dottore
25.06.2001, 19:25 |
Das Mittelalter - was lernen wir daraus? Teil I (mit"Hochblüte"-Kritik)Thread gesperrt |
Hi History-Freaks,
und nun kommen wir zum MA, wie versprochen.
Dabei möchte ich zunächst die mittelalterliche Preisrevolution ab ca. 1100/1200 behandeln, da wir für Preise die einzigen einigermaßen brauchbaren Statistiken haben.
Der erste übrigens, der sich mit Preis- (und Inflations-)geschichte überhaupt beschäftigt hat, war William Fleetwood in seinem"Chronicon Preciosum", London 1707:
Dieses Phänomen bestätigt auch die folgende Nachaufnahme aus Angevin, wobei zu den Lebensmitteln auch die Energiepreise kommen, wobei sich in England zwischen 1261 und 1320 die Preise für Feuerholz mit Faktor 2,77, für Holzkohle mit 1,93 noch erheblich stärker verteuerten als jene für Vieh (1,77) und Weizen 1,66).
Äußerst ungünstig war die Lage in Deutschland, wo die Preise für kultivierbares Land (in Silber gemessen) zwischen 1100 und 1350 erheblich anstiegen und vor allem die Grundrenten, die schließlich geradezu explodierten.
Was wiederum den auch heute wieder zu beobachtenden Zustand zeigt: Immer weniger werden schneller reich, immer mehr verarmen, zumindest relativ. Ursache: Die Perma-Inflation. Wie sich die Zustände im Florenz der Frührenaissance dann entluden (Savonarola!) ist bestens bekannt.
Und da wir das MA nicht"als solches" hier diskutieren wollten, sondern als eine Zeit, die in andere Zeiten mündete, kann ich auf Grund der hier unzweideutig aufgezeigten Statistiken und Phänomene uns nur <font color="FF0000">den Weg hin zu schweren sozialen Verwerfungen weltweit</font> ankündigen (Globalisierungsdebatte!), die sich unschön entladen werden.
Ein hochinflationäres Hochmittelalter als beispielhafte Epoche der Menschheitsgeschichte zu akzentuieren, ist schlicht verantwortungslos.
Gruß
d.
<center>
<HR>
</center> |
André
25.06.2001, 19:57
@ dottore
|
Re: Das Mittelalter - was lernen wir daraus?"Hochblüte"- Fleißarbeit! |
Vielen Dank, Merci beaucoup.
Prima untermauert, was ich nur so ungefähr in Erinnerung hatte,
nämlich, daß von interessierter Seite bewußte Geschichtsklitterung betrieben wurde und noch immer wird.
A.
<center>
<HR>
</center> |
black elk
25.06.2001, 20:06
@ dottore
|
Weizenpreise |
[img][/img]
<center>
<HR>
</center> |
Boyplunger
25.06.2001, 20:50
@ dottore
|
Wie groß ist die Vernunft? |
Lieber Dottore!
Wenn die globalen Kreditketten reißen, d.h. wenn es den großen Schuldnern"im Weltmaßstab" an den Kragen geht, dürfte es auch für die großen Gläubigern sehr ungemütlich werden. Zumal es schon vorgekommen sein soll, daß einzelne Herrschaften vom"aufgebrachten und seiner Existensgrundlage beraubten Pöbel" ins Nirvana gepustet wurden. Darüber hinaus dürften sie im Falle eines Zusammenbruchs ihrer größten Schuldner ( der Nationalstaaten) selber vom wirtschaftlichen Untergang bedroht sein. Also dürften sie in ihrem eigenen Interesse an einigermaßen stabilen Verhältnissen interessiert sein, was bedeutet Teilbankrotte zuzulassen. (Was im Endeffekt wenigstens ein Teil ihres Vermögens rettet.) Das setzt natürlich ein Mindestmaß von Vernunft voraus. Wie groß schätzen Sie die Chance, daß diese Herrschafften diese Vernunft aufbringen werden.
Gruß B.
<center>
<HR>
</center> |
dottore
25.06.2001, 21:12
@ Boyplunger
|
Re: Wie groß ist die Vernunft? |
Lieber Boyplunger,
Herzlichen Dank für Deine Aufmerksamkeit und Frage. Das Problem ist verzwickt, denn:
>Wenn die globalen Kreditketten reißen, d.h. wenn es den großen Schuldnern"im Weltmaßstab" an den Kragen geht, dürfte es auch für die großen Gläubiger sehr ungemütlich werden.
Ja, das ist ganz genau so wie Du schreibst.
>Zumal es schon vorgekommen sein soll, daß einzelne Herrschaften vom"aufgebrachten und seiner Existensgrundlage beraubten Pöbel" ins Nirvana gepustet wurden.
Klassisches"Revolutions"-Phänomen. Revolutionen gingen ja immer um entweder a) Umverteilung von Vermögen oder b) Umverteilung von Forderuneg, alias Schulden.
>Darüber hinaus dürften sie im Falle eines Zusammenbruchs ihrer größten Schuldner ( der Nationalstaaten) selber vom wirtschaftlichen Untergang bedroht sein.
DAS ist der Knackpunkt. Können sich die Nationalstaaten als"Körperschaften" außerhalb des Wirtschaftsgeschehens sehen oder sind sie TEIL desselben (weil sie eine Bevölkerung repräsentieren, die Gläubiger und Schuldner in ein und serselben Person ist).
<Also dürften sie in ihrem eigenen Interesse an einigermaßen stabilen Verhältnissen interessiert sein, was bedeutet Teilbankrotte zuzulassen. (Was im Endeffekt wenigstens ein Teil ihres Vermögens rettet.)
Dieses ist der Casus cnaxus! Gelingt es"Teilbankrotte" durchzuziehen, ohne dass dies sich auf die gesamte Wirtschaft auswirkt? Ich weiß noch, wie HERSTATT pleite ging, und da hatten alle Banken eine offene Flanke. Und heute? Wen juckt denn der Bankrott der Berliner Bankgesellschaft?
Wir müssen uns mit der zunehmenden Dickfelligkeit (="Systemvertrauen") des Publikums in solchen Fragen anfreunden. Damals, 1931, kippte die Pleite der Danat-Bank den Rest der Banken. Aber wird heute eine Pleite der CoBank noch irgendjemand wirklich aufregen?
DAS ist die Frage!
>Das setzt natürlich ein Mindestmaß von Vernunft voraus. Wie groß schätzen Sie die Chance, daß diese Herrschafften diese Vernunft aufbringen werden.
Es gibt jede Menge vernünftiger Vorschläge, das Schulden- bzw. Überschuldungsproblem aus der Welt zu schaffen (irgendjemand trifft's allerdings immer - und seien es nur die Aktionäre, die sich mit Kapitalschnitt anfreunden müssen).
Es ist und bleibt eine Frage der Psychologie: Lasse ich mir DM 1000 aus der Tasche ziehen, ohne dass ich anfange, zu krakelen?
Ich weiß es nicht!
Besten Gruß (und dran bleiben!)
d.
<center>
<HR>
</center>
|
Der Unsichtbare
25.06.2001, 21:39
@ dottore
|
Hypotheken |
>Damals, 1931, kippte die Pleite der Danat-Bank den Rest der Banken. Aber wird heute eine Pleite der CoBank noch irgendjemand wirklich aufregen?
Dottore,
lässt sich die Frage so stellen? Was bedeutet aufregen? Setzen Sie voraus, daß bei"Ruhe bewahrendem" Publikum (Bankkunden / Einleger) nichts geschehen müsste? Ggf. weil an"runden Tischen" in aller Ruhe, aber mit kaltem Schweiss auf der Stirn, beraten würde?
Ich vermute, daß wir schon sehr, sehr weit fortgeschritten sind. Und zwar soweit, daß es nur noch um Verteilung des Schwarzen Peters geht. Hat die Reise nach Jerusalem begonnen und soll der ahnungslos sich auf risikoarme Hypothekenbank-Aktien freuende"Privatmann" auf jeden Fall schon mal als erster ausbuchen?
Anders kann ich die Grossbanken-Aktion mit der Zusammenlegung des Hypo-Geschäftes leider nicht deuten. Am wenigsten überzeugt mich das Argument"Kosteneinsparungen". Wenn es danach ginge, empfehle ich die Schliessung des Betriebes und der Bücher. Billiger gehts nicht.
Aber noch mal meine Frage vom ersten Absatz: geht es ums Stillhalten?
Oder wird einfach nur noch fällig gestellt werden müssen - ich oder Du...
MfG!
<center>
<HR>
</center> |
Fontvieille
25.06.2001, 22:54
@ dottore
|
Re: Das Mittelalter - was lernen wir daraus? Teil I (mit"Hochblüte"-Kritik) |
Hallo dottore,
ich muß gestehen, daß ich etwas gerührt war, als ich Ihr Posting über das Mittelalter eben gesehen und gelesen habe. Ich finde es klasse, daß Sie hier einfach so Ihnen völlig fremden Menschen eine Art Geschichtsunterricht erteilen. Da ich es war, der die MA-Debatte hier vom Zaun gebrochen hat, möchte ich noch was dazu sagen: ich habe Ihre und meine letzten Postings zu diesem Thema nochmal gelesen und dabei ist mir aufgefallen, daß mein vorletztes recht forsch und fordernd war. Das finde ich nicht richtig, denn wie komme ich dazu, irgendwelche Ansprüche an Sie oder irgendjemand sonst zu stellen? Es ist mir leider erst jetzt aufgefallen, tut mir leid und ich hoffe, Sie nehmen’s mir nicht übel.
Nun zum Mittelalter: Beim Lesen Ihres Postings fiel mir auf, daß ich spannender als die Daten bezüglich der Preise im MA die darauf bezogene Vorstellung vom MA bzw. Projektion (im psychologischen Sinne) aufs MA fand, die die Leute später vornahmen (Freiwirte sowie die beiden Bücher, die Sie aufgeführt haben). Da scheinen einige auf der Suche nach einer „hehren, reinen Zeit“ zu sein. Das kommt den Gründen nahe, aus denen heraus ich dieses Thema angesprochen habe: Wo bekommen wir (oder „interessierte Kreise“) das Unterfutter her für den so allmählich anstehenden System- und Denkwechsel? Diese Projektion eines „sauberen Geldsystems“ ins Mittelalter ist so ein wenig das, was ich mir vorstellte oder wonach ich auch gesucht habe.
Nicht ganz schlau werde ich aus der Rezeption des MA während der Nazi-Zeit. Letzte Woche war ein recht guter Artikel im „Spiegel“ über Architektur im 3. Reich. In diesem Artikel hat der Verfasser darauf hingewiesen, daß die ästhetischen Vorbilder der Nazi-Architektur aus der Antike und der Renaissance kamen, und daß Hitler die Gotik ablehnte. Zugleich aber hat man versucht, gerade aus den Versatzstücken bzw. Vorstellungen vom Mittelalter so etwas wie eine deutsche „ideelle“ Kultur zu schaffen (Wagners „Meistersinger“). Irgendwie hat man die Diesseitigkeit von Antike und Renaissance mit der Mystik des Mittelalters verbinden wollen, ohne allerdings die Jenseitsbezogenheit dieser Mystik dabei haben zu wollen - denn der Heiland war nicht im Himmel, sondern am Rednerpult des Parteitags.
Das mit den Großsakralbauten im MA stellt m.E. auch keine „Hochkultur“ oder „Blütezeit“ dar, denn es war wohl eher die Konzentration aller Kräfte auf ein einziges Projekt. Besonders gut finde ich ist es z.B. in Chartres zu sehen, wo die gigantische Kathedrale von einem bedeutungslosen kleinen und ärmlichen Dorf umgeben ist. Es war wohl keine Kraft mehr für etwas anderes übrig. In Vezelay ist es genau so.
Sie schreiben, daß eine Wiederholung dieser für den „kleinen Mann“ sehr unerquicklichen Zeiten abwegig und sogar völlig ausgeschlossen sei. Da bin ich hellhörig geworden: weshalb denn nicht? Natürlich raffinierter und getarnter, nicht über eine so lange Zeitepoche, aber eine Enteignung durch Inflation ist doch gerade unterwegs. Hochinteressant auch die Entwicklung der Vermögensverteilung: haben wir das nicht auch seit geraumer Zeit in unserem Kulturkreis, eine sich immer weiter verschärfende Verteilungskluft?
Frage: kann man sagen, daß die Zeit der „Hochgotik“ insgesamt eine inflationäre gewesen war? Wo kam denn dieser langdauernde Inflationsdruck her? Waren es die permanenten Kleinkriege untereinander und gegen die Araber?
Um die Sache nicht zu verzetteln: Der Ausgangsgedanke war, daß das MA als eine unserer Zeit sehr fremde Epoche, vor allem hinsichtlich der Prioritätensetzung hin zu einem mystifizierten Jenseits, uns Aufschlüsse darüber geben könnte, welche Richtung die Reise demnächst nehmen könnte. Besonders interessant wäre da die Frage, wie die im Vergleich zu heute sehr viel stärkere Jenseitsbezogenheit sich aufs Wirtschaftsleben ausgewirkt hat. Heute werden die Leute durch „positive Thinking“ verdummt - und im MA? Denn wenn „positive thinking“ in einer langen Wirtschaftskrise als wirkungslos entlarvt wird, muß doch eine neue „Sau“ her, die man dann durch’s Dorf treiben kann - und nach der suchen wir hier, auch im MA.
Danke für den Buchtip (Borst: Alltagsleben im Mittelalter), ich werde es mir besorgen und lesen.
Gruß, F.
<center>
<HR>
</center>
|
JÜKÜ
26.06.2001, 00:01
@ Fontvieille
|
Re: @Fontvieille / Das Mittelalter - was lernen wir daraus? Teil I |
>Hallo dottore,
>ich muß gestehen, daß ich etwas gerührt war, als ich Ihr Posting über das Mittelalter eben gesehen und gelesen habe. Ich finde es klasse, daß Sie hier einfach so Ihnen völlig fremden Menschen eine Art Geschichtsunterricht erteilen.
Ja, so ist er,"unser" dottore!
Nicht umsonst hat Tobias im Vorwort zum"UMBRUCH" geschrieben:
Ganz herzlich möchte ich mich bedanken bei allen, die es ermöglicht haben,
speziell aber Dr. Paul C. Martin, Vordenker in der ökonomischen Theorie
und Praxis des Debitismus, engagierter Idealist und stets „in
Vorleistung“. Unermüdlich erklärt, veranschaulicht und hinterfragt er
Theorien, Sachverhalte und Wirkmechanismen der Wirtschaft und übt so eine
unerhört wertvolle Lehrtätigkeit aus, die gleichzeitig auf die Argumente
einzelner eingeht und das Interesse aller anspricht.
SO IST ES! Dottore ist EINMALIG!
... und das Mittelalter macht er zusätzlich mit links...
<center>
<HR>
</center> |