YIHI
23.06.2001, 19:35 |
PLEASE HELP! Kennt jemand brauchbare Infos zur..Thread gesperrt |
sowietischen Wirtschaftspolitik / sowietischen Wirtschaftsdaten zwischen 1917 und grob 1960 (oder sogar 1990)???
Links, Texte, etc..
[NEP, etc]
Gruss
Daniel
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<HR>
</center> |
Baldur der Ketzer
23.06.2001, 19:46
@ YIHI
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Re: PLEASE HELP! Kennt jemand brauchbare Infos zur.. |
>sowietischen Wirtschaftspolitik / sowietischen Wirtschaftsdaten zwischen 1917 und grob 1960 (oder sogar 1990)???
>Links, Texte, etc..
>[NEP, etc]
>Gruss
>Daniel
Hallo, hab ich zwar leider nicht, aber vielleicht weiß man hier was:
beste Grüße vom Baldur
<ul> ~ hier</ul>
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<HR>
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Cosa
23.06.2001, 22:39
@ YIHI
|
Da könnte was dabei sein.... |
>sowietischen Wirtschaftspolitik / sowietischen Wirtschaftsdaten zwischen 1917 und grob 1960 (oder sogar 1990)???
>Links, Texte, etc..
>[NEP, etc]
>Gruss
>Daniel
--------------------
Hi Daniel!
Hier ein paar Ausgangspunkte:
~ http://www.cbr.ru/eng/statistics/credit_statistics/
~ http://www.fipc.ru/fipc/
hier findet man Links zu allen möglichen Ländern:
~ von Aland bis Zambia
na, und Russland kriegt ja Kredite der Weltbank und wird so von diesen Datenmässig"verfolgt", also auch hier schauen:
~ http://www.worldbank.org/data/
So, für ein paar Stunden dürftest Du jetzt beschäftigt sein ;-)
Es wäre nett, wenn Du interessante Links, die Du findest, ins Linkforum stellst.
schöne Grüsse
Cosa
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</center> |
Galiani
24.06.2001, 03:49
@ YIHI
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Re: Mein Aufsatz in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG (4./5.IV.'92) könnte helfen.... |
Erschienen unter der Rubrik ZEITFRAGEN
in der NEUEN ZÃœRCHER ZEITUNG,
Samstag/Sonntag 4./5. April 1992, S. 25
Der Untergang. der Sowjetunion
und die politische Okonomie im Westen
Von Dr. Werner Tabarelli, Jurist und Okonom, Honorarkonsul der Republik Ã-sterreich, Liechtenstein
Auch Staatsuntergänge sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Das Osmanische Reich wurde vom Ersten Weltkrieg
hinweggefegt, Frankreichs Ancien Regime verschwand im Chaos der Revolution. Die Sowjetunion hingegen hörte sang- und
klanglos auf. Sie war wirtschaftlich und moralisch einfach am Ende. In seltsamem Gegensatz zu diesem Scheitern war es dem
sowjetischen Propagandaapparat drei Generationen lang gelungen, im Westen die Vorstellung von einer ausserordentlichen
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Sowjetsystems zu erzeugen. In den Schriften der illustersten Wissenschafter, im Denken
westlicher Politiker und selbst in den Schulbüchern, nach denen unsere Kinder in Geschichte oder Religion unterrichtet
werden, finden sich die Spuren dieser Geschichtsfälschung. Es ist an der Zeit, den nun wirklich nicht mehr übersehbaren
Realitäten zu entsprechen und aufzuräumen.
Der Mythos von der Vertragstreue der Sowjetunion
Irgendwie schaffte es die kommunistische Propaganda, den Politikern, den Geschäftsleuten und den Bankern im
Westen einzureden, dass es sich bei der Sowjetunion um einen ganz besonders verlässlichen Partner handle. Obwohl
natürlich jeder wusste, dass dieser Partner in allen freien Ländern Wirtschaftsgeheimnisse stahl und agitatorische Wühlarbeit
betrieb.
Im Zuge der 1990 gegen den britischen Bergarbeiterpräsidenten Scargill erhobenen Veruntreuungsbeschuldigungen
erfuhr man ganz nebenbei, dass der von ihm angezettelte rein politisch motivierte Bergarbeiterstreik in den Jahren 1984/85 mit
Millionen aus der Sowjetunion finanziert war. Und das hatte Tradition: Schon in den zwanziger Jahren hatte Moskau die
britischen Bergarbeiter mit hohen Beträgen bestochen. Der Ruf, absolut vertragstreu zu sein, den die Sowjetunion über
Jahrzehnte mit Umsicht aufgebaut und gepflegt hatte, erlaubte es ihr im übrigen auch, binnen nur zwanzig Jahren seit 1970
Kredite in Höhe von zuletzt rund 80 Milliarden Dollar im Westen aufzunehmen. Wobei man nach dem gigantischen
Staatsbankrott vom Februar 1918 eigentlich hätte meinen sollen, dass niemand jemals wieder bereit sein würde, der
Sowjetunion Geld zu leihen.
Als am '10. Februar 1918 die Bolschewiken mit einem Paukenschlag alle «von den Regierungen der russischen
Bourgeoisie» aufgenommenen Staatsanleihen für ungültig erklärten, wurden mit diesem Dekret internationale
Zahlungsverpflichtungen des zaristischen Russland von nahezu 2 Milliarden Pfund Sterling vom Tisch gewischt. Nach heutigem
Geld, über den Goldpreis umgerechnet, nicht ganz 200 Milliarden Dollar!
Man müsse wohl, schrieb die NZZ am 17. Dezember 1991, «vom Mythos der, Sowjetuniön als eines über alle
Zweifel erabenen Schuldners... Abschied nehmen». Denn kurz vorher hätten die Sowjets ihre Gläubiger wissen,lassen, dass
sie -vorerstnicht mehr in der Lage seien, die von ihnen aufgenommenen internationalen Kredite zu bedienen. Und jene
zweieinhalbtausend Tonnen Gold, die man im Westen immer als letzte Sicherheit für die sowjetische Aussenschuld betrachtet
hatte, seien - sorry! auch verschwunden! 1
Stabile Preise in einer sozialistischen Wirtschaft?
Zum festen Schatz marxistischer Propaganda gehörte seit Generationen auch die unhaltbare Behauptung, dass nur
unter den Verhältnissen einer Marktwirtschaft Inflation möglich sei. Vom Staat festgesetzte Preise seien sozusagen per
Definition stabil. Das ist natürlich Unsinn, wie spätestens im letzten Jahrzehnt durch die Entwicklung in fast allen sozialistischen
Staaten klargeworden ist. Dennoch hat sich derartiges selbst in unsere nationalökonomischen Lehrbücher eingeschlichen.
Samuelson und Nordhaus etwa erliegen in ihrem berühmten Werk der sowjetischen Desinformation: «Was immer sonst die
Fehler des Sowjetkommunismus sein mögen», verkünden sie vollmundig, «die Probleme einer offenen Inflation... gehören
nicht dazu»?
Die 74jährige Geschichte der Sowjetunion lehrt indes, dass gerade Preisstabilität nie etwas war, worauf
kommunistische Machthaber hätten besonders stolz sein können! Gleich nach der Oktoberrevolution gab es die furchtbaren
Geldwirren der frühen zwanziger Jahre. Der neue, per Dekret am 7. März 1924 eingeführte Rubel ersetzte ein Geld, das gerade
noch ein Fünfzigmilliardstel des Vorkriegsrubels wert war! Und auch dieser Rubel von 1924 verlor rasch an Wert. Schon 1926
war sein Schwarzmarktkurs um 60 Prozent gesunken. Auch zwischen 1928 und 1931 und dann natürlich im Krieg sind die
Preise rasant gestiegen; vorsichtig gerechnet zwischen 1924 und 1949 auf das mindestens Fünfundzwanzigfache. Nicht gerade
das, was man unter Preisstabilität versteht!'
In den Fünfzigern und wohl auch in den sechziger Jahren waren die Preise in der Sowjetunion offenbar
einigermassen stabil, wenngleich die Statistiken diesbezüglich kein einheitliches Bild vermitteln. Spätestens ab den frühen
siebziger Jahren aber kam es auch in der ehemaligen Sowjetunion wie in allen Industriestaaten der Welt wieder zu einem
stärkeren Anstieg der Preise. Zwischen 1960 und 1985 beläuft er sich auf etwa 35 Prozent und bis 1988 auf nochmals knapp 20
Prozent. 1989 nahm er mit einer Jahresrate von 50 bis 100 Prozent dramatische Ausmasse an. 1990/91 ging die Entwicklung in
eine Hyperinflation über mit Preissteigerungsraten von 300 bis 500 Prozent! Ende Dezember 1991 kostete Wurst in Moskau
zwanzigmal soviel wie 1985. Eier waren 35mal so teuer. Butter gab es vor Präsident Jelzins Preisreform überhaupt nicht mehr
zu kaufen!
Vergleich: Rubel gegen Dollar
Gewiss, auch anderswo sind über drei Generationen hinweg die Preise gestiegen. Für einen Dollar erhielt man 1930
fast genau 11/z Gramm Gold; heute dagegen nur noch rund den siebzehnten Teil davon. Andererseits wurden nach Sedillot
1930 am Schwarzmarkt in Moskau 50 Rubel für einen Dollar bezahlt; heute erzielt man, wie man täglich in der Zeitung liest,
mindestens 100 Rubel pro Dollar. Hat der Rubel also im Verhältnis 100 zu 50, somit mindestens zweimal soviel, an Wert
verloren wie der Dollar?
Falsch! Denn der heutige Rubel ist um einen, Faktor 100 «schwerer» als Anfang der dreissiger Jahre. Die
Sowjetregierung hat nämlich zweimal, 1947 und Ende 1960, das jeweils alte Geld für ungültig erklärt und zehn «alte» gegen
einen «neuen» Rubel umgetauscht. Anders ausgedrückt: der Wertverlust des Rubels seit Anfang der dreissiger Jahre ist nicht
bloss zweimal, sondern zumindest zweihundertmal so gross wie der des Dollars!
Potemkinsche Dörfer heute
Die Manipulation der öffentlichen Meinung, «systematische Agitation», wie man das schon am IX. Kongress der
KPdSU Ende März 1920 in Moskau nannte, und zwar ausdrücklich «auch auf wirtschaftlichem Gebiet», ist für Kommunisten eine
ausserordentlich wichtige Sache. Schon in den zwanziger und dreissiger Jahren gab Stalin für Auslandagitation Millionen aus.
Im Laufe der Zeit wuchsen die diesbezüglichen Budgets beträchtlich an. In den achtziger Jahre beliefen sich die
Gesamtausgaben dieses Apparates,;.der im übrigen, wie Vermaat berichtet,, eng. mit dem KGB verzahnt war, nach offiziellen
Angaben. auf nahezu 2 Milliarden Dollar pro Jahr: die Tass verfügte über 550 Millionen; Novosti über 500 Millionen; «New
Times» über 200 Millionen und der Auslandservice von Radio Moskau über 700 Millionen Dollar. 4)
Je mehr man diesen Fragen nachgeht,' um so beklemmender wird einem klar, wie erfolgreich sowjetische
Wirtschaftspropaganda das Denken der Menschen im Westen während Jahrzehnten geformt hat: Josef Schumpeter sah, wie
viele vor und nach ihm, in den vierziger Jahren den baldigen Untergang des kapitalistischen Wirtschaftssystems voraus. John
Kenneth Galbraith von der Harvard-Universität meinte 1984, das sowjetische System habe «deshalb Erfolg, weil es im
Gegensatz zur westlichen Industriewirtschaft vollen Gebrauch von seinen Arbeitskräften macht». Die Analysten der CIA
überschätzten, wie der wortgewaltige Daniel Patrick Moynihan der CIA.unlängst vorwarf, konsequent über Jahrzehnte hinweg
ohne Ausnahme und erheblich die Grösse und das Wachstum der Sowjetwirtschaft. Und der Nobelpreisträger Professor Paul
A. Samuelson behauptet in zahlreichen Auflagen seines bereits erwähnten Lehrbuches, dass angeblich -die Zuwächse der
Wirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion jene in den westlichen Industrieländern stets weit übertroffen hätten: «Tatsächlich»,
verkünden Samuelson und sein Co-Autor mit einem Hauch von Begeisterung, «war das sowjetische Wirtschaftswachstum seit
den zwanziger Jahren eindrucksvoll. Es verlief steiler als der langfristige Wachstumstrend in jeder Marktwirtschaft...»
Deprimierende Wirklichkeit
Rechnet man anhand der hier unterstellten Wachstumsraten nach, so hätte die Sowjetunion die Länder im Westen
längst einholen, ja überholen müssen. Jedenfalls hätte sich der Abstand im Lebensstandard zwischen der Sowjetunion und
dem Westen notwendigerweise verringern müssen! Das aber war eben nicht der Fall! «Wir lebten viel schlechter als andere
entwickelte Länden, sagte Präsident Gorbatschew in seiner Rücktrittsrede am Abend des Weihnachtstages 1991, «und wir
fallen immer mehr hinter diese zurück.» Den hungernden Menschen in der ehemaligen Sowjetunion musste man das freilich
nicht erläutern; sie wussten es ohnehin! Der Anteil der Sowjetunion an der Summe des Sozialproduktes der grossen
Industrieländer war seit den fünfziger Jahren keineswegs gestiegen, wie es nach Samuelsons These hätte sein müssen,
sondern dramatisch zurückgegangen: von knapp 30 Prozent 1960 auf schätzungsweise bloss noch ein Zehntel im Jahre 1990!
Aber es ist nicht etwa so, dass sich da erst in den sechziger Jahren irgendein Fehler ins System eingeschlichen
hätte! Vielmehr führten schon die ersten Schritte der Sowjets Anfang der zwanziger Jahre zu einer verheerenden
Wirtschaftskatastrophe. Der Sozialist Valentin Gitermann, ein bestimmt nicht böswilliger Kronzeuge, 5 schätzt, dass die
gesamte Produktion in den Jahren 1921 /22 nur noch etwas mehr als zwei Fünftel des Standes von 1913 betrug und dass diese
Einbusse erst 1927/28 wettgemacht werden konnte. Ausserdem wütete 1921 eine Hungerkatastrophe. In einzelnen
Gouvernements gab es überhaupt keine Nahrungsmittel mehr. Millionen von Menschen liefen Gefahr, buchstäblich zu
verhungern! Der Münchner Universitätsprofessor Fjodor Stepun, der diese Zeit in seiner Jugend durchlitten hatte, erinnert sich
später daran mit den Worten: «Es fehlte in Moskau an allem. Die Menschen verhungerten zu Tausenden, starben an Typhus
und «spanischer Grippe». Die um die Särge anstehenden Schlangen waren ebenso lang wie die auf Brot wartenden. Nur etwas
gab es in hinreichender Menge Leichen in der Anatomie». 6)
Stalins Fünfjahrespläne
Ab 1928 wurde von eindrucksvollen jährlichen Zuwachsraten berichtet. Aber was bedeuten solche Zahlen in Tat und
Wahrheit?
Ota Sik, der in der Schweiz lebende frühere stellvertretende Ministerpräsident der Tschechoslowakei während des
«Prager Frühlings»,' hat uns, was Wirtschaftsstatistiken aus kommunistischen Ländern betrifft, die Augen geöffnet: Erstens muss
man dabei immer mit « beschönigten», d. h. gefälschten Daten rechnen - ein Sachverhalt, der im Zeitalter von Glasnost
schliesslich sogar von sowjetischen Ã-konomen, etwa von Abel Aganbegyan, anhand einer Fülle von Beispielen bestätigt
wurde." Zweitens ist es, wie Ota Sik gezeigt hat, unter den Verhältnissen einer sozialistischen Wirtschaft durchaus möglich,
einerseits angeblich laufend die Produktion zu steigern, während in Wirklichkeit «der Lebensstandard der Bevölkerung
unendlich langsamer wächst oder sogar stagniert>. Belege aus der ehemaligen Sowjetunion wurden ebenfalls im Zeichen von
Glasnost nachgeliefert: Sik hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Sozialprodukt in der kommunistischen
Planwirtschaft nach der Menge des verbrauchten Rohmaterials bemisst. In der Sowjetunion bestätigt sich dieser Sachverhalt
dadurch, dass man dort doppelt soviel Stahl verbrauchte wie in den Vereinigten Staaten, obwohl die Zahl der Produkte aus
Stahl nur einen kleinen Bruchteil der entsprechenden Anzahl in den USA ausmacht. Der Rest wird aus denselben Gründen
häufig nicht einmal als Schrott verwertet, sondern einfach weggeworfen!
Oder: In der Sowjetunion wurden um die Mitte der 80er Jahre 3;2 Paar Schuhe je Kopf der Bevölkerung (!) -
insgesamt 800 Millionen Paar Schuhe pro Jahr erzeugt, die zum grossen Teil unverkäuflich waren. Dies war der einfachste Weg
für die Schuhfabriken, ihre Produktionspläne zu erfüllen und dadurch in den Genuss ihrer Leistungsprämien zu gelangen. Auch
auf diesen Mechanismus hatte Sik bereits-vor fast zwanzig Jahren hingewiesen!
In solchem Licht betrachtet, verlieren selbstverständlich auch in der Periode von 1928 bis 1960 die offiziellen
Wachstumsraten der sowjetischen Wirtschaft viel von ihrem Glanz. Und tatsächlich gibt es ein Anzeichen dafür, dass sogar
Stalin mit den erzielten Ergebnissen nicht zufrieden war.
War Russlands Wirtschaft 1917 «rückständig»?
Stalin bemühte als Rechtfertigung der Wirtschaftsmisere den angeblichen Rückstand «um 50 bis 100 Jahre», den die
Entwicklung der Wirtschaft im zaristischen Russland gegenüber dem Westen gehabt habe. Dies war eine notwendige Antwort
auf die Frage, weshalb es den Sowjetbürgern trotz dem behaupteten enormen Wachstum ihrer Wirtschaft noch immer nicht
besser ging als den Menschen im Westen.
Im Laufe der Zeit ist durch ständige Wiederholprig aus dieser These von der wirtschaftlichen Rückständigkeit des
Zarenreiches eine Ãœberzeugung geworden, die sich tief in unser Bewusstsein eingegraben hat. Selbst ruhige und sachliche
Leute reagieren gereizt, wenn man diesen Sachverhalt in Frage stellt. Wobei wir ausdrücklich nicht von Demokratie reden und
nicht von der Freiheit der Arbeiter oder von Menschenrechten, sondern vom Entwicklungsstand der Wirtschaft!
Jede halbwegs seriöse wirtschaftshistorische Analyse widerlegt nun allerdings sofort und ganz offensichtlich diese
These Stalins: Zwar hatte Russland mit seiner Industrialisierung spät begonnen, sie ging nach dem Debakel des Krimkrieges
jedoch überaus dynamisch vor sich. Das russische Eisenbahnnetz, dessen Streckenlänge 1865 erst 3800 Kilometer betragen
hatte, erstreckte sich 1913 über eine Gesamtlänge von 75 000 Kilometern, davon 17 000 im unwirtlichen asiatischen Teil des
Landes. Zum Vergleich: Auf dem Gebiet des Deutschen Reichs waren bis 1920 erst 62 000 Kilometer gebaut worden. Die
russische Handelsflotte zählte 1914 rund 3700 Schiffe, diejenige Preussens nur 2300. Im Bergbau, in der Rohstahlerzeugung
und im Maschinenbau stand Russland 1913 jeweils an vierter Stelle der Weltrangliste, hinter den USA, Deutschland und
Grossbritannien, vor Frankreich und weit vor Ã-sterreich-Ungarn.' Im übrigen findet sich auch in dem erstmals 1899
erschienenen Werk Lenins «Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland» kein Wort von einer angeblichen Rückständigkeit,
sondern Lenin schwärmt darin geradezu von den Erfolgen der Industrialisierung in seiner Heimat. Und in den schon erwähnten
Beschlüssen des IX. Kongresses der KPdSU vom Frühjahr 1920 ist ebenfalls nicht von Rückständigkeit, sondern von den
«grundlegenden Bedingungen für das wirtschaftliche Wiederaufblühen des Landes» die Rede!
Es ist im höchsten Mass erstaunlich, dass das Märchen von der angeblichen Rückständigkeit Russlands bei uns im
Westen unüberprüft und unwidersprochen so Karriere machen und selbst in die Geschichtsbücher eindringen konnte, nach
denen unsere Kinder in der Schule heute unterrichtet werden!
Der «neue Mensch»
Ein grotesker Propagandaerfolg Lenins und seiner Erben war es schliesslich, die Intellektuellen im Westen von der
ethischen und moralischen Überlegenheit des Sowjetsystems und der Behauptung überzeugt zu haben, der «neue Mensch» in
der Sowjetunion sei nicht mehr auf Profit und Geld erpicht; ja der als «Profit» diffamierte Gewinn sei überhaupt etwas höchst
Verwerfliches.
John Maynard Keynes etwa entdeckt bei seiner 'Reise durch die Sowjetunion 1925, «dass im Herzen des
russischen Kommunismus etwas... Belangvolleres lebt, (dessen)... ethischer Kern.. seinen Mittelpunkt in der Einstellung des
Individuums und der Gemeinschaft zum Geld» habe (Short View of Soviet Russia, 1925). Und sogar den Kirchen erscheint
mittlerweile alles, was mit «Profit» zu tun hat, als mehr oder weniger suspekt: Eine Untersuchung von etlichen hundert
katholischen und evangelischen Religionsbüchern, die im Schulunterricht Verwendung finden, hat neben solchen mit
ausgeprägt ideologischer Orientierung selbst in ideologisch unverdächtigen Schulbüchern erstaunliche Lehrinhalte entdeckt:
Da wird das Leistungsprinzip mit Ausbeutung, industrielle Arbeit mit Galeerensklaverei, Rationalisierung mit profitorientierter
Jobkillerei gleichgesetzt. 10)
In Wirklichkeit hat der Sowjetkommunismus keines seiner Versprechen eingelöst: Mit Sicherheit waren die
Menschen in der Sowjetunion nicht «moralischen» als im Westen. Nach allen Berichten ist die Sowjetgesellschaft heute [Anm.
Galiani: also 1992!] sogar durchsetzt von krimineller Schattenwirtschaft und Korruption. Und auch in den zwanziger und
dreissiger Jahren las man häufig von Verhaftungen und Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten. 1928 etwa waren eine halbe
Million Rubel Gewerkschaftsgelder verschwunden, und in den dreissiger Jahren erschoss Dserschinski als Verkehrsminister
eigenhändig einen Bahnstationsvorsteher wegen finanzieller Verfehlungen.
Die hochmütige Industrialisierung der Sowjets, die das Arbeiterparadies hätte schaffen sollen, hat ganze Landstriche
unbewohnbar gemacht.- wir erinnern uns an den Atomunfall von Tscheljabinsk 1957, der bis 1988 verheimlicht worden war, oder
an den von Tschernobyl 1986. Zwei Drittel der Sowjetbevölkerung verdienten 1986 wenige als jene 200 Rubel pro Monat, die in
der Statistik als eine Art Armutsgrenze galten. Und die Lebenserwartung der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion liegt 10
Prozent unter der im Westen.
Dennoch fand das alles seltsamerweise nie die gebührende Aufmerksamkeit - wobei vermutlich auch dabei die
kommunistische Propagandamaschine ihre Hand im Spiele hatte! Selbst Stalins Massenmorde wurden verdrängt. Vom
Pulitzerpreisträger Walter Duranty, der in den dreissiger Jahren Moskaukorrespondent der «New York Times» war, ist die
Äusserung überliefert, mit der er über «ein paar Millionen toter Russen» hinwegging: «... Völlig unwichtig... Bloss eine
Randerscheinung des mitreissenden Wandels, der sich hier abspielt...» Wie eine gefährliche Droge vernebelte die
Propaganda der Sowjets den meistern Beobachtern aus dem Westen das Hirn.
Die einzigen, die sich als immun dagegen erwiesen, waren einige ehrliche Sozialisten: Die Sowjetunion sei die
Hölle, zitiert Lincoln Steffens die von dort zurückkehrende Emma Goldmann (Skandalbericht, 1974) [Anm. Galiani: Eine
Kurzbiografie von Emma Goldmann aus der Ecyclopedia Britannica schließe ich am Ende bei.]. Im selben Atemzug aber
macht er sich lustig darüber: Die Schwierigkeit der Sozialisten mit der neuen Sowjetunion sei, meinte er, dass sie am Bahnhof
einen Bummelzug erwartet hätten, während ein Express an ihnen vorbeisause.
Fußnoten:
1 Wall Street Joumal - Europe, 16. Nov. 1991.
2 P. A. Samuelson, W. D. Nordhaus: Economics, 1985; S. 776.
3 H. Nagler: Die Finanzen und die Währung der Sowjetunion, 1932; R. Sedillot: Le Draine des Monnaies, 1937; A. J.
Brown: The Great Inflation 1939-1951, 1955.
4 Die Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei Russlands (Moskau, 29. März bis 4. April 1920),
Leipzig 1920; § XIX, S. 34; U. Graf: Aktive Massnahmen - Eine Einführung in die sowjetischen Techniken der
Beeinflussung, 1990; J. Bartun: KGB heute, 1983; J. A. E. Vermaat in: Problems of Communism, Nov. bis Dez. 1982;
R Lewinson: Das Geld in der Politik, 1931.
5 V. Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee, 1939; S. 226.
6 F. Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution - Aus meinem Leben: 1884-1922, 1961. S. 375.
7 0. Sik: Argumente für den Dritten Weg, 1973, 4. Kapitel.
8 A. G. Aganbegyan (hrsg. v. M. B. Brown): The Economic Challenge of Perestroika, 1988; Die Beispiele wurden
von Aganbegyan auf einer Wirtschaftskonferenz 1988 in London erwähnt (Wall Street Journal - Europe, B. Fehr. 1988).
Vgl. auch: S. Bialer: The Soviet Paradox: External Expansion, Internal Decline, 1987.
9 B. R Mitchell: European Historical Statistics 1750-1975, 1980; The Statesman's Year-Book, Statistical and Historical
Annual of the States of the World, 75th Annual Publication, 1920.
10 M. Spieker: Flucht aus dem Alltag? Arbeit, Wirtschaft und Technik in den Schulbüchern des katholischen und
evangelischen Religionsunterrichts, 1989.
Britannica:
Goldman, Emma
(b. June 27, 1869, Kaunas, Lithuania, Russian Empire--d. May 14, 1940, Toronto, Ont., Can.), international anarchist who
conducted leftist activities in the United States from about 1890 to 1917.
The daughter of a government theatre manager, Goldman spent her early life in Königsberg, the capital of Prussia (now
Kaliningrad, Russia), and St. Petersburg, the capital of Russia. She emigrated to the United States in 1885 and worked in a
clothing factory in Rochester, N.Y., where she attended meetings of German socialists. Later she worked in New Haven, Conn.,
where she met a group of Russian anarchists.
<center>
<HR>
</center> |
JüKü
24.06.2001, 03:53
@ Galiani
|
Re: Danke für diesen Text! Muss ihn aber noch lesen... owT |
>Erschienen unter der Rubrik ZEITFRAGEN
>in der NEUEN ZÃœRCHER ZEITUNG,
>Samstag/Sonntag 4./5. April 1992, S. 25
>Der Untergang. der Sowjetunion
>und die politische Okonomie im Westen
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</center> |
Galiani
24.06.2001, 04:54
@ YIHI
|
Re: Beim Einlesen dieses Aufsatzes mit OmniPage gab es sinnstörende Fehler |
deshalb habe ich den Text nochmals durchgesehen und korrigiert:
Erschienen unter der Rubrik ZEITFRAGEN
in der NEUEN ZÃœRCHER ZEITUNG,
Samstag/Sonntag 4./5. April 1992, S. 25
Der Untergang der Sowjetunion
und die politische Ã-konomie im Westen
Von Dr. Werner Tabarelli, Jurist und Ã-konom, Honorarkonsul der Republik Ã-sterreich, Liechtenstein
Auch Staatsuntergänge sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Das Osmanische Reich wurde vom Ersten Weltkrieg hinweggefegt, Frankreichs Ancien Regime verschwand im Chaos der Revolution. Die Sowjetunion hingegen hörte sang- und klanglos auf. Sie war wirtschaftlich und moralisch einfach am Ende. In seltsamem Gegensatz zu diesem Scheitern war es dem sowjetischen Propagandaapparat drei Generationen lang gelungen, im Westen die Vorstellung von einer ausserordentlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Sowjetsystems zu erzeugen. In den Schriften der illustersten Wissenschafter, im Denken westlicher Politiker und selbst in den Schulbüchern, nach denen unsere Kinder in Geschichte oder Religion unterrichtet werden, finden sich die Spuren dieser Geschichtsfälschung. Es ist an der Zeit, den nun wirklich nicht mehr übersehbaren Realitäten zu entsprechen und aufzuräumen.
Der Mythos von der Vertragstreue der Sowjetunion
Irgendwie schaffte es die kommunistische Propaganda, den Politikern, den Geschäftsleuten und den Bankern im Westen einzureden, dass es sich bei der Sowjetunion um einen ganz besonders verlässlichen Partner handle. Obwohl natürlich jeder wusste, dass dieser Partner in allen freien Ländern Wirtschaftsgeheimnisse stahl und agitatorische Wühlarbeit betrieb.
Im Zuge der 1990 gegen den britischen Bergarbeiterpräsidenten Scargill erhobenen Veruntreuungsbeschuldigungen erfuhr man ganz nebenbei, dass der von ihm angezettelte rein politisch motivierte Bergarbeiterstreik in den Jahren 1984/85 mit Millionen aus der Sowjetunion finanziert war. Und das hatte Tradition: Schon in den zwanziger Jahren hatte Moskau die britischen Bergarbeiter mit hohen Beträgen bestochen.
Der Ruf, absolut vertragstreu zu sein, den die Sowjetunion über Jahrzehnte mit Umsicht aufgebaut und gepflegt hatte, erlaubte es ihr im übrigen auch, binnen nur zwanzig Jahren seit 1970 Kredite in Höhe von zuletzt rund 80 Milliarden Dollar im Westen aufzunehmen. Wobei man nach dem gigantischen Staatsbankrott vom Februar 1918 eigentlich hätte meinen sollen, dass niemand jemals wieder bereit sein würde, der Sowjetunion Geld zu leihen.
Als am 10. Februar 1918 die Bolschewiken mit einem Paukenschlag alle «von den Regierungen der russischen Bourgeoisie» aufgenommenen Staatsanleihen für ungültig erklärten, wurden mit diesem Dekret internationale Zahlungsverpflichtungen des zaristischen Russland von nahezu 2 Milliarden Pfund Sterling vom Tisch gewischt. Nach heutigem Geld, über den Goldpreis umgerechnet, nicht ganz 200 Milliarden Dollar!
Man müsse wohl, schrieb die NZZ am 17. Dezember 1991, «vom Mythos der, Sowjetunion als eines über alle Zweifel erhabenen Schuldners... Abschied nehmen». Denn kurz vorher hätten die Sowjets ihre Gläubiger wissen lassen, dass sie - vorerst - nicht mehr in der Lage seien, die von ihnen aufgenommenen internationalen Kredite zu bedienen. Und jene
zweieinhalbtausend Tonnen Gold, die man im Westen immer als letzte Sicherheit für die sowjetische Aussenschuld betrachtet hatte, seien - sorry! - auch verschwunden! 1)
Stabile Preise in einer sozialistischen Wirtschaft?
Zum festen Schatz marxistischer Propaganda gehörte seit Generationen auch die unhaltbare Behauptung, dass nur unter den Verhältnissen einer Marktwirtschaft Inflation möglich sei. Vom Staat festgesetzte Preise seien sozusagen per Definition stabil. Das ist natürlich Unsinn, wie spätestens im letzten Jahrzehnt durch die Entwicklung in fast allen sozialistischen Staaten klargeworden ist. Dennoch hat sich derartiges selbst in unsere nationalökonomischen Lehrbücher eingeschlichen. Samuelson und Nordhaus etwa erliegen in ihrem berühmten Werk der sowjetischen Desinformation: «Was immer sonst die Fehler des Sowjetkommunismus sein mögen», verkünden sie vollmundig, «die Probleme einer offenen Inflation... gehören nicht dazu» 2)
Die 74jährige Geschichte der Sowjetunion lehrt indes, dass gerade Preisstabilität nie etwas war, worauf kommunistische Machthaber hätten besonders stolz sein können! Gleich nach der Oktoberrevolution gab es die furchtbaren Geldwirren der frühen zwanziger Jahre. Der neue, per Dekret am 7. März 1924 eingeführte Rubel ersetzte ein Geld, das gerade noch ein Fünfzigmilliardstel des Vorkriegsrubels wert war! Und auch dieser Rubel von 1924 verlor rasch an Wert. Schon 1926 war sein Schwarzmarktkurs um 60 Prozent gesunken. Auch zwischen 1928 und 1931 und dann natürlich im Krieg sind die Preise rasant gestiegen; vorsichtig gerechnet zwischen 1924 und 1949 auf das mindestens Fünfundzwanzigfache. Nicht gerade das, was man unter Preisstabilität versteht! 3)
In den Fünfzigern und wohl auch in den sechziger Jahren waren die Preise in der Sowjetunion offenbar einigermassen stabil, wenngleich die Statistiken diesbezüglich kein einheitliches Bild vermitteln. Spätestens ab den frühen siebziger Jahren aber kam es auch in der ehemaligen Sowjetunion wie in allen Industriestaaten der Welt wieder zu einem stärkeren Anstieg der Preise. Zwischen 1960 und 1985 beläuft er sich auf etwa 35 Prozent und bis 1988 auf nochmals knapp 20 Prozent. 1989 nahm er mit einer Jahresrate von 50 bis 100 Prozent dramatische Ausmasse an. 1990/91 ging die Entwicklung in eine Hyperinflation über mit Preissteigerungsraten von 300 bis 500 Prozent! Ende Dezember 1991 kostete Wurst in Moskau zwanzigmal soviel wie 1985. Eier waren 35mal so teuer. Butter gab es vor Präsident Jelzins Preisreform überhaupt nicht mehr zu kaufen!
Vergleich: Rubel gegen Dollar
Gewiss, auch anderswo sind über drei Generationen hinweg die Preise gestiegen. Für einen Dollar erhielt man 1930 fast genau 1 ½ Gramm Gold; heute dagegen nur noch rund den siebzehnten Teil davon. Andererseits wurden nach Sedillot 1930 am Schwarzmarkt in Moskau 50 Rubel für einen Dollar bezahlt; heute erzielt man, wie man täglich in der Zeitung liest, mindestens 100 Rubel pro Dollar. Hat der Rubel also im Verhältnis 100 zu 50, somit mindestens zweimal soviel, an Wert verloren wie der Dollar?
Falsch! Denn der heutige Rubel ist um einen, Faktor 100 «schwerer» als Anfang der dreissiger Jahre. Die Sowjetregierung hat nämlich zweimal, 1947 und Ende 1960, das jeweils alte Geld für ungültig erklärt und zehn «alte» gegen einen «neuen» Rubel umgetauscht. Anders ausgedrückt: der Wertverlust des Rubels seit Anfang der dreissiger Jahre ist nicht bloss zweimal, sondern zumindest zweihundertmal so gross wie der des Dollars!
Potemkinsche Dörfer heute
Die Manipulation der öffentlichen Meinung, «systematische Agitation», wie man das schon am IX. Kongress der KPdSU Ende März 1920 in Moskau nannte, und zwar ausdrücklich «auch auf wirtschaftlichem Gebiet», ist für Kommunisten eine ausserordentlich wichtige Sache. Schon in den zwanziger und dreissiger Jahren gab Stalin für Auslandagitation Millionen aus. Im Laufe der Zeit wuchsen die diesbezüglichen Budgets beträchtlich an. In den achtziger Jahre beliefen sich die Gesamtausgaben dieses Apparates der im übrigen, wie Vermaat berichtet, eng mit dem KGB verzahnt war, nach offiziellen Angaben auf nahezu 2 Milliarden Dollar pro Jahr: die Tass verfügte über 550 Millionen; Novosti über 500 Millionen; «New Times» über 200 Millionen und der Auslandservice von Radio Moskau über 700 Millionen Dollar. 4)
Je mehr man diesen Fragen nachgeht, um so beklemmender wird einem klar, wie erfolgreich sowjetische Wirtschaftspropaganda das Denken der Menschen im Westen während Jahrzehnten geformt hat: Josef Schumpeter sah, wie viele vor und nach ihm, in den vierziger Jahren den baldigen Untergang des kapitalistischen Wirtschaftssystems voraus. John
Kenneth Galbraith von der Harvard-Universität meinte 1984, das sowjetische System habe «deshalb Erfolg, weil es im Gegensatz zur westlichen Industriewirtschaft vollen Gebrauch von seinen Arbeitskräften macht». Die Analysten der CIA überschätzten, wie der wortgewaltige Daniel Patrick Moynihan der CIA unlängst vorwarf, konsequent über Jahrzehnte hinweg, ohne Ausnahme und erheblich die Grösse und das Wachstum der Sowjetwirtschaft. Und der Nobelpreisträger Professor Paul A. Samuelson behauptet in zahlreichen Auflagen seines bereits erwähnten Lehrbuches, dass angeblich die Zuwächse der Wirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion jene in den westlichen Industrieländern stets weit übertroffen hätten: «Tatsächlich», verkünden Samuelson und sein Co-Autor mit einem Hauch von Begeisterung, «war das sowjetische Wirtschaftswachstum seit den zwanziger Jahren eindrucksvoll. Es verlief steiler als der langfristige Wachstumstrend in jeder Marktwirtschaft...»
Deprimierende Wirklichkeit
Rechnet man anhand der hier unterstellten Wachstumsraten nach, so hätte die Sowjetunion die Länder im Westen längst einholen, ja überholen müssen. Jedenfalls hätte sich der Abstand im Lebensstandard zwischen der Sowjetunion und dem Westen notwendigerweise verringern müssen! Das aber war eben nicht der Fall! «Wir lebten viel schlechter als andere entwickelte Länden, sagte Präsident Gorbatschew in seiner Rücktrittsrede am Abend des Weihnachtstages 1991, «und wir fallen immer mehr hinter diese zurück.» Den hungernden Menschen in der ehemaligen Sowjetunion musste man das freilich
nicht erläutern; sie wussten es ohnehin! Der Anteil der Sowjetunion an der Summe des Sozialproduktes der grossen Industrieländer war seit den fünfziger Jahren keineswegs gestiegen, wie es nach Samuelsons These hätte sein müssen, sondern dramatisch zurückgegangen: von knapp 30 Prozent 1960 auf schätzungsweise bloss noch ein Zehntel im Jahre 1990!
Aber es ist nicht etwa so, dass sich da erst in den sechziger Jahren irgendein Fehler ins System eingeschlichen hätte! Vielmehr führten schon die ersten Schritte der Sowjets Anfang der zwanziger Jahre zu einer verheerenden Wirtschaftskatastrophe. Der Sozialist Valentin Gitermann, ein bestimmt nicht böswilliger Kronzeuge 5) schätzt, dass die gesamte Produktion in den Jahren 1921 /22 nur noch etwas mehr als zwei Fünftel des Standes von 1913 betrug und dass diese Einbusse erst 1927/28 wettgemacht werden konnte. Ausserdem wütete 1921 eine Hungerkatastrophe. In einzelnen Gouvernements gab es überhaupt keine Nahrungsmittel mehr. Millionen von Menschen liefen Gefahr, buchstäblich zu verhungern! Der Münchner Universitätsprofessor Fjodor Stepun, der diese Zeit in seiner Jugend durchlitten hatte, erinnert sich später daran mit den Worten: «Es fehlte in Moskau an allem. Die Menschen verhungerten zu Tausenden, starben an Typhus und «spanischer Grippe». Die um die Särge anstehenden Schlangen waren ebenso lang wie die auf Brot wartenden. Nur etwas gab es in hinreichender Menge - Leichen in der Anatomie». 6)
Stalins Fünfjahrespläne
Ab 1928 wurde von eindrucksvollen jährlichen Zuwachsraten berichtet. Aber was bedeuten solche Zahlen in Tat und Wahrheit?
Ota Sik, der in der Schweiz lebende frühere stellvertretende Ministerpräsident der Tschechoslowakei während des «Prager Frühlings», 7) hat uns, was Wirtschaftsstatistiken aus kommunistischen Ländern betrifft, die Augen geöffnet: Erstens muss man dabei immer mit « beschönigten», d. h. gefälschten Daten rechnen - ein Sachverhalt, der im Zeitalter von Glasnost schliesslich sogar von sowjetischen Ã-konomen, etwa von Abel Aganbegyan, anhand einer Fülle von Beispielen bestätigt wurde. 8) Zweitens ist es, wie Ota Sik gezeigt hat, unter den Verhältnissen einer sozialistischen Wirtschaft durchaus möglich, einerseits angeblich laufend die Produktion zu steigern, während in Wirklichkeit «der Lebensstandard der Bevölkerung unendlich langsamer wächst oder sogar stagniert». Belege aus der ehemaligen Sowjetunion wurden ebenfalls im Zeichen von Glasnost nachgeliefert: Sik hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Sozialprodukt in der kommunistischen Planwirtschaft nach der Menge des verbrauchten Rohmaterials bemisst. In der Sowjetunion bestätigt sich dieser Sachverhalt dadurch, dass man dort doppelt soviel Stahl verbrauchte wie in den Vereinigten Staaten, obwohl die Zahl der Produkte aus Stahl nur einen kleinen Bruchteil der entsprechenden Anzahl in den USA ausmacht. Der Rest wird aus denselben Gründen häufig nicht einmal als Schrott verwertet, sondern einfach weggeworfen!
Oder: In der Sowjetunion wurden um die Mitte der 80er Jahre 3,2 Paar Schuhe je Kopf der Bevölkerung (!) - insgesamt 800 Millionen Paar Schuhe pro Jahr - erzeugt, die zum grossen Teil unverkäuflich waren. Dies war der einfachste Weg für die Schuhfabriken, ihre Produktionspläne zu erfüllen und dadurch in den Genuss ihrer Leistungsprämien zu gelangen. Auch auf diesen Mechanismus hatte Sik bereits vor fast zwanzig Jahren hingewiesen!
In solchem Licht betrachtet, verlieren selbstverständlich auch in der Periode von 1928 bis 1960 die offiziellen Wachstumsraten der sowjetischen Wirtschaft viel von ihrem Glanz. Und tatsächlich gibt es ein Anzeichen dafür, dass sogar Stalin mit den erzielten Ergebnissen nicht zufrieden war.
War Russlands Wirtschaft 1917 «rückständig»?
Stalin bemühte als Rechtfertigung der Wirtschaftsmisere den angeblichen Rückstand «um 50 bis 100 Jahre», den die Entwicklung der Wirtschaft im zaristischen Russland gegenüber dem Westen gehabt habe. Dies war eine notwendige Antwort auf die Frage, weshalb es den Sowjetbürgern trotz dem behaupteten enormen Wachstum ihrer Wirtschaft noch immer nicht besser ging als den Menschen im Westen.
Im Laufe der Zeit ist durch ständige Wiederholung aus dieser These von der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Zarenreiches eine Überzeugung geworden, die sich tief in unser Bewusstsein eingegraben hat. Selbst ruhige und sachliche Leute reagieren gereizt, wenn man diesen Sachverhalt in Frage stellt. Wobei wir ausdrücklich nicht von Demokratie reden und nicht von der Freiheit der Arbeiter oder von Menschenrechten, sondern vom Entwicklungsstand der Wirtschaft!
Jede halbwegs seriöse wirtschaftshistorische Analyse widerlegt nun allerdings sofort und ganz offensichtlich diese These Stalins: Zwar hatte Russland mit seiner Industrialisierung spät begonnen, sie ging nach dem Debakel des Krimkrieges jedoch überaus dynamisch vor sich. Das russische Eisenbahnnetz, dessen Streckenlänge 1865 erst 3800 Kilometer betragen
hatte, erstreckte sich 1913 über eine Gesamtlänge von 75 000 Kilometern, davon 17 000 im unwirtlichen asiatischen Teil des Landes. Zum Vergleich: Auf dem Gebiet des Deutschen Reichs waren bis 1920 erst 62 000 Kilometer gebaut worden. Die russische Handelsflotte zählte 1914 rund 3700 Schiffe, diejenige Preussens nur 2300. Im Bergbau, in der Rohstahlerzeugung und im Maschinenbau stand Russland 1913 jeweils an vierter Stelle der Weltrangliste, hinter den USA, Deutschland und Grossbritannien, vor Frankreich und weit vor Ã-sterreich-Ungarn. 9) Im übrigen findet sich auch in dem erstmals 1899 erschienenen Werk Lenins «Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland» kein Wort von einer angeblichen Rückständigkeit, sondern Lenin schwärmt darin geradezu von den Erfolgen der Industrialisierung in seiner Heimat. Und in den schon erwähnten Beschlüssen des IX. Kongresses der KPdSU vom Frühjahr 1920 ist ebenfalls nicht von Rückständigkeit, sondern von den «grundlegenden Bedingungen für das wirtschaftliche Wiederaufblühen des Landes» die Rede!
Es ist im höchsten Mass erstaunlich, dass das Märchen von der angeblichen Rückständigkeit Russlands bei uns im Westen unüberprüft und unwidersprochen so Karriere machen und selbst in die Geschichtsbücher eindringen konnte, nach denen unsere Kinder in der Schule heute unterrichtet werden!
Der «neue Mensch»
Ein grotesker Propagandaerfolg Lenins und seiner Erben war es schliesslich, die Intellektuellen im Westen von der ethischen und moralischen Überlegenheit des Sowjetsystems und der Behauptung überzeugt zu haben, der «neue Mensch» in der Sowjetunion sei nicht mehr auf Profit und Geld erpicht; ja der als «Profit» diffamierte Gewinn sei überhaupt etwas höchst Verwerfliches.
John Maynard Keynes etwa entdeckt bei seiner Reise durch die Sowjetunion 1925, «dass im Herzen des russischen Kommunismus etwas... Belangvolleres lebt, (dessen)... ethischer Kern.. seinen Mittelpunkt in der Einstellung des Individuums und der Gemeinschaft zum Geld» habe (Short View of Soviet Russia, 1925). Und sogar den Kirchen erscheint mittlerweile alles, was mit «Profit» zu tun hat, als mehr oder weniger suspekt: Eine Untersuchung von etlichen hundert katholischen und evangelischen Religionsbüchern, die im Schulunterricht Verwendung finden, hat neben solchen mit ausgeprägt ideologischer Orientierung selbst in ideologisch unverdächtigen Schulbüchern erstaunliche Lehrinhalte entdeckt:
Da wird das Leistungsprinzip mit Ausbeutung, industrielle Arbeit mit Galeerensklaverei, Rationalisierung mit profitorientierter Jobkillerei gleichgesetzt. 10)
In Wirklichkeit hat der Sowjetkommunismus keines seiner Versprechen eingelöst: Mit Sicherheit waren die Menschen in der Sowjetunion nicht «moralischer» als im Westen. Nach allen Berichten ist die Sowjetgesellschaft heute [Anm. Galiani: also Anfang 1992!] sogar durchsetzt von krimineller Schattenwirtschaft und Korruption. Und auch in den zwanziger und dreissiger Jahren las man häufig von Verhaftungen und Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten. 1928 etwa waren eine halbe Million Rubel Gewerkschaftsgelder verschwunden, und in den dreissiger Jahren erschoss Dserschinski als Verkehrsminister
eigenhändig einen Bahnstationsvorsteher wegen finanzieller Verfehlungen.
Die hochmütige Industrialisierung der Sowjets, die das Arbeiterparadies hätte schaffen sollen, hat ganze Landstriche unbewohnbar gemacht; - wir erinnern uns an den Atomunfall von Tscheljabinsk 1957, der bis 1988 verheimlicht worden war, oder an den von Tschernobyl 1986. Zwei Drittel der Sowjetbevölkerung verdienten 1986 weniger als jene 200 Rubel pro Monat, die in der Statistik als eine Art Armutsgrenze galten. Und die Lebenserwartung der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion liegt 10 Prozent unter der im Westen.
Dennoch fand das alles seltsamerweise nie die gebührende Aufmerksamkeit - wobei vermutlich auch dabei die kommunistische Propagandamaschine ihre Hand im Spiele hatte! Selbst Stalins Massenmorde wurden verdrängt. Vom Pulitzerpreisträger Walter Duranty, der in den dreissiger Jahren Moskaukorrespondent der «New York Times» war, ist die Äusserung überliefert, mit der er über «ein paar Millionen toter Russen» hinwegging: «... Völlig unwichtig... Bloss eine Randerscheinung des mitreissenden Wandels, der sich hier abspielt...» Wie eine gefährliche Droge vernebelte die Propaganda der Sowjets den meistern Beobachtern aus dem Westen das Hirn.
Die einzigen, die sich als immun dagegen erwiesen, waren einige ehrliche Sozialisten: Die Sowjetunion sei die Hölle, zitiert Lincoln Steffens die von dort zurückkehrende Emma Goldmann (Skandalbericht, 1974). Im selben Atemzug aber macht er sich lustig darüber: Die Schwierigkeit der Sozialisten mit der neuen Sowjetunion sei, meinte er, dass sie am Bahnhof
einen Bummelzug erwartet hätten, während ein Express an ihnen vorbeisause.
Fußnoten:
1 Wall Street Journal - Europe, 16. Nov. 1991.
2 P. A. Samuelson, W. D. Nordhaus: Economics, 1985; S. 776.
3 H. Nagler: Die Finanzen und die Währung der Sowjetunion,1932;
R. Sedillot: Le Drame des Monnaies, 1937; A. J. Brown: The Great Inflation 1939-1951, 1955.
4 Die Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei Russlands (Moskau, 29. März bis 4. April 1920), Leipzig 1920; § XIX, S. 34; U. Graf: Aktive Massnahmen - Eine Einführung in die sowjetischen Techniken der Beeinflussung, 1990; J. Bartun: KGB heute, 1983; J. A. E. Vermaat in: Problems of Communism, Nov. bis Dez. 1982; R Lewinson: Das Geld in der Politik, 1931.
5 V. Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee, 1939; S. 226.
6 F. Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution - Aus meinem Leben: 1884-1922, 1961. S. 375.
7 0. Sik: Argumente für den Dritten Weg, 1973, 4. Kapitel.
8 A. G. Aganbegyan (hrsg. v. M. B. Brown): The Economic Challenge of Perestroika, 1988; Die Beispiele wurden von Aganbegyan auf einer Wirtschaftskonferenz 1988 in London erwähnt (Wall Street Journal - Europe, 8. Febr. 1988).
Vgl. auch: S. Bialer: The Soviet Paradox: External Expansion, Internal Decline, 1987.
9 B. R Mitchell: European Historical Statistics 1750-1975, 1980; The Statesman's Year-Book, Statistical and Historical Annual of the States of the World, 75th Annual Publication, 1920.
10 M. Spieker: Flucht aus dem Alltag? Arbeit, Wirtschaft und Technik in den Schulbüchern des katholischen und evangelischen Religionsunterrichts, 1989.
[Anm. GalianiKurzbiografie von Emma Goldmann aus Britannica:
Goldman, Emma
(b. June 27, 1869, Kaunas, Lithuania, Russian Empire--d. May 14, 1940, Toronto, Ont., Can.), international anarchist who conducted leftist activities in the United States from about 1890 to 1917. The daughter of a government theatre manager, Goldman spent her early life in Königsberg, the capital of Prussia (now Kaliningrad, Russia), and St. Petersburg, the capital of Russia. She emigrated to the United States in 1885 and worked in a clothing factory in Rochester, N.Y., where she attended meetings of German socialists. Later she worked in New Haven, Conn., where she met a group of Russian anarchists.]
<center>
<HR>
</center> |
YIHI
24.06.2001, 11:58
@ Galiani
|
Vielen lieben Dank! owT |
>Erschienen unter der Rubrik ZEITFRAGEN
>in der NEUEN ZÃœRCHER ZEITUNG,
>Samstag/Sonntag 4./5. April 1992, S. 25
>Der Untergang. der Sowjetunion
>und die politische Okonomie im Westen
>
>Von Dr. Werner Tabarelli, Jurist und Okonom, Honorarkonsul der Republik Ã-sterreich, Liechtenstein
>Auch Staatsuntergänge sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Das Osmanische Reich wurde vom Ersten Weltkrieg
>hinweggefegt, Frankreichs Ancien Regime verschwand im Chaos der Revolution. Die Sowjetunion hingegen hörte sang- und
>klanglos auf. Sie war wirtschaftlich und moralisch einfach am Ende. In seltsamem Gegensatz zu diesem Scheitern war es dem
>sowjetischen Propagandaapparat drei Generationen lang gelungen, im Westen die Vorstellung von einer ausserordentlichen
>wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Sowjetsystems zu erzeugen. In den Schriften der illustersten Wissenschafter, im Denken
>westlicher Politiker und selbst in den Schulbüchern, nach denen unsere Kinder in Geschichte oder Religion unterrichtet
>werden, finden sich die Spuren dieser Geschichtsfälschung. Es ist an der Zeit, den nun wirklich nicht mehr übersehbaren
>Realitäten zu entsprechen und aufzuräumen.
>Der Mythos von der Vertragstreue der Sowjetunion > Irgendwie schaffte es die kommunistische Propaganda, den Politikern, den Geschäftsleuten und den Bankern im
>Westen einzureden, dass es sich bei der Sowjetunion um einen ganz besonders verlässlichen Partner handle. Obwohl
>natürlich jeder wusste, dass dieser Partner in allen freien Ländern Wirtschaftsgeheimnisse stahl und agitatorische Wühlarbeit
>betrieb. > Im Zuge der 1990 gegen den britischen Bergarbeiterpräsidenten Scargill erhobenen Veruntreuungsbeschuldigungen
>erfuhr man ganz nebenbei, dass der von ihm angezettelte rein politisch motivierte Bergarbeiterstreik in den Jahren 1984/85 mit
>Millionen aus der Sowjetunion finanziert war. Und das hatte Tradition: Schon in den zwanziger Jahren hatte Moskau die
>britischen Bergarbeiter mit hohen Beträgen bestochen. Der Ruf, absolut vertragstreu zu sein, den die Sowjetunion über
>Jahrzehnte mit Umsicht aufgebaut und gepflegt hatte, erlaubte es ihr im übrigen auch, binnen nur zwanzig Jahren seit 1970
>Kredite in Höhe von zuletzt rund 80 Milliarden Dollar im Westen aufzunehmen. Wobei man nach dem gigantischen
>Staatsbankrott vom Februar 1918 eigentlich hätte meinen sollen, dass niemand jemals wieder bereit sein würde, der
>Sowjetunion Geld zu leihen. > Als am '10. Februar 1918 die Bolschewiken mit einem Paukenschlag alle «von den Regierungen der russischen
>Bourgeoisie» aufgenommenen Staatsanleihen für ungültig erklärten, wurden mit diesem Dekret internationale
>Zahlungsverpflichtungen des zaristischen Russland von nahezu 2 Milliarden Pfund Sterling vom Tisch gewischt. Nach heutigem
>Geld, über den Goldpreis umgerechnet, nicht ganz 200 Milliarden Dollar! > Man müsse wohl, schrieb die NZZ am 17. Dezember 1991, «vom Mythos der, Sowjetuniön als eines über alle
>Zweifel erabenen Schuldners... Abschied nehmen». Denn kurz vorher hätten die Sowjets ihre Gläubiger wissen,lassen, dass
>sie -vorerstnicht mehr in der Lage seien, die von ihnen aufgenommenen internationalen Kredite zu bedienen. Und jene
>zweieinhalbtausend Tonnen Gold, die man im Westen immer als letzte Sicherheit für die sowjetische Aussenschuld betrachtet
>hatte, seien - sorry! auch verschwunden! 1
>
>Stabile Preise in einer sozialistischen Wirtschaft? > Zum festen Schatz marxistischer Propaganda gehörte seit Generationen auch die unhaltbare Behauptung, dass nur
>unter den Verhältnissen einer Marktwirtschaft Inflation möglich sei. Vom Staat festgesetzte Preise seien sozusagen per
>Definition stabil. Das ist natürlich Unsinn, wie spätestens im letzten Jahrzehnt durch die Entwicklung in fast allen sozialistischen
>Staaten klargeworden ist. Dennoch hat sich derartiges selbst in unsere nationalökonomischen Lehrbücher eingeschlichen.
>Samuelson und Nordhaus etwa erliegen in ihrem berühmten Werk der sowjetischen Desinformation: «Was immer sonst die
>Fehler des Sowjetkommunismus sein mögen», verkünden sie vollmundig, «die Probleme einer offenen Inflation... gehören
>nicht dazu»? > Die 74jährige Geschichte der Sowjetunion lehrt indes, dass gerade Preisstabilität nie etwas war, worauf
>kommunistische Machthaber hätten besonders stolz sein können! Gleich nach der Oktoberrevolution gab es die furchtbaren
>Geldwirren der frühen zwanziger Jahre. Der neue, per Dekret am 7. März 1924 eingeführte Rubel ersetzte ein Geld, das gerade
>noch ein Fünfzigmilliardstel des Vorkriegsrubels wert war! Und auch dieser Rubel von 1924 verlor rasch an Wert. Schon 1926
>war sein Schwarzmarktkurs um 60 Prozent gesunken. Auch zwischen 1928 und 1931 und dann natürlich im Krieg sind die
>Preise rasant gestiegen; vorsichtig gerechnet zwischen 1924 und 1949 auf das mindestens Fünfundzwanzigfache. Nicht gerade
>das, was man unter Preisstabilität versteht!' > In den Fünfzigern und wohl auch in den sechziger Jahren waren die Preise in der Sowjetunion offenbar
>einigermassen stabil, wenngleich die Statistiken diesbezüglich kein einheitliches Bild vermitteln. Spätestens ab den frühen
>siebziger Jahren aber kam es auch in der ehemaligen Sowjetunion wie in allen Industriestaaten der Welt wieder zu einem
>stärkeren Anstieg der Preise. Zwischen 1960 und 1985 beläuft er sich auf etwa 35 Prozent und bis 1988 auf nochmals knapp 20
>Prozent. 1989 nahm er mit einer Jahresrate von 50 bis 100 Prozent dramatische Ausmasse an. 1990/91 ging die Entwicklung in
>eine Hyperinflation über mit Preissteigerungsraten von 300 bis 500 Prozent! Ende Dezember 1991 kostete Wurst in Moskau
>zwanzigmal soviel wie 1985. Eier waren 35mal so teuer. Butter gab es vor Präsident Jelzins Preisreform überhaupt nicht mehr
>zu kaufen!
>
>Vergleich: Rubel gegen Dollar > Gewiss, auch anderswo sind über drei Generationen hinweg die Preise gestiegen. Für einen Dollar erhielt man 1930
>fast genau 11/z Gramm Gold; heute dagegen nur noch rund den siebzehnten Teil davon. Andererseits wurden nach Sedillot
>1930 am Schwarzmarkt in Moskau 50 Rubel für einen Dollar bezahlt; heute erzielt man, wie man täglich in der Zeitung liest,
>mindestens 100 Rubel pro Dollar. Hat der Rubel also im Verhältnis 100 zu 50, somit mindestens zweimal soviel, an Wert
>verloren wie der Dollar? > Falsch! Denn der heutige Rubel ist um einen, Faktor 100 «schwerer» als Anfang der dreissiger Jahre. Die
>Sowjetregierung hat nämlich zweimal, 1947 und Ende 1960, das jeweils alte Geld für ungültig erklärt und zehn «alte» gegen
>einen «neuen» Rubel umgetauscht. Anders ausgedrückt: der Wertverlust des Rubels seit Anfang der dreissiger Jahre ist nicht
>bloss zweimal, sondern zumindest zweihundertmal so gross wie der des Dollars!
>
>Potemkinsche Dörfer heute > Die Manipulation der öffentlichen Meinung, «systematische Agitation», wie man das schon am IX. Kongress der
>KPdSU Ende März 1920 in Moskau nannte, und zwar ausdrücklich «auch auf wirtschaftlichem Gebiet», ist für Kommunisten eine
>ausserordentlich wichtige Sache. Schon in den zwanziger und dreissiger Jahren gab Stalin für Auslandagitation Millionen aus.
>Im Laufe der Zeit wuchsen die diesbezüglichen Budgets beträchtlich an. In den achtziger Jahre beliefen sich die
>Gesamtausgaben dieses Apparates,;.der im übrigen, wie Vermaat berichtet,, eng. mit dem KGB verzahnt war, nach offiziellen
>Angaben. auf nahezu 2 Milliarden Dollar pro Jahr: die Tass verfügte über 550 Millionen; Novosti über 500 Millionen; «New
>Times» über 200 Millionen und der Auslandservice von Radio Moskau über 700 Millionen Dollar. 4) > Je mehr man diesen Fragen nachgeht,' um so beklemmender wird einem klar, wie erfolgreich sowjetische
>Wirtschaftspropaganda das Denken der Menschen im Westen während Jahrzehnten geformt hat: Josef Schumpeter sah, wie
>viele vor und nach ihm, in den vierziger Jahren den baldigen Untergang des kapitalistischen Wirtschaftssystems voraus. John
>Kenneth Galbraith von der Harvard-Universität meinte 1984, das sowjetische System habe «deshalb Erfolg, weil es im
>Gegensatz zur westlichen Industriewirtschaft vollen Gebrauch von seinen Arbeitskräften macht». Die Analysten der CIA
>überschätzten, wie der wortgewaltige Daniel Patrick Moynihan der CIA.unlängst vorwarf, konsequent über Jahrzehnte hinweg
>ohne Ausnahme und erheblich die Grösse und das Wachstum der Sowjetwirtschaft. Und der Nobelpreisträger Professor Paul
>A. Samuelson behauptet in zahlreichen Auflagen seines bereits erwähnten Lehrbuches, dass angeblich -die Zuwächse der
>Wirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion jene in den westlichen Industrieländern stets weit übertroffen hätten: «Tatsächlich»,
>verkünden Samuelson und sein Co-Autor mit einem Hauch von Begeisterung, «war das sowjetische Wirtschaftswachstum seit
>den zwanziger Jahren eindrucksvoll. Es verlief steiler als der langfristige Wachstumstrend in jeder Marktwirtschaft...»
>Deprimierende Wirklichkeit > Rechnet man anhand der hier unterstellten Wachstumsraten nach, so hätte die Sowjetunion die Länder im Westen
>längst einholen, ja überholen müssen. Jedenfalls hätte sich der Abstand im Lebensstandard zwischen der Sowjetunion und
>dem Westen notwendigerweise verringern müssen! Das aber war eben nicht der Fall! «Wir lebten viel schlechter als andere
>entwickelte Länden, sagte Präsident Gorbatschew in seiner Rücktrittsrede am Abend des Weihnachtstages 1991, «und wir
>fallen immer mehr hinter diese zurück.» Den hungernden Menschen in der ehemaligen Sowjetunion musste man das freilich
>nicht erläutern; sie wussten es ohnehin! Der Anteil der Sowjetunion an der Summe des Sozialproduktes der grossen
>Industrieländer war seit den fünfziger Jahren keineswegs gestiegen, wie es nach Samuelsons These hätte sein müssen,
>sondern dramatisch zurückgegangen: von knapp 30 Prozent 1960 auf schätzungsweise bloss noch ein Zehntel im Jahre 1990! > Aber es ist nicht etwa so, dass sich da erst in den sechziger Jahren irgendein Fehler ins System eingeschlichen
>hätte! Vielmehr führten schon die ersten Schritte der Sowjets Anfang der zwanziger Jahre zu einer verheerenden
>Wirtschaftskatastrophe. Der Sozialist Valentin Gitermann, ein bestimmt nicht böswilliger Kronzeuge, 5 schätzt, dass die
>gesamte Produktion in den Jahren 1921 /22 nur noch etwas mehr als zwei Fünftel des Standes von 1913 betrug und dass diese
>Einbusse erst 1927/28 wettgemacht werden konnte. Ausserdem wütete 1921 eine Hungerkatastrophe. In einzelnen
>Gouvernements gab es überhaupt keine Nahrungsmittel mehr. Millionen von Menschen liefen Gefahr, buchstäblich zu
>verhungern! Der Münchner Universitätsprofessor Fjodor Stepun, der diese Zeit in seiner Jugend durchlitten hatte, erinnert sich
>später daran mit den Worten: «Es fehlte in Moskau an allem. Die Menschen verhungerten zu Tausenden, starben an Typhus
>und «spanischer Grippe». Die um die Särge anstehenden Schlangen waren ebenso lang wie die auf Brot wartenden. Nur etwas
>gab es in hinreichender Menge Leichen in der Anatomie». 6)
>
>Stalins Fünfjahrespläne > Ab 1928 wurde von eindrucksvollen jährlichen Zuwachsraten berichtet. Aber was bedeuten solche Zahlen in Tat und
>Wahrheit? > Ota Sik, der in der Schweiz lebende frühere stellvertretende Ministerpräsident der Tschechoslowakei während des
>«Prager Frühlings»,' hat uns, was Wirtschaftsstatistiken aus kommunistischen Ländern betrifft, die Augen geöffnet: Erstens muss
>man dabei immer mit « beschönigten», d. h. gefälschten Daten rechnen - ein Sachverhalt, der im Zeitalter von Glasnost
>schliesslich sogar von sowjetischen Ã-konomen, etwa von Abel Aganbegyan, anhand einer Fülle von Beispielen bestätigt
>wurde." Zweitens ist es, wie Ota Sik gezeigt hat, unter den Verhältnissen einer sozialistischen Wirtschaft durchaus möglich,
>einerseits angeblich laufend die Produktion zu steigern, während in Wirklichkeit «der Lebensstandard der Bevölkerung
>unendlich langsamer wächst oder sogar stagniert>. Belege aus der ehemaligen Sowjetunion wurden ebenfalls im Zeichen von
>Glasnost nachgeliefert: Sik hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Sozialprodukt in der kommunistischen
>Planwirtschaft nach der Menge des verbrauchten Rohmaterials bemisst. In der Sowjetunion bestätigt sich dieser Sachverhalt
>dadurch, dass man dort doppelt soviel Stahl verbrauchte wie in den Vereinigten Staaten, obwohl die Zahl der Produkte aus
>Stahl nur einen kleinen Bruchteil der entsprechenden Anzahl in den USA ausmacht. Der Rest wird aus denselben Gründen
>häufig nicht einmal als Schrott verwertet, sondern einfach weggeworfen! > Oder: In der Sowjetunion wurden um die Mitte der 80er Jahre 3;2 Paar Schuhe je Kopf der Bevölkerung (!) -
>insgesamt 800 Millionen Paar Schuhe pro Jahr erzeugt, die zum grossen Teil unverkäuflich waren. Dies war der einfachste Weg
>für die Schuhfabriken, ihre Produktionspläne zu erfüllen und dadurch in den Genuss ihrer Leistungsprämien zu gelangen. Auch
>auf diesen Mechanismus hatte Sik bereits-vor fast zwanzig Jahren hingewiesen! > In solchem Licht betrachtet, verlieren selbstverständlich auch in der Periode von 1928 bis 1960 die offiziellen
>Wachstumsraten der sowjetischen Wirtschaft viel von ihrem Glanz. Und tatsächlich gibt es ein Anzeichen dafür, dass sogar
>Stalin mit den erzielten Ergebnissen nicht zufrieden war.
>
>War Russlands Wirtschaft 1917 «rückständig»? > Stalin bemühte als Rechtfertigung der Wirtschaftsmisere den angeblichen Rückstand «um 50 bis 100 Jahre», den die
>Entwicklung der Wirtschaft im zaristischen Russland gegenüber dem Westen gehabt habe. Dies war eine notwendige Antwort
>auf die Frage, weshalb es den Sowjetbürgern trotz dem behaupteten enormen Wachstum ihrer Wirtschaft noch immer nicht
>besser ging als den Menschen im Westen. > Im Laufe der Zeit ist durch ständige Wiederholprig aus dieser These von der wirtschaftlichen Rückständigkeit des
>Zarenreiches eine Ãœberzeugung geworden, die sich tief in unser Bewusstsein eingegraben hat. Selbst ruhige und sachliche
>Leute reagieren gereizt, wenn man diesen Sachverhalt in Frage stellt. Wobei wir ausdrücklich nicht von Demokratie reden und
>nicht von der Freiheit der Arbeiter oder von Menschenrechten, sondern vom Entwicklungsstand der Wirtschaft! > Jede halbwegs seriöse wirtschaftshistorische Analyse widerlegt nun allerdings sofort und ganz offensichtlich diese
>These Stalins: Zwar hatte Russland mit seiner Industrialisierung spät begonnen, sie ging nach dem Debakel des Krimkrieges
>jedoch überaus dynamisch vor sich. Das russische Eisenbahnnetz, dessen Streckenlänge 1865 erst 3800 Kilometer betragen
>hatte, erstreckte sich 1913 über eine Gesamtlänge von 75 000 Kilometern, davon 17 000 im unwirtlichen asiatischen Teil des
>Landes. Zum Vergleich: Auf dem Gebiet des Deutschen Reichs waren bis 1920 erst 62 000 Kilometer gebaut worden. Die
>russische Handelsflotte zählte 1914 rund 3700 Schiffe, diejenige Preussens nur 2300. Im Bergbau, in der Rohstahlerzeugung
>und im Maschinenbau stand Russland 1913 jeweils an vierter Stelle der Weltrangliste, hinter den USA, Deutschland und
>Grossbritannien, vor Frankreich und weit vor Ã-sterreich-Ungarn.' Im übrigen findet sich auch in dem erstmals 1899
>erschienenen Werk Lenins «Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland» kein Wort von einer angeblichen Rückständigkeit,
>sondern Lenin schwärmt darin geradezu von den Erfolgen der Industrialisierung in seiner Heimat. Und in den schon erwähnten
>Beschlüssen des IX. Kongresses der KPdSU vom Frühjahr 1920 ist ebenfalls nicht von Rückständigkeit, sondern von den
>«grundlegenden Bedingungen für das wirtschaftliche Wiederaufblühen des Landes» die Rede! > Es ist im höchsten Mass erstaunlich, dass das Märchen von der angeblichen Rückständigkeit Russlands bei uns im
>Westen unüberprüft und unwidersprochen so Karriere machen und selbst in die Geschichtsbücher eindringen konnte, nach
>denen unsere Kinder in der Schule heute unterrichtet werden!
>Der «neue Mensch» > Ein grotesker Propagandaerfolg Lenins und seiner Erben war es schliesslich, die Intellektuellen im Westen von der
>ethischen und moralischen Überlegenheit des Sowjetsystems und der Behauptung überzeugt zu haben, der «neue Mensch» in
>der Sowjetunion sei nicht mehr auf Profit und Geld erpicht; ja der als «Profit» diffamierte Gewinn sei überhaupt etwas höchst
>Verwerfliches. > John Maynard Keynes etwa entdeckt bei seiner 'Reise durch die Sowjetunion 1925, «dass im Herzen des
>russischen Kommunismus etwas... Belangvolleres lebt, (dessen)... ethischer Kern.. seinen Mittelpunkt in der Einstellung des
>Individuums und der Gemeinschaft zum Geld» habe (Short View of Soviet Russia, 1925). Und sogar den Kirchen erscheint
>mittlerweile alles, was mit «Profit» zu tun hat, als mehr oder weniger suspekt: Eine Untersuchung von etlichen hundert
>katholischen und evangelischen Religionsbüchern, die im Schulunterricht Verwendung finden, hat neben solchen mit
>ausgeprägt ideologischer Orientierung selbst in ideologisch unverdächtigen Schulbüchern erstaunliche Lehrinhalte entdeckt:
>Da wird das Leistungsprinzip mit Ausbeutung, industrielle Arbeit mit Galeerensklaverei, Rationalisierung mit profitorientierter
>Jobkillerei gleichgesetzt. 10) > In Wirklichkeit hat der Sowjetkommunismus keines seiner Versprechen eingelöst: Mit Sicherheit waren die
>Menschen in der Sowjetunion nicht «moralischen» als im Westen. Nach allen Berichten ist die Sowjetgesellschaft heute [Anm.
>Galiani: also 1992!] sogar durchsetzt von krimineller Schattenwirtschaft und Korruption. Und auch in den zwanziger und
>dreissiger Jahren las man häufig von Verhaftungen und Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten. 1928 etwa waren eine halbe
>Million Rubel Gewerkschaftsgelder verschwunden, und in den dreissiger Jahren erschoss Dserschinski als Verkehrsminister
>eigenhändig einen Bahnstationsvorsteher wegen finanzieller Verfehlungen. > Die hochmütige Industrialisierung der Sowjets, die das Arbeiterparadies hätte schaffen sollen, hat ganze Landstriche
>unbewohnbar gemacht.- wir erinnern uns an den Atomunfall von Tscheljabinsk 1957, der bis 1988 verheimlicht worden war, oder
>an den von Tschernobyl 1986. Zwei Drittel der Sowjetbevölkerung verdienten 1986 wenige als jene 200 Rubel pro Monat, die in
>der Statistik als eine Art Armutsgrenze galten. Und die Lebenserwartung der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion liegt 10
>Prozent unter der im Westen. > Dennoch fand das alles seltsamerweise nie die gebührende Aufmerksamkeit - wobei vermutlich auch dabei die
>kommunistische Propagandamaschine ihre Hand im Spiele hatte! Selbst Stalins Massenmorde wurden verdrängt. Vom
>Pulitzerpreisträger Walter Duranty, der in den dreissiger Jahren Moskaukorrespondent der «New York Times» war, ist die
>Äusserung überliefert, mit der er über «ein paar Millionen toter Russen» hinwegging: «... Völlig unwichtig... Bloss eine
>Randerscheinung des mitreissenden Wandels, der sich hier abspielt...» Wie eine gefährliche Droge vernebelte die
>Propaganda der Sowjets den meistern Beobachtern aus dem Westen das Hirn. > Die einzigen, die sich als immun dagegen erwiesen, waren einige ehrliche Sozialisten: Die Sowjetunion sei die
>Hölle, zitiert Lincoln Steffens die von dort zurückkehrende Emma Goldmann (Skandalbericht, 1974) [Anm. Galiani: Eine
>Kurzbiografie von Emma Goldmann aus der Ecyclopedia Britannica schließe ich am Ende bei.]. Im selben Atemzug aber
>macht er sich lustig darüber: Die Schwierigkeit der Sozialisten mit der neuen Sowjetunion sei, meinte er, dass sie am Bahnhof
>einen Bummelzug erwartet hätten, während ein Express an ihnen vorbeisause.
>Fußnoten: > 1 Wall Street Joumal - Europe, 16. Nov. 1991. > 2 P. A. Samuelson, W. D. Nordhaus: Economics, 1985; S. 776. > 3 H. Nagler: Die Finanzen und die Währung der Sowjetunion, 1932; R. Sedillot: Le Draine des Monnaies, 1937; A. J. > Brown: The Great Inflation 1939-1951, 1955. > 4 Die Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei Russlands (Moskau, 29. März bis 4. April 1920), > Leipzig 1920; § XIX, S. 34; U. Graf: Aktive Massnahmen - Eine Einführung in die sowjetischen Techniken der
>Beeinflussung, 1990; J. Bartun: KGB heute, 1983; J. A. E. Vermaat in: Problems of Communism, Nov. bis Dez. 1982;
>R Lewinson: Das Geld in der Politik, 1931. > 5 V. Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee, 1939; S. 226. > 6 F. Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution - Aus meinem Leben: 1884-1922, 1961. S. 375. > 7 0. Sik: Argumente für den Dritten Weg, 1973, 4. Kapitel. > 8 A. G. Aganbegyan (hrsg. v. M. B. Brown): The Economic Challenge of Perestroika, 1988; Die Beispiele wurden > von Aganbegyan auf einer Wirtschaftskonferenz 1988 in London erwähnt (Wall Street Journal - Europe, B. Fehr. 1988).
>Vgl. auch: S. Bialer: The Soviet Paradox: External Expansion, Internal Decline, 1987. > 9 B. R Mitchell: European Historical Statistics 1750-1975, 1980; The Statesman's Year-Book, Statistical and Historical > Annual of the States of the World, 75th Annual Publication, 1920. > 10 M. Spieker: Flucht aus dem Alltag? Arbeit, Wirtschaft und Technik in den Schulbüchern des katholischen und > evangelischen Religionsunterrichts, 1989.
>
>Britannica:
>Goldman, Emma
>(b. June 27, 1869, Kaunas, Lithuania, Russian Empire--d. May 14, 1940, Toronto, Ont., Can.), international anarchist who
>conducted leftist activities in the United States from about 1890 to 1917.
>The daughter of a government theatre manager, Goldman spent her early life in Königsberg, the capital of Prussia (now
>Kaliningrad, Russia), and St. Petersburg, the capital of Russia. She emigrated to the United States in 1885 and worked in a
>clothing factory in Rochester, N.Y., where she attended meetings of German socialists. Later she worked in New Haven, Conn.,
>where she met a group of Russian anarchists.
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Dionysos
24.06.2001, 13:02
@ Galiani
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Re: Russische Lethargie |
Hallo,
Danke für diesen Artikel, wie so viele hier in der Runde.
Es ist erstaunlich, wie die russischen Menschen so einen schweren
Leidensweg überstehen konnten. Doktor Schiwago ist ein Klassiker dazu.
Ein von Diktatur gelähmtes Volk.
Ich bat einen Freund, als er 96 dienstlich in St. Petersburg tätig war, einer
Familie, die ich dort 88 kennenlernt hatte, etwas Geld zu übergeben. Trotz
ihrer Armut weigerten sie sich dieses Geld anzunehmen. Gleichzeitig
opferten sie ihre letzten Rubel für die Bewirtung des Gastes. Ihr Stolz war
größer als ihr Hunger, nach einem gewonnenen 2. WK vom Verlierer Almosen
anzunehmen.
Wir sind in die gleiche Gelähmtheit und Lethargie gefallen. Anders ist es
nicht zu erklären, wieso in einer funktionierenden Demokratie, die Zwangs-
einführung einer neuen Währung, bis auf vier Professoren, ohne öffentliche Hinterfragung und Abstimmung hingenommen wird.
MfG
Dionysos
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