Gessler, ermordet 1291
Von Willi Wottreng
Weshalb der visionäre habsburgische Beamte Hermann Gessler von wild gewordenen Waldleuten umgebracht wurde. Ein Lehrstück aus der Gründerzeit der Schweiz für die Mächtigen von heute
Im Jahr 1291, so steht es jedenfalls in den Schulbüchern, fällt in der Innerschweiz ein hoher Staatsbeamter einem Anschlag zum Opfer. Vom Pfeil der Armbrust getroffen, stürzt er vom Pferd. Wenn der Mörder - Tell, Wilhelm aus Bürglen - später auch als pure Legendenfigur entlarvt wird, ist die Sachlage beim Opfer anders.
Einen Hermann Gessler, «Reichsvogt in Schwyz und Uri», wie ihn Schiller in seinem Tell-Drama auf die Bühne bringt, hat es allerdings ebenfalls nie gegeben. Das «Weisse Buch» erzählt zwar auf 66 packenden Zeilen die Ursprungslegende der Eidgenossenschaft - es ist die erste schriftliche Version der Geschichte - und berichtet von einem «Gijssler, dero von Urij und Schwijtz landvogt». Der habe bei der Linde in Altdorf einen Hut auf eine Stange stecken lassen, einen Knecht hingestellt und das Gebot ausrufen lassen: Wer da vorbeigehe, solle sich verneigen, als wäre der Herr selbst anwesend. Das Buch aber wurde erst am Ende des 15. Jahrhunderts verfasst, fast zweihundert Jahre nach den Geschehnissen, von einem Kanzlisten zu Sarnen, der die Fantasie des kollektiven Gedächtnisses für bare Münze nahm.
In einer anderen Chronik wird der Herr, der später dem Grussverweigerer Tell befahl, auf einen Schweizer Qualitätsapfel zu schiessen, Grissler genannt, und in einer dritten soll es ein «Graf von Seedorf» gewesen sein; Seedorf liegt auf Urner Boden am Südende des Vierwaldstättersees.
Im Unterschied zur Tell-Figur lassen sich bei Gessler historische Personen nachweisen, die die Legende inspirierten. Es gab eine Familie Gessler im aargauischen Freiamt aus dem Dorf Wiggwil. Als die Waldstätte den Landvogt Gessler der Legende nach umgebracht haben sollen, waren die leibhaftigen Gessler allerdings noch kleine Ministeriale, Bedienstete im Solde Habsburgs. Durch Rührigkeit, vermutlich gemischt mit der unerlässlichen Arroganz und Untertänigkeit - beides am richtigen Ort -, mehrten sie Vermögen und Einfluss und übernahmen bald verschiedenste Ländereien in Pacht oder zu Eigentum. Ihr Aufstieg ist eng mit jenem der Habsburger verknüpft, die von lokalen Adligen zu Grafen und Herzögen des deutschen Reichs kletterten und schliesslich zur Königswürde gelangten. Wien wurde ihre Hofburg, und Ã-sterreich - wo man Leute von der Art der Gessler höflich grüsst - zum Synonym für «Habsburger».
1319 gelangt Heinrich Gessler, Sohn eines Küchenmeisters der Habsburger, zur Ritterwürde. Und 1375 hält er tatsächlich das Amt eines Landvogtes inne, aber nicht in Altdorf, wie der Gründermythos will, sondern im zürcherischen Schloss Grüningen. Auf Heinrich folgt noch ein Heinrich und erst dann ein Hermann Gessler, Namensvetter der Legendenfigur.
Stolze Leute dürften die Gesslers schon gewesen sein: Ihre Helmzier war ein Pfau mit gestellten Federn in Silber und Blau. Obwohl sie die Grüninger Vogtei nicht schlecht verwalteten und keineswegs ausbluten liessen, kam es zu Konflikten. Als einem Zürcher Bürger gemäss österreichischem Recht wegen Unterschlagung die Augen ausgestochen und die Zunge ausgerissen wurden, galt in den Augen der Untertanen dieser Hermann Gessler als der Schuldige im Hintergrund.
Schnell wurde aus einem Familiennamen eine Art Gattungsbegriff: ein Gessler, das war fortan ein Bösewicht, ein Feind der Eidgenossen, ein Handlanger der Habsburger. Als im fünfzehnten Jahrhundert die Gründersage schriftlich fixiert wurde, war für die Chronisten klar: Die Waldstätte hatten sich gegen einen Gessler zur Wehr gesetzt. Chroniken und Dokumente zu fälschen, war im späten Mittelalter nichts Ungewöhnliches, es diente der Legitimation alten Wissens: Möglicherweise ist auch der auf 1291 datierte Bundesbrief erst im 15. Jahrhundert verfasst worden. Mit solchen kriminologischen Details haben wir uns hier allerdings nicht zu beschäftigen.
Gessler jedenfalls erhielt von den Chronisten die Würde des Tyrannen. So wie sie ihn ins Leben riefen, liessen sie ihn in verschiedenen Varianten ums Jahr 1300 sterben, als der echte Hermann noch nicht geboren war. Es war eine Art von pränataler Tötung.
Unstimmig an den Hut- und Apfelschussgeschichten ist vor allem eines: Es gab in Uri in jenen Jahrzehnten keinen Landvogt und also auch keinen Tyrannen; Uri war «reichsfrei», die Habsburger wollten damit die Landleute günstig stimmen, um ihren Einfluss auf die Gotthardroute abzusichern. In Schwyz und Unterwalden gab es zwar Vögte, aber keinen Gessler. Wollte man eine Legendenfigur Gessler schaffen, die näher an der historischen Wirklichkeit liegt, müsste man einen Beamten in habsburgischem Dienst zeichnen, der in den Waldstätten einigen privaten Besitz verwaltete und vielleicht auch eine österreichische Partei organisierte. Ein weitsichtig denkender Mann im Dienste eines grösseren Reiches.
Denn Habsburg war damals eine fortschrittliche Kraft. Ihr erster König, Rudolf, den Waldstätten keineswegs feindlich gesinnt, scheint übrigens ein populärer Herrscher gewesen zu sein. Das Projekt, das er verfolgte, war jedenfalls grossartig: Er wollte ein überregionales Staatsgebilde schaffen, welches der expandierenden Wirtschaft ein entsprechendes Kleid abgab. Die verzettelten Ländereien sollten zu einem einzigen Territorialstaat zusammengeschlossen, die Kirchturmpolitik durch eine Reichspolitik ersetzt werden. Auch den Hinterwäldlern in den obersten Alpentälern sollte eine glänzende Zukunft erschlossen werden.
Doch die Leute aus Uri und ihre Nachbarn in Schwyz und Unterwalden wollten nicht begreifen, wie zukunftsorientiert der habsburgische Entwurf war. Sie hatten nur ihre Allmenden im Blick, ihre Alpgenossenschaften, das kleine Eigentum der freien Bauern, örtliche Vorrechte - und den Gewinn, den sie aus dem Alpentransit in die eigene Tasche wirtschaften konnten. So widersetzten sie sich den Beamten, die ihnen vom einheitlichen Zollgebiet erzählten; so sahen sie in Gessler den Dunkelmann. Die Menschen, die der Zufall an den Abhang eines Transitpasses geschneit hatte, benutzten die strategisch günstige Lage zur Blockierung der alpenquerenden Einigungspläne. Hätte es damals schon die Neat-Baustellen gegeben, hätten sie diese besetzt.
Als Revolutionäre verstanden sich diese Eidgenossen jedenfalls nicht, wie der Bundesbrief zeigt. Da findet sich keine politische Vision, nur das defensive Bekenntnis zur gegenseitigen Unterstützung bei einem böswilligen Angriff. Das hatten sich die Waldleute schon früher einmal versprochen. Neu war allenfalls die Ablehnung aller fremden Richter - womit wohl jeder höhere Beamte gemeint war -, Leute vom Schlag Gesslers eben. Als ein «konservatives Dokument» bezeichnet selbst der konservative Historiker Peter Dürrenmatt den Bundesbrief.
In Parzellen denkende Bauern waren es, die ihn auf dem Rütli beschworen, unterstützt von Adeligen, denen es nicht vergönnt war, an der Hofburg in Wien zu Amt und Würden zu kommen. Das Einzige, was sie wollten, war Autonomie. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten setzten sie den habsburgischen Verwaltungsleuten ihren Widerstand entgegen, vertrieben Beamte, erstürmten Burgen. Bis es schliesslich 1315 zum Kräftemessen bei Morgarten kam, wo das Landvolk in den weissen Hirtenhemden die hochgerüsteten Truppen Habsburgs mit einer Baumfällaktion besiegte.
Als einige Jahrzehnte danach auch noch die Seekopfstädte Luzern und Zürich zum Bund der Waldstätte stiessen, waren die eidgenössischen Regionalisten nicht mehr zu bremsen.
Im Laufe der Jahrhunderte geschah etwas, was die Tat der Eidgenossen in einen anderen Zusammenhang stellte. Die Lücke, die sie in den Grossstaatsplan der Habsburger gerissen hatten, strahlte plötzlich in hellem Licht. Mit den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts erschien der Bund der Eidgenossen als früher Nationalstaat, ja als erste Demokratie modernen Typs in Europa überhaupt, Vorläufer aller bürgerlichen Staatsgründungen.
Immer wird die Vergangenheit neu erfunden.
Der Regionalismus der Waldstätte zeigte sich im Nachhinein als der wahre Fortschritt. Das Schwurgebilde, das die Eidgenossen schufen, wurde nun als Keim der Neuzeit gesehen. Die Vernetzung der Genossenschaften als Staatsform der mündigen Bürger. Die Kräfte aber, die den Fortschritt im Wappen trugen - die habsburgischen Staatslenker und ihre Beamten -, erweisen sich am Schluss der Geschichte als abgehobene Erneuerer, die die Menschen in die Sackgasse führen. Opfer der von ihnen selbst ausgelösten Modernisierungsbewegung.
Gessler, der die Nase vorn hatte, liegt im Dreck. Die Waldleute, die den Blick in die Vergangenheit gerichtet hatten, marschieren rückwärts in die Zukunft.
Kein Geringerer als der Historiker Jean-François Bergier - der mit der Bearbeitung der jüngeren Schweizer Vergangenheit betraut wurde - schrieb mit Blick auf europäische Einigungsmodelle über die genossenschaftlichen Waldleute jener Zeit: «Indem sie sich zusammenschlossen, waren sie die Ersten, die - selbstverständlich unbewusst - Bezug nahmen auf das heutige Zukunftsbild Europas: eine Gemeinschaft, die vom Willen der Beteiligten getragen wird und deren Bedürfnissen entspricht.» Im Buch «Wilhelm Tell - ein Europäer» hat Bergier die Männer im Hirtenhemd zu den Vorkämpfern eines Europa der Regionen erklärt. Heute, im Kontext der Globalisierung, verschiebt sich dieses Bild weiter; nun stehen sie in einer Parallele zu den Globalisierungsgegnern. Nur dass diese über keine eigenen Ländereien verfügen, in denen sie ein Gegenmodell aufbauen könnten.
Es ist Zeit, die Geschichte noch einmal umzuschreiben: Bei Morgarten holten die weiss gekleideten Stosstrupps der eidgenössischen «Tute bianche» die habsburgischen Globalisierer vom hohen Ross.
Aus der Weltwoche
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