Roland Leuschel
Droht ein neues Börsengewitter?
In meiner Kolumne von Ende März dieses Jahres (« Die Hartgesottenen in der Echternacher Springprozession ») habe ich empfohlen, den Cash-Anteil Ihres Portefeuilles zu reduzieren und « ausgewählte Qualitätsaktien im Technologiebereich zu sammeln ». Obwohl der von mir angepeilte Indexstand von 1.600 beim Nasdaq nicht ganz erreicht wurde (die Nasdaq-Baisse hielt Anfang April bei 1.638,80 an) empfahl ich damals Aktien wie Oracle ($ 13,50), Cisco ($ 15), STM Microelectronics ($ 42), Double Click ($ 10), Qiagen (Euro 20), sowie die Standardwerte IBM ($ 90) und Siemens (Euro 70). In meinem letzten Beitrag « Die Stagflation lässt grüssen » empfahl ich Ihnen, nicht zu zögern und Ihre Gewinne glattzustellen, denn die jetzige Erholung kann sich als temporär erweisen. Die Gewinne auf diese Werte liegen zwischen 25 und 50%. Schon allein aus diesem Grund rechtfertigt sich eine Gewinnmitnahme. Inzwischen hat sich die allgemeine Lage an den Börsen so verschlechtert, dass ich heute nochmals verstärkt auf das Mitnehmen von Gewinnen pochen muss. All diese Aktienkurse laufen Ihnen nicht weg, im Gegenteil in Perioden der Stagflation kann nur der Investor Erfolg haben, der den Mut hat, seine Aktien mit Portefeuille zu traden. Es stimmt zwar, Kostolany riet « Aktien zu kaufen und Schlaftabletten zu nehmen », aber er hat dabei vergessen zu sagen, dass so mancher nach den Schlaftabletten zwar einen tiefen Schlaf hatte, jedoch nach dem Aufwachen feststellen musste, dass er Pleite war.
Was veranlasst mich zu glauben, dass wir in den nächsten Jahren das Szenario einer Stagflation erleben? Einmal lehnen dieses Szenario die meisten Experten vehement ab. Zum anderen muss ich feststellen, dass das Szenario einer Stagflation mehr und mehr in den Medien behandelt wird. Vor allen Dingen in Amerika sprechen immer mehr Analysten von der nahenden Phase der Stagflation, also stagnierender Konjunktur mit relativ hohen Inflationsraten (4 bis 6%), eine Periode, die wir Ende der 60er und in den 70er Jahren hatten, und der sich dann eine kurze Periode der Hyperinflation anschloss. Anfang der 80er Jahre begann die amerikanische Notenbank mit einer massiv restriktiven Geldpolitik gegenzusteuern (Tagesgeld kostete bis zu 20%), und die neue Regierung unter Reagan begann mit einer spektakulären, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik.
Schauen Sie sich die Bundesrepublik an, es gibt praktisch keine Bundesbankpolitik mehr (der jetzige Bundesbankpräsident ist eher ein schwaches Abziehbild früherer Persönlichkeiten), und die EZB hat sich zwar das Ziel gesetzt, die Inflationsrate nicht über 2% im Euroland steigen zu lassen, aber im April dieses Jahres stieg die Inflationsrate in der Bundesrepublik auf stolze 3,5%. Der Euro hat seit Jahresbeginn rund 10% gegenüber dem Dollar verloren, und Politiker weisen darauf hin, dass ein schwacher Euro gut für unsere Exportwirtschaft sei. Ist es nicht verwunderlich festzustellen, wie leicht und problemlos die Arbeitnehmer sich heutzutage über den Tisch ziehen lassen? Da stimmen die Gewerkschaften des privaten Bankgewerbes einem Vertrag zu, der den Angestellten vom 1. Mai an eine Gehaltserhöhung von lächerlichen 2,8% zugesteht. Ein Vertrag der übrigens 13 Monate laufen soll, das heisst also, die nominale Erhöhung für ein Jahr ist 2,6%. Praktisch am selben Tag wird veröffentlicht, dass die Inflationsrate inzwischen 3,5% beträgt, und somit ist die reale Gehaltsabnahme mindestens -1%, und die Arbeitgeber scheuen sich nicht, zu behaupten, sie wären mit dieser Gehaltsverringerung « an die Grenzen des Vertretbaren » gegangen. Ich kann mich darüber nur wundern und befürchten, dass in nicht allzulanger Zeit die Reaktion heftig sein wird.
Greenspan und viele seiner Jünger haben immer wieder behauptet, dass der jetzige Konjunktureinbruch eine V-Form hat, das heisst, dass auch der Wiederanstieg auch sehr rasch und steil stattfinden wird. Ich halte dies für Wunschdenken. Natürlich wird Greenspan und in seinem Fahrwasser die EZB die kurzfristigen Zinsen weiterhin kräftig senken, aber sie werden alle erfahren, dass, wie übrigens am Beispiel von Japan abzulesen ist, in gewissen Phasen Zinssenkungen kein Allheilmittel sind. In einem bemerkenswerten Artikel in der FAZ vom Montag den 28. Mai « Der Bulle tanzt blind auf den Klippen der Goldilock-Ã-konomie » schreibt der Verfasser Hanno Beck: « Aus der Goldilock-Ã-konomie wird eine Wirtschaft, in der dann möglicherweise auch Zinssenkungen ihre gewohnte Wirkung verlieren. Weder Konsum noch Investitionen lassen sich nun durch Zinssenkungen in Gang bringen: Im schlimmsten Fall droht Stagflation ». Bereiten Sie sich seelisch darauf vor. Übrigens auch Greenspan (der Hohepriester des Geldes) scheint lernfähig zu sein. Er stellte in der vergangenen Woche in einer Rede in New York die rhetorische Frage: « Do we have the capability to eliminate booms and busts? The answer, in my judgment is no, because there is no tool to change human nature or to predict human behaviour with great confidence. » Wie wohltuend wirkt diese Aussage, wenn man daran denkt, dass vor ein paar Monaten der MIT Professor Rüdiger Irving Dornbusch sagte: « Die Angst vor einer Rezession ist typisch europäisch, aber unbegründet. Streichen Sie deshalb das Wort Rezession aus Ihrem Sprachschatz, es wird sie in den USA nicht mehr geben. Die US-Wirtschaft strotzt vor Kraft. »
Roland Leuschel
31.05.2001
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