Gastkommentar: IWF und das Beispiel Argentinien - Die internationale Finanzautobahn muss dringend in Stand gesetzt werden, bevor noch andere auf ihr verunglücken
<font size=5>Ein Musterschüler in der Krise - und alle sehen zu</font>
Von ANDRES VELASCO. Andrés Velasco ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Kennedyschule für Regierungswesen der Universität Harvard.
<font color="#FF0000">Für Argentinien, das in einer schweren Finanzkrise steckt, gibt es zwei mögliche Szenarien. Im schlechteren Fall wird das Land in Zahlungsverzug geraten und einen Run auf seine Banken und eine Abwertung der Währung erleben, so dass die Schwellenländer in der ganzen Welt davon angesteckt werden</font>. Im besseren Fall kann der Zahlungsverzug verhindert werden, aber nur durch Auflage derart strenger Sparmaßnahmen, dass die Wirtschaft in diesem und im nächsten Jahr schrumpfen und dem Land große Entbehrungen auferlegt werden.
Es steht noch nicht fest, welches Szenario eintreten wird, aber eines ist klar: Das internationale Finanzsystem versagt bei Ländern mit mittlerem Einkommen. In den vergangenen zehn Jahren wurden wir <font color="#FF0000">Zeugen von Zusammenbrüchen in Mexiko, Brasilien, Venezuela, Korea, Thailand, Malaysia, Indonesien, den Philippinen, Russland und der Türkei</font>. Wenn sich nichts ändert, <font color="#FF0000">wird Argentinien nicht das letzte Land sein</font>.
Man ist versucht, die Finanzwelt wie ein moralisches Spiel zu sehen: Länder in Not müssen etwas falsch gemacht haben, und der Bankrott ist ihre angemessene Bestrafung. Im Fall von Argentinien, einem Land mit einer Geschichte der kontrollierten Finanzen, ist diese Versuchung größer als sonst. Wenn dem Land heute niemand mehr Kredit gewährt und die Regierung damit an den politischen und wirtschaftlichen Abgrund gerät, muss das daran liegen - so die Argumentation der Weisen von der Wall Street -, dass die verantwortungslosen Politiker das Geld mit vollen Händen ausgegeben und bedenkenlos Kredite aufgenommen haben.
Falsch. Argentinien befindet sich am Rand des Zahlungsverzugs, weil die Investoren damit rechnen, dass es zahlungsunfähig wird, nicht, weil das Land sich etwas hat zu Schulden kommen lassen. Argentinien steckt im <font color="#FF0000">dritten Jahr der Rezession, die Arbeitslosenquote liegt bei 15%</font>. Trotz der Versuchung, Geld auszugeben und so die Krise zu überwinden, verzeichnete das Land vergangenes Jahr einen Haushaltsüberschuss von einem Prozent des Binnenertrags, aus dem nach Berücksichtigung der Zinszahlungen ein Gesamtdefizit von 2,4 Prozent wurde. <font color="#FF0000">Die Staatsverschuldung lag bei gemäßigten 45%</font>.
<font color="#FF0000">Solche Zahlen würden einen europäischen Finanzminister grün vor Neid werden lassen</font>. 2001 verschlechterte sich die Situation Argentiniens bezüglich des Staatseinkommens, aber nicht, weil die Regierung auf Großeinkauf ging. Die Rezession verringerte die Staatseinnahmen und trieb das Defizit in die Höhe, was dann Investoren verschreckte, die noch höhere Zinsen forderten, worauf das Defizit noch größer wurde. Den meisten Regierungen, die gezwungenermaßen 15 Prozent per annum oder mehr auf Dollardarlehen zahlen mussten, ist früher oder später das Geld ausgegangen, und sie mussten die Zahlungen ganz einstellen. Das wäre fast auch Argentinien passiert.
Dass es jetzt ausgerechnet Argentinien trifft, stimmt traurig, denn das Land war in den letzten zehn Jahren ein Musterschüler der orthodoxen Finanzlehre. 1991 überwand es eine jahrzehntelange Hyperinflation, indem es eine Währungsbehörde einrichtete. Wall Street jubelte. Dann kam die <font color="#FF0000">"Tequila"-Krise von 1994/95, als Mexiko seine kurzfristigen Schulden nicht refinanzieren konnte</font>. Die meisten Finanzgurus schlossen daraus, dass wohl die Aufnahme langfristiger Kredite das Richtige sei. Dadurch würde die Anfälligkeit verringert. Genau das tat Argentinien, es verlängerte die Durchschnittsfälligkeit seiner Staatsverschuldung auf dramatische Weise.
<font color="#FF0000">Dann schlug die Krise in Asien zu</font>, und Argentinien steckte sich an. In Asien hatten örtliche Banken allzu bedenkenlos Darlehen aufgenommen und vergeben. Die Stärkung der Banken verringere die Anfälligkeit, folgerten die meisten Finanzgurus. Argentinien folgte ihrem Rat auf dem Fuße und verschärfte die Vorschriften über die Bildung von Rücklagen, was eine Kapitalumschichtung bei den Banken zur Folge hatte. Und es ermutigte die Banken, im Ausland Notkredite aufzunehmen.
<font color="#FF0000">Dann kamen die Krisen in Russland und Brasilien</font>. Die Zinsmargen der Schwellenmärkte wurden untragbar. Argentiniens Wirtschaft begann zu schrumpfen. Die finanziellen Schwierigkeiten Brasiliens untergruben das Vertrauen der Investoren. Steuerpolitik muss mittelfristig angelegt sein, damit Glaubwürdigkeit gewährleistet wird, schlossen die Finanzgurus. Argentinien folgte erneut und erließ ein Gesetz.
<font color="#FF0000">Der Rest ist Geschichte. Die Dotcoms implodierten, die Nasdaq fiel, Kapitalbewegungen nach Lateinamerika blieben aus. Die Rezession in Argentinien wurde schärfer</font>. An dieser Stelle wussten die Finanzgurus nicht mehr, was sie raten sollten. Das Land sah zwei Wirtschaftsminister sowie ein halbes Dutzend Pläne kommen und gehen, bis Domingo Cavallo zurückkehrte, der Architekt der Reformen aus den frühen 90ern.
Das grundlegende Problem ist einfach. Schwellenländern fehlt Kapital. Ungeachtet der moralischen Tugenden von Sparplänen ist es doch in solchen Ländern sinnvoll, im Ausland Kredite aufzunehmen, um die eigene Entwicklung voranzutreiben. <font color="#FF0000">Dadurch werden sie aber zur Geisel der Schwankungen internationaler Kapitalmärkte</font>.
Wenn ein Land X, aus welchem Grund auch immer, Anlass zu Sorge gibt, lassen die Händler dessen Anleihen fallen und setzen gegen seine Währung. Dadurch steigen die Zinssätze im Land, die Wirtschaft verlangsamt sich. Schuldendienst und Verteidigung der Währung werden immer schwieriger. Dann ist es bis zur sich <font color="#FF0000">selbst bewahrheitenden Voraussage </font>nur noch ein kurzer Schritt. Der IWF, eigentlich der letzte Darlehensgeber für solvente Länder mit Liquiditätsproblemen, ist zu klein und zu langsam, um die zig Milliarden Dollar aufwiegen zu können, die die Händler mit einem Fingerzeig bewegen. Nach der Krise in Asien haben kluge Köpfe in Washington gemerkt, dass die Schuld beim Fahrer liegen muss, wenn sich auf einer Straße ein einziger Unfall ereignet. Wenn jedoch die Mehrzahl der Autos verunglückt, muss die Straße schuld sein. Die USA und die anderen G7-Länder hätten sich der Reparatur der Straße widmen können, sie taten es aber nicht. Und solange sie es nicht tun, werden die Staaten mit mittleren Einkommen von Schlagloch zu Schlagloch holpern und unzählige unschuldige Opfer im Straßengraben liegen bleiben.
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Copyright: Project Syndicate, August 2001
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