Japan hat keine Wahl
Von Martin Kölling
Erst wenn die Regierung in Tokio gegen den gesunden Menschenverstand verstößt, können sich die Aktien berappeln.
Ministerpräsident Junichiro Koizumi liebt die Oper. Sie hat ihn gelehrt: Wer als Politiker fesseln will, braucht eine klare Rolle, Gegner und die
Gefahr tragischen Scheiterns. Koizumi hat im politischen Ränkespiel den Charakter des Weißen Ritters gewählt, der Japan vor dem Untergang
retten will. Sein Text:"Ohne Reformen keine Erholung" und"ohne Schmerzen kein Gewinn". Dunkle Gesellen zuhauf liefert die eigene
Liberaldemokratische Partei.
Wo ist der Boden?
Er hat Erfolg - soweit es die Wähler angeht. Sie werden Koizumi, beeindruckt von dessen Kampf, laut Meinungsumfragen mit einem Wahlsieg
jetzt das ersehnte Reformmandat geben: Am Sonntag wird das Oberhaus zur Hälfte neu besetzt. Die Investoren indes ließen sich nur kurz vom
Schauspiel fesseln. Von einem Tiefstand unter 12.000 Punkten im März trieben sie bis zur Verkündung des Koizumi-Kabinetts im Mai das
bekannteste japanische Börsenbarometer, den Nikkei-225-Index, um 23 Prozent in die Höhe. In dieser Woche unterbot der Nikkei den
März-Wert bereits wieder. Anleger und Analysten fragen sich: Wo ist der Boden? Welche Reformpolitik kann den Trend wenden?
"Es gibt keinen natürlichen Boden", warnt Peter Tasker von Dresdner Kleinwort Wasserstein. Dem stimmt Ryoji Musha, Chef-Stratege der
Deutschen Securities in Tokio, zu. Er sieht den Nikkei bei 10.000 Yen innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate. Allerdings taugt der Nikkei
zum historischen Vergleich nur noch bedingt, weil er im April 2000 durch eine Neuzusammenstellung quasi über Nacht 3500 Yen verloren hat.
Der aussagekräftigere Topix der Tokioter Börse könnte sogar den Tiefststand der vorigen Dekade vom Oktober 1998 (980 Punkte)
durchbrechen. Am Mittwoch schloss er mit 1189 Punkten.
Faule Kredite
Die Schwäche hat strukturelle Gründe. Erstens hing die japanische Wirtschaft in den vergangenen zwei Jahren von der US-Konjunktur und der
IT-Nachfrage ab. Beides trägt nicht mehr. Zweitens die Banken:"Einige sind praktisch insolvent", verrät ein Analyst hinter vorgehaltener Hand
das weltweit bekannteste japanische Geheimnis. Die Banken ächzen unter - offiziell - 18.000 Mrd. Yen an faulen Krediten. Analysten gehen von
weit höheren Summen aus.
Entscheidend ist jedoch eine einmalige Kombination extremer Anomalien, sagt Musha. Die Zinsen sind mit null Prozent auf Rekordtief, das
Haushaltsdefizit ist so hoch wie nie, das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Deflation ausgebrochen. Und Japan sitzt in der
Liquiditätsfalle. Das bedeutet, dass wegen niedriger Zinsen niemand Wertpapiere, aber jeder Bargeld hält. Pumpt die Zentralbank Geld in den
Markt, horten die Akteure es, anstatt es in den Wirtschaftskreislauf zurückzuschießen.
Bittere Medizin ist nötig
"Die Mechanismen der marktwirtschaftlichen Ressourcen-Verteilung haben aufgehört zu funktionieren", sagt Musha. Die Investmentbank Morgan
Stanley Dean Wittersieht das japanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im bis März 2002 dauernden Haushaltsjahr um 1,1 Prozent sinken. Um
diesen Teufelskreis zu durchbrechen, fordern Analysten bittere Medizin."Die Märkte erreichen erst den Boden, wenn die Regierung ein
Programm zur Bankenrettung vorlegt", urteilt Tasker. Musha fordert die Nationalisierung von Banken, die Übernahme der faulen Kredite durch
den Staat und den Austausch des Managements. Eine gezielte Inflationspolitik der Regierung müsse sich anschließen. Mushas Konzept:"Die
Bank von Japan druckt Geld. Die Regierung vergisst trotz einer Staatsverschuldung von bald 130 Prozent des BIP ihre haushaltspolitische
Zurückhaltung und senkt die Steuern, steigert die Ausgaben für Erziehung und das Sicherheitsnetz. Der Yen wird abgewertet. Die Aktien
steigen." Nur so könne der Bargeldhunger der Japaner beendet werden.
Ob die zweite Pille wirkt, ist umstritten. Das weiß auch Musha:"Kapitalinjektion und Inflationspolitik ist unter normalen Umständen total
irrational", gesteht er zu. Würde seine Rezeptur umgesetzt, hätte sie ernste Nebenwirkungen."Aber das ist immer noch besser als zu sterben."
Wahlversprechen als Hindernis
Ob Koizumi den Kur-Vorschlägen der Analysten nachkommt? Vor September wohl nicht, argwöhnt Analyst Tasker. Zuerst muss er
Strukturreformen und Deregulierung gegen die mächtigen Interessengruppen in seiner Partei durchsetzen, die nach den Wahlen mit offenen
Attacken beginnen werden. Doch er hat gute Chancen, die Übermacht mit der öffentlichen Meinung und den Medien im Rücken zu schlagen.
Das größte Hindernis für weitergehende Maßnahmen sind seine Wahlversprechen. Erstens hat er eine unpopuläre Rekapitalisierung der Banken
bisher abgelehnt. Zweitens hat er festgelegt, ab kommendem Jahr die Neuverschuldung auf 30.000 Mrd. Yen, rund sechs Prozent des BIP, zu
begrenzen - dieses Jahr ist die Summe bereits fast ausgeschöpft. Koizumis Genosse und Finanzminister im Wartestand Yasuhisa Shiozaki
schätzt, dass allein das seines Erachtens notwendige Bankennotpaket 15.000 Mrd. Yen kosten wird. Dazu kämen Staatsausgaben für die
Inflationspolitik. Koizumi müsste von seinem Versprechen abrücken.
Unmöglich ist das nicht. Der Druck dazu wird, wenn Mushas Albtraum zutrifft, von den Märkten und vor allen den USA kommen."Japan als
Kapitalexporteur ist eine Lebensader der US-Wirtschaft. Sollte Japan bei dieser schwachen Weltkonjunktur in eine deflationäre Spirale stürzen,
könnte das zu einer Repatriierung von Vermögen führen." Hässlich reckt eine große Depression ihr Haupt. Wenn’s so hart kommt, wird Koizumi
voraussichtlich nicht auf seinen Positionen beharren, hat sein Staatsminister für Wirtschafts- und Haushaltspolitik Heizo Takenaka bereits
angedeutet:"Wenn ein Notfall auftritt, wird die Regierung sehr schnelle und umfassende Aktionen beschließen."
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