gelöchert
>werden. Wie das denn nun sei mit den Kursen und den Fonds und den Langzeitperspektiven, wo das
>Geld denn jetzt noch sicher wäre. Das ist ungefähr so höflich, wie wenn man einem Arzt am
>Bartresen die Zunge herausstreckt und ihn bittet, doch mal nachzusehen, ob die geschwollenen Dinger
>da hinten eine Mandelentzündung sein könnten. Doch wer Angst hat, schert sich nicht um Etikette.
>Seit letztem Herbst hat sich die Angst ganz langsam ausgebreitet. Erst kamen die Verunsicherungen.
>Die Kursstürze. Das Wahldebakel von Florida. Die Massenentlassungen. Dann prognostizierten die
>Analysten eine düstere Zukunft und die Massenmedien griffen das Thema auf. Das zeigt nun
>Wirkung. Selbst in den erlauchten Kreisen, in denen man sich auch in schlechten Zeiten keine Sorgen
>machen müsste, wird plötzlich heimlich gespart. In den New Yorker Edellokalen wie Bouley’s Bakery
>oder Balthazar, die sich noch letztes Jahr damit rühmten, jeden Tag bis zu 2000 Anfragen für eine
>Reservierung zu bekommen, kann man jetzt auch kurzfristig einen Tisch ergattern. In den
>Designerboutiquen auf der Fifth Avenue und am West Broadway verlieren sich die wenigen Kunden
>zwischen den minimalistischen Regalen. Beim Weinhändler kann man bei den teuren Flaschen schon
>mal handeln.
>Zugegeben, es sieht nicht gut aus für die amerikanische Wirtschaft - auch wenn das Platzen der
>Dotcomblase und der Niedergang der so genannten Neuen Märkte lediglich die längst überfällige
>Rückkehr zu Maß und Vernunft darstellen mögen. Das Unwort Rezession lauert als Menetekel in den
>Wirtschaftsteilen der Zeitungen und Magazine, die jede Woche neue Gräuelnachrichten verbreiten. Im
>März gingen schon wieder 86000 Arbeitsplätze verloren. Es könnte ein Jahrzehnt dauern, bis sich die
>Aktienmärkte wieder auf den Stand vom letzten Jahr erholen. Laut Umfrage des Gallup-Instituts
>haben immer weniger Amerikaner Vertrauen in die Wirtschaft ihres Landes. Selbst George W.Bush,
>von Amts wegen zu Optimismus verpflichtet, hat jetzt zugegeben, dass die Dinge nicht nur zum Guten
>stehen. Auf schlechte Nachrichten folgt eben schlechte Laune. Und die sollte man nicht
>unterschätzen.
>Teuflische Launenhaftigkeit
>Angesichts der Unkenrufe begab sich Finanzminister Paul O’Neill kürzlich in das Studio von CNN, um
>eifrig zu verkünden, dass von Rezession keine Rede sein könne. Aus gutem Grund. Keine Wirtschaft
>ist so anfällig für kollektive Launen wie die der USA, denn sie beruht laut New York Times zu zwei
>Dritteln auf einem Gemütszustand, der von den Wirtschaftsnachrichten inzwischen als legitimer
>Indikator für die finanzielle Lage der Nation angeführt wird: Consumer Confidence. Ein großartiger
>Begriff, der die Mischung aus Selbstbewusstsein und Gottvertrauen beschreibt, die ein gut gefülltes
>Bankkonto verleiht. Consumer Confidence sorgt dafür, dass Geld im Umlauf bleibt und die Wirtschaft
>am Leben. Doch der Teufelskreis der Self Fulfilling Prophecy hat sich schon geschlossen.
>Das wirkliche Problem der mangelnden Consumer Confidence sind aber nicht nur die mageren
>Wirtschaftsdaten, sondern eine Angstkultur, die sich über die letzten Jahre kontinuierlich
>weiterentwickelt hat. Ausgerechnet während der optimistischen Clintonjahre entdeckten die
>Massenmedien die Angst als Verkaufsargument. Irreale Bedrohungen werden immer häufiger zu
>allgemeinen Gefahren aufgebauscht: Exotische Krankheiten wie das Ebolafieber oder der
>West-Nile-Virus; Extremfälle wie amoklaufende Schulkinder und Rechtsradikale; Alltagsgefahren wie
>die unzähligen Viren und Bakterien, gegen die neue Reinigungsprodukte angepriesen werden; bisher
>unbekannte Zahnfleischerkrankungen oder Nervenleiden, für die Medikamente entwickelt wurden;
>Konstruktionsfehler, die Luxusgüter wie Geländewagen oder Klimaanlagen in Todesfallen
>verwandeln. Marktschreierisch kündigen die Nachrichtenmagazine der Fernsehsender ihre neuesten
>Entdeckungen an. Floskeln wie „ein Problem, das es öfter gibt, als Sie glauben“ oder „Sie könnten der
>Nächste sein“ sollen vertuschen, dass hier über Phänomene berichtet wird, die nur wenige betreffen.
>Wie weit diese Verzerrungen gehen, bewies eine Studie des Journalisten Bob Garfield, der ein Jahr
>lang die Berichterstattungen von Washington Post, New York Times und USA Today auswertete.
>Nachdem er sämtliche Krankheitsfälle von Migräne bis Krebs zusammengezählt hatte, kam er zu dem
>Ergebnis, dass 543 Millionen Amerikaner schwer erkrankt sein müssten. Nicht schlecht für ein Land
>mit 280 Millionen Einwohnern.
>Nun könnte man psychologische Massenphänomene ebenfalls als mediale Modeerscheinungen abtun.
>Da wurden in der so genannten Me Decade der siebziger Jahre die Neurosen entdeckt, die Zipperlein
>des zarten Egos. In den Achtzigern gab es das Chronic Fatigue Syndrome als Folge der
>arbeitswütigen Yuppiegesellschaft. Die zunehmende Vernetzung während der neunziger Jahre
>brachte die multiple Persönlichkeit und die verschüttete Erinnerung in die Diskussion. Und jetzt, an der
>vermeintlichen Schwelle zur großen Weltwirtschaftskrise, kommt eben die Angst. Ihre Extremform,
>die Phobie, wurde von Time Magazine vor kurzem mit einer Titelgeschichte zum nationalen Problem
>geadelt.
>Die Gesellschaft reagiert auf die psychologischen Massenphänomene meist mit Selbstmedikation, wie
>der Drogenkonsum im Jargon der Psychologie genannt wird. In den siebziger Jahren versuchte man
>sich vom Selbstbezug der Neurosen mit Psychedelika wie LSD zu befreien. Gegen die
>Ermüdungserscheinungen der Achtziger wurde Kokain eingesetzt. Die vermeintliche Klarheit des
>Ecstasy-Rausches sollte gegen die Verwirrungen der Neunziger helfen. Und heute vermelden die
>Medien eine epidemische Verbreitung des Schmerzmittelmissbrauchs.
>Das künstliche Opiat Hydrokodon, in Amerika gegen Rezept als Vicodin erhältlich, hat sich zum
>absoluten Kassenschlager der Pharmaindustrie entwickelt. Wie ein weicher Kokon aus Sicherheits-
>und Glücksgefühl umhüllt der sanfte Rausch das angstgeplagte Hirn. Fernseh- und Filmstar Matthew
>Perry musste wegen seiner Sucht schon eingeliefert werden. Die Schauspielerin Melanie Griffith führt
>im Internet Tagebuch über ihren Entzug. Der Rapper Eminem ließ sich eine Vicodin-Tablette auf
>seinen Arm tätowieren. Teenager schlucken die Pillen auf Parties und Konzerten. Und die
>Notaufnahmen der Krankenhäuser vermelden einen sprunghaften Anstieg der Überdosen durch
>Schmerzmittel.
>Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Amerikas, dass Angst eine Wirtschaftskrise beschleunigt.
>Auf dem Höhepunkt der Great Depression erkannte der neu gewählte Präsident Franklin D.Roosevelt
>1933 die Gefahr der kollektiven Panik: „Wir sollten vor nichts Angst haben, außer vor der Angst“,
>proklamierte er in seiner Antrittsrede. Er wusste, dass Reformprogramme allein nicht ausreichen
>würden, die verängstigte Bevölkerung zu beruhigen. Und so behandelte er das Land wie einen
>Patienten. Immer wieder versammelte sich die Nation vor den Radios, um seinen Fireside Chats zu
>lauschen, den tröstenden Worten eines Landesvaters, der seine Bürger an einen virtuellen Kamin bat,
>um sie von ihren Ängsten zu therapieren.
>Was Roosevelt instinktiv verstand, hat die New York University nun bewiesen. Anfang April haben
>die Wissenschaftler des neurologischen Instituts eine Forschungsarbeit vorgelegt, die nachweist, dass
>sich die Angst längst von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst hat. Waren Angst und Schmerz in
>Urzeiten Schutzmechanismen, um das Überleben in einer feindlichen Umwelt zu erlernen, so hat die
>Studie ergeben, dass im modernen Menschen auch Gefahren, die lediglich vermutet oder von Dritten
>kolportiert werden, jene Zentren des Gehirnes aktivieren, die einstmals nur auf direkte Erfahrungen
>reagierten. Wenn sich die virtuellen Ängste aber schon biologisch manifestieren, muss man sie auch
>ernstnehmen. Erst recht, wenn sie ganz realen Schaden anrichten. ANDRIAN KREYE
>Aus der Süddeutschen von heute.
>J.
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Tobias
23.04.2001, 23:37
@ BossCube
|
@Boss & Rumpel / Angst |
Hi Jan & Robert,
hervorragender Artikel! Vielleicht einer der besten in letzer Zeit - danke für's Reinstellen und danke auch Dir, Rumpel, für's Antworten.
Jan, wie ist Deine Meinung zum Artikel - einfach nur interessant oder"volle Zustimmung"?
Ich denke gerade folgendes: Das Geschäft mit der Angst ist wirklich unglaublich - Du brauchst Dir bloß mal Fernseh-Werbung anzusehen (habe in diesem Jahr nur wenige Stunden ferngesehen) - trotzdem bspw. Allianz-Werbung: Ein Haus brennt - hättest Du Dich besser überreichlich versichert, dann wär' das alles kein Problem... Achte mal ganz bewusst auf das Spiel mit der Angst. Das ist in keinem einzigen Werbeblock zu übersehen! Es gibt so viele Ängste: Angst, (bei dem nächsten Hype oder bei sonstwas) nicht dabei zu sein, Angst nicht 'in' zu sein, Angst irgendwas zu verlieren, Angst nicht mithalten zu können, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Angst vor dem Finanzamt, Angst vor Mundgeruch ;-) (vgl. Kirschner:"Manipulieren - aber richtig", S.99), Angst nicht zu gefallen, Angst vor zuwenig Informationen, Angst vor Überschuldung, Angst vor Autoritäten... es gibt hunderte von Ängsten und der Bereich"Angst" ist sehr groß. Es werden viele Geschäfte mit Ängsten der Menschen gemacht. Ich denke, der Punkt, an dem die 'kollektive Angst' vor einem wirtschaftlich-gesellschaftlichem Abschwung größer ist als die 'kolletive Zuversicht', wird der Punkt sein, an dem es den entscheidenden Knacks gibt - in der Gesamtwirtschaft aber vielleicht auch im Erscheinen der Massen (Demos u.ä.). Alles sehr psychologisch-soziologisch. Es wäre toll, vielleicht etwas von Rumpel zu diesem großen Komplex 'Angst' und 'kollektive Angst' zu hören - würde mich außerordenlich freuen. Vielleicht ist irgendwann einmal Zeit dafür da... ;-)
Gruß!
Tobias
> > Die Angst vor der Angst > Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken
>Seit einigen Wochen gehören Börsenmakler und Investmentbanker in New York zu jenen geplagten
>Geschöpfen, die von Partygästen und Zufallsbekanntschaften abendelang mit Fachfragen gelöchert
>werden. Wie das denn nun sei mit den Kursen und den Fonds und den Langzeitperspektiven, wo das
>Geld denn jetzt noch sicher wäre. Das ist ungefähr so höflich, wie wenn man einem Arzt am
>Bartresen die Zunge herausstreckt und ihn bittet, doch mal nachzusehen, ob die geschwollenen Dinger
>da hinten eine Mandelentzündung sein könnten. Doch wer Angst hat, schert sich nicht um Etikette.
>Seit letztem Herbst hat sich die Angst ganz langsam ausgebreitet. Erst kamen die Verunsicherungen.
>Die Kursstürze. Das Wahldebakel von Florida. Die Massenentlassungen. Dann prognostizierten die
>Analysten eine düstere Zukunft und die Massenmedien griffen das Thema auf. Das zeigt nun
>Wirkung. Selbst in den erlauchten Kreisen, in denen man sich auch in schlechten Zeiten keine Sorgen
>machen müsste, wird plötzlich heimlich gespart. In den New Yorker Edellokalen wie Bouley’s Bakery
>oder Balthazar, die sich noch letztes Jahr damit rühmten, jeden Tag bis zu 2000 Anfragen für eine
>Reservierung zu bekommen, kann man jetzt auch kurzfristig einen Tisch ergattern. In den
>Designerboutiquen auf der Fifth Avenue und am West Broadway verlieren sich die wenigen Kunden
>zwischen den minimalistischen Regalen. Beim Weinhändler kann man bei den teuren Flaschen schon
>mal handeln.
>Zugegeben, es sieht nicht gut aus für die amerikanische Wirtschaft - auch wenn das Platzen der
>Dotcomblase und der Niedergang der so genannten Neuen Märkte lediglich die längst überfällige
>Rückkehr zu Maß und Vernunft darstellen mögen. Das Unwort Rezession lauert als Menetekel in den
>Wirtschaftsteilen der Zeitungen und Magazine, die jede Woche neue Gräuelnachrichten verbreiten. Im
>März gingen schon wieder 86000 Arbeitsplätze verloren. Es könnte ein Jahrzehnt dauern, bis sich die
>Aktienmärkte wieder auf den Stand vom letzten Jahr erholen. Laut Umfrage des Gallup-Instituts
>haben immer weniger Amerikaner Vertrauen in die Wirtschaft ihres Landes. Selbst George W.Bush,
>von Amts wegen zu Optimismus verpflichtet, hat jetzt zugegeben, dass die Dinge nicht nur zum Guten
>stehen. Auf schlechte Nachrichten folgt eben schlechte Laune. Und die sollte man nicht
>unterschätzen.
>Teuflische Launenhaftigkeit
>Angesichts der Unkenrufe begab sich Finanzminister Paul O’Neill kürzlich in das Studio von CNN, um
>eifrig zu verkünden, dass von Rezession keine Rede sein könne. Aus gutem Grund. Keine Wirtschaft
>ist so anfällig für kollektive Launen wie die der USA, denn sie beruht laut New York Times zu zwei
>Dritteln auf einem Gemütszustand, der von den Wirtschaftsnachrichten inzwischen als legitimer
>Indikator für die finanzielle Lage der Nation angeführt wird: Consumer Confidence. Ein großartiger
>Begriff, der die Mischung aus Selbstbewusstsein und Gottvertrauen beschreibt, die ein gut gefülltes
>Bankkonto verleiht. Consumer Confidence sorgt dafür, dass Geld im Umlauf bleibt und die Wirtschaft
>am Leben. Doch der Teufelskreis der Self Fulfilling Prophecy hat sich schon geschlossen.
>Das wirkliche Problem der mangelnden Consumer Confidence sind aber nicht nur die mageren
>Wirtschaftsdaten, sondern eine Angstkultur, die sich über die letzten Jahre kontinuierlich
>weiterentwickelt hat. Ausgerechnet während der optimistischen Clintonjahre entdeckten die
>Massenmedien die Angst als Verkaufsargument. Irreale Bedrohungen werden immer häufiger zu
>allgemeinen Gefahren aufgebauscht: Exotische Krankheiten wie das Ebolafieber oder der
>West-Nile-Virus; Extremfälle wie amoklaufende Schulkinder und Rechtsradikale; Alltagsgefahren wie
>die unzähligen Viren und Bakterien, gegen die neue Reinigungsprodukte angepriesen werden; bisher
>unbekannte Zahnfleischerkrankungen oder Nervenleiden, für die Medikamente entwickelt wurden;
>Konstruktionsfehler, die Luxusgüter wie Geländewagen oder Klimaanlagen in Todesfallen
>verwandeln. Marktschreierisch kündigen die Nachrichtenmagazine der Fernsehsender ihre neuesten
>Entdeckungen an. Floskeln wie „ein Problem, das es öfter gibt, als Sie glauben“ oder „Sie könnten der
>Nächste sein“ sollen vertuschen, dass hier über Phänomene berichtet wird, die nur wenige betreffen.
>Wie weit diese Verzerrungen gehen, bewies eine Studie des Journalisten Bob Garfield, der ein Jahr
>lang die Berichterstattungen von Washington Post, New York Times und USA Today auswertete.
>Nachdem er sämtliche Krankheitsfälle von Migräne bis Krebs zusammengezählt hatte, kam er zu dem
>Ergebnis, dass 543 Millionen Amerikaner schwer erkrankt sein müssten. Nicht schlecht für ein Land
>mit 280 Millionen Einwohnern.
>Nun könnte man psychologische Massenphänomene ebenfalls als mediale Modeerscheinungen abtun.
>Da wurden in der so genannten Me Decade der siebziger Jahre die Neurosen entdeckt, die Zipperlein
>des zarten Egos. In den Achtzigern gab es das Chronic Fatigue Syndrome als Folge der
>arbeitswütigen Yuppiegesellschaft. Die zunehmende Vernetzung während der neunziger Jahre
>brachte die multiple Persönlichkeit und die verschüttete Erinnerung in die Diskussion. Und jetzt, an der
>vermeintlichen Schwelle zur großen Weltwirtschaftskrise, kommt eben die Angst. Ihre Extremform,
>die Phobie, wurde von Time Magazine vor kurzem mit einer Titelgeschichte zum nationalen Problem
>geadelt.
>Die Gesellschaft reagiert auf die psychologischen Massenphänomene meist mit Selbstmedikation, wie
>der Drogenkonsum im Jargon der Psychologie genannt wird. In den siebziger Jahren versuchte man
>sich vom Selbstbezug der Neurosen mit Psychedelika wie LSD zu befreien. Gegen die
>Ermüdungserscheinungen der Achtziger wurde Kokain eingesetzt. Die vermeintliche Klarheit des
>Ecstasy-Rausches sollte gegen die Verwirrungen der Neunziger helfen. Und heute vermelden die
>Medien eine epidemische Verbreitung des Schmerzmittelmissbrauchs.
>Das künstliche Opiat Hydrokodon, in Amerika gegen Rezept als Vicodin erhältlich, hat sich zum
>absoluten Kassenschlager der Pharmaindustrie entwickelt. Wie ein weicher Kokon aus Sicherheits-
>und Glücksgefühl umhüllt der sanfte Rausch das angstgeplagte Hirn. Fernseh- und Filmstar Matthew
>Perry musste wegen seiner Sucht schon eingeliefert werden. Die Schauspielerin Melanie Griffith führt
>im Internet Tagebuch über ihren Entzug. Der Rapper Eminem ließ sich eine Vicodin-Tablette auf
>seinen Arm tätowieren. Teenager schlucken die Pillen auf Parties und Konzerten. Und die
>Notaufnahmen der Krankenhäuser vermelden einen sprunghaften Anstieg der Überdosen durch
>Schmerzmittel.
>Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Amerikas, dass Angst eine Wirtschaftskrise beschleunigt.
>Auf dem Höhepunkt der Great Depression erkannte der neu gewählte Präsident Franklin D.Roosevelt
>1933 die Gefahr der kollektiven Panik: „Wir sollten vor nichts Angst haben, außer vor der Angst“,
>proklamierte er in seiner Antrittsrede. Er wusste, dass Reformprogramme allein nicht ausreichen
>würden, die verängstigte Bevölkerung zu beruhigen. Und so behandelte er das Land wie einen
>Patienten. Immer wieder versammelte sich die Nation vor den Radios, um seinen Fireside Chats zu
>lauschen, den tröstenden Worten eines Landesvaters, der seine Bürger an einen virtuellen Kamin bat,
>um sie von ihren Ängsten zu therapieren.
>Was Roosevelt instinktiv verstand, hat die New York University nun bewiesen. Anfang April haben
>die Wissenschaftler des neurologischen Instituts eine Forschungsarbeit vorgelegt, die nachweist, dass
>sich die Angst längst von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst hat. Waren Angst und Schmerz in
>Urzeiten Schutzmechanismen, um das Überleben in einer feindlichen Umwelt zu erlernen, so hat die
>Studie ergeben, dass im modernen Menschen auch Gefahren, die lediglich vermutet oder von Dritten
>kolportiert werden, jene Zentren des Gehirnes aktivieren, die einstmals nur auf direkte Erfahrungen
>reagierten. Wenn sich die virtuellen Ängste aber schon biologisch manifestieren, muss man sie auch
>ernstnehmen. Erst recht, wenn sie ganz realen Schaden anrichten. ANDRIAN KREYE
>Aus der Süddeutschen von heute.
>J.
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Cosa
24.04.2001, 00:12
@ Rumpelstilzchen
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die 0190-Nummer gefällt mir... |
Hallo Rumpel!
Die 0190-Nummer gefällt mir! Obwohl es ja nicht fair ist, mit m.E. realen Ängsten schludrig umzugehen, schlage ich allerdings vor, bloss keine konkreten Aussagen zu machen. Am besten Stereotypen benutzen, ist einfach, stabilisiert das Individuum wie die Gruppe. Diese Stereotypen werden gebetsmühlenartig wiederholt und so schnell verinnerlicht. Eine Gruppe, in diesem Fall von Aktienverlusten Frustrierte, wird auf gemeinsame Ziele eingeschworen. Und immer wieder fallen wie zufällig unsere Kontonummern ;-)
Mag mir gar nicht vorstellen, wenn da noch ein redegewandter, emotionalisierender Manipulator auftritt.
zum Wohl mit den besten Grüssen
Cosa
P.S. Hast Du gelesen:
>Nun könnte man psychologische Massenphänomene ebenfalls als mediale Modeerscheinungen abtun.<
Da habe ich mich innerlich doch von Canetti verabschiedet, der zwar den Machtaspekt aber die Massenkommunikation nicht gesehen hat, und dann das. Ein Anachronismus ohne gleichen. Aber hier folgt Glatteis, irgendwann mal mehr. Lese verschiedene Sachen dazu und schwanke mehr und mehr in meinen Ansichten.
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