Fontvieille
20.06.2001, 19:28 |
@dottore: MittelalterThread gesperrt |
Hallo dottore,
Sie sind doch Spezialist für die ganz großen Zusammenhänge. Die augenblickliche Kreditblase, da stimmen Sie doch wohl zu, hat durchaus"historische" Dimensionen. Damit dann aber auch das"Platzen" selbiger. Das wird ein Festmahl für alle künftigen Historiker (davon werden noch ganze Familienclans ihr Auskommen finden).
Worauf ich hinauswill: es gibt augenscheinlich gewisse Konstante in der Geschichte, die sich in rhytmischen Intervallen wiederholen. Ganz grob gesprochen z.B. sittenstrengere Zeiten und sittenlosere Zeiten, Zeiten des Aufschuldens und Zeiten der Sparsamkeit, ästhetisch üppige Zeiten und ästhetisch strenge bis karge Zeiten, Zeiten der Jenseitsbetonung und Zeiten der Weltlichkeit, tolerante und fanatische Zeiten, usw, usw, usw...
Wenn wir vor einer wirtschaftshistorisch bedeutsamen Wende stehen, da frage ich mich, ob wir nicht auch gleichzeitig in anderen Lebensbereichen vor grundsätzlichen Wenden stehen. Da gewisse grundsätzliche Dinge sich augenscheinlich wiederholen, ist der Blick in den Rückspiegel manchmal ein Blick nach vorne. Deshalb meine Frage: was halten Sie von der Vorstellung, daß wir wieder einige der grundsätzlichen Zustände bekommen, die im sogenannten"Mittelalter" herrschten. Damit meine ich nicht die Rückkehr zu Strohmatratzen, faulen Zähnen, Seuchen, Eselskarren (Pferde hatten wohl nur die Reichen), manueller Landwirtschaft etc. Sondern, auf einer höheren Ebene, eine moderne Variante der damals herrschenden Grundprinzipien. Also das genaue Gegenteil unserer augenblicklichen Welt: Vernachlässigung der körperlichen Existenz zugunsten des Jenseitigen, Spirituellen; völlige Regionalisierung der politischen Machtstrukturen mit Zerfall aller Zentralgewalt; Ersatz politischer Vorstellungen durch religiöse; unzählige Regional-Kriege anstelle von Großmacht-Kriegen; usw.... (Die Liste können Sie sicher besser vervollständigen als ich).
Sie kennen doch das Mittelalter ganz gut. Was halten Sie von dieser Vorstellung? Aber, bitte, gehen Sie nicht in unzählige historische Details, die werden sich ganz bestimmt nicht 1:1 wiederholen. Die Grundstimmung schon, auf einer moderneren Plattform. Wenn Dinge zyklisch sind und sich wiederholen, dann würde ich das"Mittelalter" als die unserem augenblicklichen Leben entfernteste Grundlebenshaltung ansehen, und deshalb genau dort nach Antworten für die Zukunft suchen.
Gruß, F.
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André
20.06.2001, 20:00
@ Fontvieille
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Re: Mittelalter - Die große Schaukel |
Hallo F., bin zwar nicht unmittelbar angesprochen.
Sicher, m.E. grundsätzlich ist dem so.
Die Gesellschaft pendelt wie in der Pädagogik zwischen den Methoden-Extremen und den Didaktik-Extremen.
Oder zwischen strenger und lockerer Moral/Ethik. Immer nur anders, selten besser! Aber diesen Umschwung gab es auch bereits im sog. Mittelalter (Badestuben für Männlein und Weiblein gemeinsam gabs da zeitweise auch) wurden aber später dank der aus Südamerika importierten span. Krankheit, die dann zur engl. Krankheit wurde, allesamt geschlossen. Sittenstrenge kam auf! Das Pendel schwingt immer!
Die staatl. Entwicklung hat v. Creveld in"Aufgang u. Untergang des Staates" skizziert. Und atrol. kommt ja noch Pluto in Konjunktion mit dem galaktischen Zentrum (Zentrum unserer Milchstraße), was mit großen Umwälzungen verbunden sein wird. Wie die im einzelnen aussehen mögen, ist natürlich viel Raum für science fiction gegeben, woran man sich wirklich nicht beteiligen braucht.
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JüKü
20.06.2001, 20:29
@ Fontvieille
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Re: @dottore: Mittelalter |
>Hallo dottore,
>Sie sind doch Spezialist für die ganz großen Zusammenhänge. Die augenblickliche Kreditblase, da stimmen Sie doch wohl zu, hat durchaus"historische" Dimensionen. Damit dann aber auch das"Platzen" selbiger. Das wird ein Festmahl für alle künftigen Historiker (davon werden noch ganze Familienclans ihr Auskommen finden).
>Worauf ich hinauswill: es gibt augenscheinlich gewisse Konstante in der Geschichte, die sich in rhytmischen Intervallen wiederholen. Ganz grob gesprochen z.B. sittenstrengere Zeiten und sittenlosere Zeiten, Zeiten des Aufschuldens und Zeiten der Sparsamkeit, ästhetisch üppige Zeiten und ästhetisch strenge bis karge Zeiten, Zeiten der Jenseitsbetonung und Zeiten der Weltlichkeit, tolerante und fanatische Zeiten, usw, usw, usw...
>Wenn wir vor einer wirtschaftshistorisch bedeutsamen Wende stehen, da frage ich mich, ob wir nicht auch gleichzeitig in anderen Lebensbereichen vor grundsätzlichen Wenden stehen. Da gewisse grundsätzliche Dinge sich augenscheinlich wiederholen, ist der Blick in den Rückspiegel manchmal ein Blick nach vorne. Deshalb meine Frage: was halten Sie von der Vorstellung, daß wir wieder einige der grundsätzlichen Zustände bekommen, die im sogenannten"Mittelalter" herrschten. Damit meine ich nicht die Rückkehr zu Strohmatratzen, faulen Zähnen, Seuchen, Eselskarren (Pferde hatten wohl nur die Reichen), manueller Landwirtschaft etc. Sondern, auf einer höheren Ebene, eine moderne Variante der damals herrschenden Grundprinzipien. Also das genaue Gegenteil unserer augenblicklichen Welt: Vernachlässigung der körperlichen Existenz zugunsten des Jenseitigen, Spirituellen; völlige Regionalisierung der politischen Machtstrukturen mit Zerfall aller Zentralgewalt; Ersatz politischer Vorstellungen durch religiöse; unzählige Regional-Kriege anstelle von Großmacht-Kriegen; usw.... (Die Liste können Sie sicher besser vervollständigen als ich).
>Sie kennen doch das Mittelalter ganz gut. Was halten Sie von dieser Vorstellung? Aber, bitte, gehen Sie nicht in unzählige historische Details, die werden sich ganz bestimmt nicht 1:1 wiederholen. Die Grundstimmung schon, auf einer moderneren Plattform. Wenn Dinge zyklisch sind und sich wiederholen, dann würde ich das"Mittelalter" als die unserem augenblicklichen Leben entfernteste Grundlebenshaltung ansehen, und deshalb genau dort nach Antworten für die Zukunft suchen.
>Gruß, F.
Das ist so ziemlich das, was ich seit Monaten, nein, seit 2 Jahren, etwas platt audrücke mit"Weg vom Materiellen, hin zu ideellen Werten".
Ich glaube, die Entwicklung geht da hin, wenn es auch Jahre und Jahrzehnte dauern wird. Letztlich aber eine Fortentwicklung.
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YIHI
20.06.2001, 20:32
@ JüKü
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Re: @dottore: Mittelalter |
>Das ist so ziemlich das, was ich seit Monaten, nein, seit 2 Jahren, etwas platt audrücke mit"Weg vom Materiellen, hin zu ideellen Werten".
>Ich glaube, die Entwicklung geht da hin, wenn es auch Jahre und Jahrzehnte dauern wird. Letztlich aber eine Fortentwicklung.
Was meinst Du denn damit? Glaube, in den 60ern gab's schon mal irgendwo so ne strömung...
Idealismus ist die Verleumdung unseres Seins.
Gruss
Daniel
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Josef
20.06.2001, 20:37
@ YIHI
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@Yihi:"Idealismus ist die Verleumdung unseres Seins" Wo kommt denn das her?? |
Da musst du erst mal den Begriff"Idealismus" definieren. Jeder versteht
naemlich was anderes darunter.
MfG
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dottore
20.06.2001, 20:59
@ André
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Re: Die ganze Geschichte - eine große Schaukel. Ja, und Buch-Tipp: |
Du hast natürlich Recht.
>Die Gesellschaft pendelt wie in der Pädagogik zwischen den Methoden-Extremen und den Didaktik-Extremen.
Sehr lesenwert dazu: Will und Ariel Durant: Die Lehren der Geschichte, Bern/München, 1968/69). Vielleicht noch antiquarisch zu erwerben.
>Oder zwischen strenger und lockerer Moral/Ethik. Immer nur anders, selten besser! Aber diesen Umschwung gab es auch bereits im sog. Mittelalter (Badestuben für Männlein und Weiblein gemeinsam gabs da zeitweise auch) wurden aber später dank der aus Südamerika importierten span. Krankheit, die dann zur engl. Krankheit wurde, allesamt geschlossen. Sittenstrenge kam auf! Das Pendel schwingt immer!
Ja, das genau ist der Inhalt des Buches.
>Die staatl. Entwicklung hat v. Creveld
ABSOLUTE PFLICHTLEKTÃœRE!
>in"Aufgang u. Untergang des Staates" skizziert. Und atrol. kommt ja noch Pluto in Konjunktion mit dem galaktischen Zentrum (Zentrum unserer Milchstraße), was mit großen Umwälzungen verbunden sein wird. Wie die im einzelnen aussehen mögen, ist natürlich viel Raum für science fiction gegeben, woran man sich wirklich nicht beteiligen zu braucht.
Mag sein, dass derlei eine Rolle spielt; ich habe mich bisher zu wenig damit beschäftigt.
Gruß
d.
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dottore
20.06.2001, 21:16
@ Fontvieille
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Re: @dottore: Mittelalter |
Lieber Fontvieille,
Das ist hartes Brot. Ich versuche, einige Gedankensplitter rein zu werfen:
>Hallo dottore,
>Sie sind doch Spezialist für die ganz großen Zusammenhänge. Die augenblickliche Kreditblase, da stimmen Sie doch wohl zu, hat durchaus"historische" Dimensionen.
Ja, ohne jede Frage.
>Damit dann aber auch das"Platzen" selbiger. Das wird ein Festmahl für alle künftigen Historiker (davon werden noch ganze Familienclans ihr Auskommen finden).
Wenn es denn dann noch so etwas wie eine"academitas" auf Staates Kosten geben wird.
>Worauf ich hinauswill: es gibt augenscheinlich gewisse Konstante in der Geschichte, die sich in rhytmischen Intervallen wiederholen.
Richtig. Ich habe nie etwas anderes gefunden.
>Ganz grob gesprochen z.B. sittenstrengere Zeiten und sittenlosere Zeiten,
Ja, schon bei Moses das plötzliche Kippen ("Goldenes Kalb"-Geschichte...)
>Zeiten des Aufschuldens und Zeiten der Sparsamkeit,
Siehe Sueton, Geschichte der Cäsaren: Immer wechselten Verschwender mit Sparern. Augustus-Tiberius / Caligula-Claudius / Nero-Vespasian, usw.
>ästhetisch üppige Zeiten und ästhetisch strenge bis karge Zeiten, Zeiten der Jenseitsbetonung und Zeiten der Weltlichkeit, tolerante und fanatische Zeiten, usw, usw, usw...
Ganz genau so sehe ich es auch!
>Wenn wir vor einer wirtschaftshistorisch bedeutsamen Wende stehen, da frage ich ich, ob wir nicht auch gleichzeitig in anderen Lebensbereichen vor grundsätzlichen Wenden stehen. Da gewisse grundsätzliche Dinge sich augenscheinlich wiederholen, ist der Blick in den Rückspiegel manchmal ein Blick nach vorne.
Sehr, sehr gute Metapher!
>Deshalb meine Frage: was halten Sie von der Vorstellung, daß wir wieder einige der grundsätzlichen Zustände bekommen, die im sogenannten"Mittelalter" herrschten. Damit meine ich nicht die Rückkehr zu Strohmatratzen, faulen Zähnen, Seuchen, Eselskarren (Pferde hatten wohl nur die Reichen), manueller Landwirtschaft etc. Sondern, auf einer höheren Ebene, eine moderne Variante der damals herrschenden Grundprinzipien.
Ja, dieser Meinung bin ich auch (ohne jetzt eine MA-Debatte as such zu beginnen...)
>Also das genaue Gegenteil unserer augenblicklichen Welt: Vernachlässigung der körperlichen Existenz zugunsten des Jenseitigen, Spirituellen; völlige Regionalisierung der politischen Machtstrukturen mit Zerfall aller Zentralgewalt; Ersatz politischer Vorstellungen durch religiöse; unzählige Regional-Kriege anstelle von Großmacht-Kriegen; usw.... (Die Liste können Sie sicher besser vervollständigen als ich).
Die Liste ist beeindruckend genug. Und ich finde es müßig, sie anzustückeln, weil es ganz genau darum geht.
>Sie kennen doch das Mittelalter ganz gut. Was halten Sie von dieser Vorstellung? Aber, bitte, gehen Sie nicht in unzählige historische Details, die werden sich ganz bestimmt nicht 1:1 wiederholen.
Wir werden im Laufe des Forums noch auf die eine oder ander Parallele zurück kommen (siehe jüngst erst die Debatte um den Konkurs der Florentiner Banken im 13./14. Jh.), aber 1:1 bleibt immer nur das (dummerweise) gleiche: Die Tatsache, dass es Kredite und ergo Schulden gegeben hat - egal in welchem Wams sie jemand unterzeichnete und wann und wo es war.
>Die Grundstimmung schon, auf einer moderneren Plattform. Wenn Dinge zyklisch sind und sich wiederholen, dann würde ich das"Mittelalter" als die unserem augenblicklichen Leben entfernteste Grundlebenshaltung ansehen, und deshalb genau dort nach Antworten für die Zukunft suchen.
Perfekt! Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Wir werden erheblich mehr aus dem MA lernen (in puncto: Wie geht's denn nun weiter?) als aus den sattsam abgerasten Weiden der Antike.
Gruß
d.
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YIHI
20.06.2001, 21:58
@ Josef
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Re: @Yihi:"Idealismus ist die Verleumdung unseres Seins" Wo kommt denn das her?? |
Meine Definition deckt sich eigentlich relativ gut mit der allgemeinen Definition, die Du in jedem Lexikon findest.
Es geht mir nicht um den theoretischen Idealismus, es geht mir um jene praktische Existenzform. Auf jeden Fall beinhaltet jede mir bekannte Anwendung persönliche Beschränkungen und Einschnitte. Das widerstrebt mir.
Kurz meine Meinung.
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YIHI
20.06.2001, 21:59
@ dottore
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nana, kein einziges Buch von Dir??? owT |
>
>Du hast natürlich Recht.
>>Die Gesellschaft pendelt wie in der Pädagogik zwischen den Methoden-Extremen und den Didaktik-Extremen.
>Sehr lesenwert dazu: Will und Ariel Durant: Die Lehren der Geschichte, Bern/München, 1968/69). Vielleicht noch antiquarisch zu erwerben.
>>Oder zwischen strenger und lockerer Moral/Ethik. Immer nur anders, selten besser! Aber diesen Umschwung gab es auch bereits im sog. Mittelalter (Badestuben für Männlein und Weiblein gemeinsam gabs da zeitweise auch) wurden aber später dank der aus Südamerika importierten span. Krankheit, die dann zur engl. Krankheit wurde, allesamt geschlossen. Sittenstrenge kam auf! Das Pendel schwingt immer!
>Ja, das genau ist der Inhalt des Buches.
>>Die staatl. Entwicklung hat v. Creveld
>ABSOLUTE PFLICHTLEKTÃœRE!
>>in"Aufgang u. Untergang des Staates" skizziert. Und atrol. kommt ja noch Pluto in Konjunktion mit dem galaktischen Zentrum (Zentrum unserer Milchstraße), was mit großen Umwälzungen verbunden sein wird. Wie die im einzelnen aussehen mögen, ist natürlich viel Raum für science fiction gegeben, woran man sich wirklich nicht beteiligen zu braucht.
>Mag sein, dass derlei eine Rolle spielt; ich habe mich bisher zu wenig damit beschäftigt.
>Gruß
>d.
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drooy
20.06.2001, 22:36
@ JüKü
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Re: @dottore: Mittelalter,hier re jükü"Geist statt Materie" Buchtip |
Für Interessierte eines der besten Konzentrate (inhaltlich, ansonsten kreiden manche dem Autor Kommerzialität an)
Tepperwein: Die geistigen Gesetze ISBN 3-442-12160-4
Mit herzlichen Grüssen
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Fontvieille
20.06.2001, 23:02
@ YIHI
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Re: @dottore: Mittelalter |
>Idealismus ist die Verleumdung unseres Seins.<
Bezüglich Realitätsfernem Idealismus gebe ich Dir absolut recht. Aber das Leben besteht nicht nur aus der materiellen Ebene, das kannst Du bei Dir selber, Deinen Bedürfnissen und den Ereignissen Deines Lebens beobachten. Leider ist es so, daß die verschiedenen Ebenen des Daseins, die materielle, gefühlsmässige und die religiöse/jenseitige (im Christentum Leib, Seele und Geist genannt, aber auch in anderen Religionen so zu finden) immer nur getrennt voneinander im Mittelpunkt des Interesses stehen. Eine Betrachtung, die nur das"Ideelle" sieht, fände ich genause einseitig und damit falsch wie unsere heutige, die nur die"materielle" Ebene sieht (und dabei ihre eigenen"jenseitigen" Heilsvorstellungen der Schaffung des Paradieses auf Pump übersieht).
Es ist nur das Beobachten, das mich annehmen läßt, daß nach unserer Epoche wieder eine Zeit übertriebener Jenseitigkeit anbrechen wird. Es ist dies keine Wertung, denn dann werden auch wieder falsche Propheten, verlogene Verbiegung der materiellen Realitäten (Zinsverbot, Verteufelung des Materialismus, Zwangs-Altruismus etc) und anderes um sich greifen - wie gehabt. Trotzdem ist die Alternative dazu nicht unsere heutige, ebenso einseitige Zeit.
Gruß, F.
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Fontvieille
20.06.2001, 23:25
@ dottore
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Re: @dottore: Mittelalter |
>Lieber Fontvieille,
>Das ist hartes Brot. <
Nein, lieber dottore, das ist es nicht. Sie haben so viele Jahrzehnte sich mit den Details der historia humanitas beschäftigt, daß Sie die wesentlichen Dinge im Kopf haben. Hier geht es ums"Eindampfen" und aufs Wesentliche reduzieren - und auch das hat Sie das Schicksal lang genug üben lassen. Wenn Sie die Bausteine ihrer bisherigen Erfahrung zusammenfügen, müssten Sie diesen Dingen recht schnell und einfach nahe kommen.
>Wenn es denn dann noch so etwas wie eine"academitas" auf Staates Kosten geben wird.<
Selbstverständlich: niemals hat sich der Mensch mit Wasser und Brot alleine begnügt, außerdem benötigt er geistige Landkarten (habe ich von Ihnen selber hier irgendwo gelesen).
>(ohne jetzt eine MA-Debatte as such zu beginnen...)<
Da werden wir aber nicht drumherum kommen - oder sollen wir hier im Forum und jeder für sich alleine tagtäglich in den Zeitungen die Kleinst-Etappen des Zerfalls unserer augenblicklichen Geld-Wirtschafts-Staats-Welt-Ordnung lesen und diskutieren, ohne uns mit den größeren Zusammenhängen und dem davor und danach zu beschäftigen? Also: nicht drücken!
>aber 1:1 bleibt immer nur das (dummerweise) gleiche: Die Tatsache, dass es Kredite und ergo Schulden gegeben hat - egal in welchem Wams sie jemand unterzeichnete und wann und wo es war.
Ausnahmsweise meinte ich diesmal was anderes: die physischen Lebensumstände und das entsprechend beschränkte Welt- und Selbstbild der Menschen damals. Das wird natürlich (hoffentlich und zum Glück) nicht wieder 1:1 zurückkommen. Das Leben besteht nicht nur aus Schuld und Tilgung ;-)
>Perfekt! Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Wir werden erheblich mehr aus dem MA lernen (in puncto: Wie geht's denn nun weiter?) als aus den sattsam abgerasten Weiden der Antike.<
Genau deshalb, weil unsere Zeit mit der Renaissance = Wiedergeburt der Antike begann, aber wem erzähle ich das. Wir sind wohl in der Endphase einer der Antike wesensverwandten Epoche und nähern uns einer dem"Mittelalter" näherstehenden Epoche (direkte Wiederholungen wird es, hoffe ich, nicht geben). Nochmal: An der MA-Debatte"as such" werden wir nicht drumherum kommen.
Gruß, F.
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Fontvieille
20.06.2001, 23:35
@ JüKü
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Re: @dottore: Mittelalter |
>Das ist so ziemlich das, was ich seit Monaten, nein, seit 2 Jahren, etwas platt audrücke mit"Weg vom Materiellen, hin zu ideellen Werten".
>Ich glaube, die Entwicklung geht da hin, wenn es auch Jahre und Jahrzehnte dauern wird. Letztlich aber eine Fortentwicklung. <
Das"Weg vom Materiellen" sehe ich zum Teil mit einem weinenden Auge, weil es so häufig mißbraucht wird, um sich aus den unangenehmen ("debitistischen") Zwängen dieser Erde herauszustehlen. Es öffnet so häufig die Türe zu Lüge und Selbstbetrug ("ich bin ja kein so schlimmer Materialist wie diese anderen, die mir nicht mal mein Gehalt angemessen erhöhen und die Subvention überweisen wollen"). Dieser"Schein-Idealismus" hat ja unter dem Pseudonym"Sozial" die Geldpolitische Büchse der Pandora erst so richtig aufgemacht. Das traurige ist, daß die schlimmsten Dinge auf der Erde immer unter dem Deckmantel des"Guten" oder"Idealistischen" geschehen - anders wären Sie nicht zu verkaufen und wohl auch nicht durchzusetzen.
Nach diesem"disclaimer": natürlich sind auch mir ideelle Werte lieber und ich glaube, sie sind erheblich dauerhafter und tragfähiger, als alles andere.
Gruß, F.
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dottore
21.06.2001, 11:51
@ Fontvieille
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Re: @dottore: Mittelalter |
>>Lieber Fontvieille,
>>Das ist hartes Brot. <
>Nein, lieber dottore, das ist es nicht. Sie haben so viele Jahrzehnte sich mit den Details der historia humanitas beschäftigt, daß Sie die wesentlichen Dinge im Kopf haben. Hier geht es ums"Eindampfen" und aufs Wesentliche reduzieren - und auch das hat Sie das Schicksal lang genug üben lassen. Wenn Sie die Bausteine ihrer bisherigen Erfahrung zusammenfügen, müssten Sie diesen Dingen recht schnell und einfach nahe kommen.
Also was soll konkret diskutiert werden?
1. Ende der Antike im Westen (Demandt schreibt, dass bisher ca. 270 Gründe für den Untergang Roms genannt wurde).
2. Fortsetzung der Antike im Osten (warum konnte sich Byzanz so lange halten und warum ging es dann doch unter).
3. Völkerwanderung (höchst dürftige Quellenlage).
4. Langobarden, Hunnen (rätselhafter Doppelauftritt), Normannen (dito).
5. Beginn, Aufstieg und Ausbreitung des Christentums. Woher kam die"Christianisierung"?
6."Karolingerzeit" - m.M. nach komplett fiktiv. Zu welchem Zweck aber wurde sie"erfunden"?
7. Kirche contra Kaiser (vor und nach dem Wormser Edikt)
8. Kreuzzüge - ein religiöses oder monetäres Phänomen?
9. Ursachen und Durchführung des Sakralbaus (dazu auch die"Brakteaten"-Debatte)
10."Herbst des Mittelalters" (Huizinga)
11. Ursprünge und Anfänge der Renaissance (die Florentiner Bibliotheken von Niccoli und der Medici; Literatur - Dante, Petrarca - und Einfluss der"Religion" auf den Alltag)
12. Gab es überhaupt ein Lehenswesen? (die Contra-Thesen von Susan Reynolds)
13. Die Lage der Landwirtschaft und bäuerlichen Bevölkerung. Welche Rolle spelte die Einführung der Dreifelder-Wirtschaft?
14. Warum wurden in den bekannten Wellen Städte gegründet?
15."Land und Herrschaft" (die genialen Thesen Brunners)
16. Was wurde aus der Antike tradiert (Rechtsystem bis Literatur)
17. Die Entstehung des modernen Staates (v. Creveld)
18. Das Phänomen der Klöster, der"toten Hand", die Eigentumsentstehung (aus Voreigentum) und Umverteilung.
Notfalls mehr. Aber alles übergreifend geht nicht. Sonst muss auf die bekannten MA-Forscher verwiesen werden, die sich (Pirenne, Borst, Fuhrmann, die Schule der"Annales", Kantorowicz, Toynbee, Runciman, u.v.a.m.)
Ich bitte zu beachten, dass das Phänomen"Mittelalter" erst eine ziemlich späte historische Konstruktion gewesen ist.
>>Wenn es denn dann noch so etwas wie eine"academitas" auf Staates Kosten geben wird.<
>Selbstverständlich: niemals hat sich der Mensch mit Wasser und Brot alleine begnügt, außerdem benötigt er geistige Landkarten (habe ich von Ihnen selber hier irgendwo gelesen).
Die Akademie bzw. Universitäten gabs in vier Schüben: Platon, Bologna, 15./16. Jh., 19. Jh. (Humboldt). Und immer kamen Phasen großen Niedergangs. Das hat nichts mit Brot und Wasser allein zu tun, sondern damit, was die Institutionen wollten. Mal salopp: Platon = reines, schweifendes Denken, dazu aber auch Versuche, das reale Leben zu beeinflussen; Bologna = Durchsetzung eines Rechts, das als weltlich bzw. kanonisch jeweils den betreffenden Bereichen zu Diensten sein sollte. Reformation: cuius regio eius religio (neben anderem); 19. Jh. zur Staatsapotheose.
>>(ohne jetzt eine MA-Debatte as such zu beginnen...)<
>Da werden wir aber nicht drumherum kommen - oder sollen wir hier im Forum und jeder für sich alleine tagtäglich in den Zeitungen die Kleinst-Etappen des Zerfalls unserer augenblicklichen Geld-Wirtschafts-Staats-Welt-Ordnung lesen und diskutieren, ohne uns mit den größeren Zusammenhängen und dem davor und danach zu beschäftigen? Also: nicht drücken!
Zerfall? Dann müssten wir wohl eher in der Antike beginnen. Warum gingen die Demokratien in Italien und Griechenland unter, usw. Oder ausgesuchte Beispiel des MA (Florenz, Genua, andere Stadtrepubliken, das Elend Burgunds als"Zwischenreich", Hanse, Venedig, also Expansion un Kontraktion - riesige Felder wären zu bestreichen).
Ich habe keine"Theorie" der Geschichte als solche. Ich kann nur versuchen, größere Trends ökonomisch zu interpretieren, aber mit dem einfachen"Aufstieg und Fall" geht's nicht. Gibbon hat bzgl. Byzanz mehr als ein Dutzend Bände abgeliefert.
>>aber 1:1 bleibt immer nur das (dummerweise) gleiche: Die Tatsache, dass es Kredite und ergo Schulden gegeben hat - egal in welchem Wams sie jemand unterzeichnete und wann und wo es war.
>Ausnahmsweise meinte ich diesmal was anderes: die physischen Lebensumstände
Die lassen sich für konkrete (späte!) Perioden in etwa belegen (die Forschung von Abel z.B. für die Landwirtschaft; frühe Kaufmannsstatistiken, z.B. Zolllisten; die ersten Preisreihen, von Fischer sehr gut aufbereitet; es gibt ein gutes Buch über das"Leben um 1000" unterlegt mit Urkunden aus Frankreich (Einzugsbereich von Cluny), die Grundbesitzlisten von Fulda (Codex Eberhardi), vermutlich 12. Jh., vieles für die frühe Zeit ist pure guessing. Die Edition der"Germania Sacra" kommt nicht so richtig voran. Venedig, das ich selbst für die frühe Zeit untersucht hatte (Staatsarchiv ingesamt ca. 70 laufende km Akten!) war nicht erhellend.
Die Statistik ist ein Kind des Merkantilismus / Kameralismus und ist vor dem 17. Jh. fast nicht zu gebrauchen.
>und das entsprechend beschränkte Welt- und Selbstbild der Menschen damals.
Definitionsfrage. Was heißt"beschränkt"? Wie soll das gemessen werden. Das Weltbild - siehe Kopernikus. Das Selbstbild - es gibt nur wenige"Biographien", meist posthum (Ludwig d. Hl.). So richtig in sich hinein hat der Mensch wohl erst ab dem 19. Jh. gehorcht.
>Das wird natürlich (hoffentlich und zum Glück) nicht wieder 1:1 zurückkommen. Das Leben besteht nicht nur aus Schuld und Tilgung ;-)
Nein. Aber welches Leben sollte dann konkret herausgegriffen werden. Man weiß zu wenig, die Geschichte der frühen Malerei (der Buchillumination erst Recht) ist ziemlich vage, vgl. Stundenbuch des Duc de Berry.
>>Perfekt! Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Wir werden erheblich mehr aus dem MA lernen (in puncto: Wie geht's denn nun weiter?) als aus den sattsam abgerasten Weiden der Antike.<
>Genau deshalb, weil unsere Zeit mit der Renaissance = Wiedergeburt der Antike begann, aber wem erzähle ich das. Wir sind wohl in der Endphase einer der Antike wesensverwandten Epoche und nähern uns einer dem"Mittelalter" näherstehenden Epoche (direkte Wiederholungen wird es, hoffe ich, nicht geben). Nochmal: An der MA-Debatte"as such" werden wir nicht drumherum kommen.
Das ist dann keine MA-Debatte, sondern eine"Endphasen"-Debatte. Allein für Rom (siehe noch mal Demandt) fast endlos. Danach ist aber ein LOCH. Die Quellenlage (Urkunden, Münzen, Architektur, usw.) ist konfus und karg. Selbst Gibbon kommt für Byzanz zwischen ca. 450 und 800 mit jammervollen ca. 40 Seiten aus. Daraus lässt sich wenig melken. Viel mehr als"Herrscher"-Folgen und die üblichen Kloppereien seh ich nicht. Es gibt eine gute Monographie von Hendy über Byzanz vor ca. 1000, aber sie schreibt mehr fort bzw. intrapoliert mit Hilfe von Daten ex post nach hinten.
Also was tun? Wir haben es mit (traditionell gerechnet) mehr als 1000 Jahren zu tun.
Gruß
d.
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