Aus der FTD vom 1.10.2001
Chronik einer Krise
Von unseren Korrespondenten
Wie Schlüsselfiguren aus Finanzwelt und Politik nach den Terroranschlägen den Zusammenbruch der Märkte verhinderten.
Dienstag, 11. September
NBC-Korrespondentin Andrea Mitchell wollte gerade ein Live-Interview mit dem beliebten Nachrichten-Moderator Tom Brokaw führen, als ihr Handy klingelte. Am anderen Ende war ihr Mann Alan Greenspan, Präsident der amerikanischen Notenbank (Fed), der gerade in Zürich festsaß. Der Luftraum über den USA war geschlossen, sein Flug unterbrochen worden.
Manhatten war von einem Terroranschlag verwüstet worden, das Pentagon stand in Flammen. Der mächtigste Zentralbanker der Welt brauchte unbedingt Informationen. Nur Bruchstücke der Geschehnisse kannte er bisher, und der einzige Mensch, der ihm jetzt Genaueres sagen konnte, schien ihm die findige Reporterin zu sein, die er vor fünf Jahren geheiratet hatte.
Greenspans Abenteuerreise
Andrea Mitchell sagte nur kurz, dass sie sofort auf Sendung gehen müsste. Sie legte das Handy mit der offenen Leitung neben sich und begann das Live-Interview. Greenspan stand in Zürich und lauschte. Schnell war ihm klar, dass Trauer und Schock über dieses Blutbad alle anderen Gedanken der Weltöffentlichkeit verdrängen würden.
Aber der Angriff war auch eine der verheerendsten Bedrohungen für Wirtschaft und Finanzen weltweit. Ein sofortiges Eingreifen der Fed und anderer Notenbanken war dringend geboten, um prompte Rückversicherung zu bieten und das geschwächte Finanzsystem zu stabilisieren. Innerhalb weniger Stunden stellten Greenspan und seine Kollegen mit Hilfe von vielen Ferngesprächen und Meetings in den Büros der amerikanischen Notenbank dafür die Weichen.
In Washington war sein Stellvertreter Roger Ferguson der einzige Fed-Direktor, der sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Stadt befand. Aus Furcht vor weiteren Anschlägen wurden die eleganten Jugendstilgebäude der Notenbank in der Constitution Avenue evakuiert. Aber Roger Ferguson blieb vor Ort. Als das Chaos in New York seinen Lauf nahm, mussten die Finanzmärkte schließen und die Unsicherheit wuchs. Das gesamte Finanzsystem drohte zum Stillstand zu kommen. Ferguson gab eine Erklärung ab, die selbst für die Verhältnisse der Fed extrem knapp formuliert war:"Die Notenbank ist geöffnet und geht ihrem normalen Betrieb nach. Die Rediskontfaszilität steht zur Verfügung, um die notwendige Liquidität zu sichern." Durch diese Rediskontfaszilität und die Offenmarktgeschäfte verfügt die Fed über mehr als 100 Mrd. $. Das hat die Wogen wieder glätten können.
Europas Zentralbank alarmiert
Als Eugenio Domingo Solans, spanisches Mitglied im Vorstand der Europäischen Zentralbank (EZB), in seinem Frankfurter Büro den Fernseher in seinem Büro einschaltete, hatte bereits das zweite gekidnappte Passagierflugzeug das World Trade Center getroffen. Der Schock dieser Ereignisse hat ihn und seine EZB-Kollegen sofort in Aktion treten lassen.
Aber nicht jedermann war in der Zentrale. EZB-Präsident Wim Duisenberg war gerade dabei, eine Reise nach Brüssel anzutreten. Somit fiel Solans und EZB-Vizepräsident Christian Noyer die Aufgabe zu, auf die sich entwickelnde Krise zu reagieren. In einer öffentlichen Erklärung betonten sie, die EZB sei bereit, bei Bedarf für zusätzliche Liquidität auf den europäischen Finanzmärkten zu sorgen.
Hotline für die Notenbanken
In Paris kam um 16.15 Uhr MEZ (9.15 Uhr in New York) der französische Finanzminister Laurent Fabius in seine Dienststelle am Ufer der Seine. In seinem Büro im sechsten Stock rief er seine wichtigsten Mitarbeiter zusammen. Jean-Pierre Jouyet, sein Abteilungsleiter für Staatsfinanzen, hatte bereits ein Arbeitspapier über die möglichen wirtschaftlichen Folgen der Attacke gefertigt.
Fabius versuchte seinen amerikanischen Amtskollegen Paul O’Neill zu erreichen, kam aber nicht durch. Dann kontaktierte er seine europäischen Kollegen Gordon Brown in London und Hans Eichel in Berlin. Etwas später sprach er mit dem französischen Premierminister Lionel Jospin über die möglichen Auswirkungen der Anschläge.
Es kam schnell zu Diskussionen und Entscheidungen: Eine gesicherte Telefon-Schnellverbindung zwischen Notenbank-Chefs in aller Welt machte sofortige Kontakte zwischen den Notenbankern ohne Umwege übers Vorzimmer möglich. Die Hotline wurde während der Krise absolut notwendig.
Bundesbankpräsident Ernst Welteke war zum Zeitpunkt der Terroranschläge mit Henry Kissinger zu Gast bei der Preisverleihung für die"Unternehmer des Jahres" in der Alten Oper in Frankfurt. Der frühere amerikanische Außenminister hatte seine Rede gerade mit der Feststellung beendet, dass die USA seit Pearl Harbor nicht mehr im eigenen Lande angegriffen worden seien und dass sein Land derzeit auch keine ernst zu nehmenden Feinde habe. Die Feier fand ein abruptes Ende, als der Redakteur eines örtlichen Radiosenders die schlimmen Nachrichten aus New York und Washington überbrachte.
Deutsche Bank sichert Liquidität
Binnen Sekunden wurden Bilder des brennenden World Trade Center auf eine Leinwand projiziert. Welteke eilte, ohne die Ereignisse zu kommentieren, sofort zurück in das Bundesbank-Gebäude. Dort waren die Prioritäten klar: Internationale Devisengeschäfte mussten ohne Unterbrechung möglich bleiben. Das Präsidium traf in Eile zusammen, während Mitarbeiter sicherstellten, dass der Geldfluss aus den USA weiter möglich blieb.
Auch bei den Geschäftsbanken tagten die Krisenstäbe. Ein paar Stunden nach den Angriffen teilte beispielsweise die Deutsche Bank mit, es funktioniere alles. Schnell hatte sie den Betrieb auf alternative Plattformen verlegt, wodurch auf eine Kopie aller Kundendateien und der laufenden Geschäfte zurückgegriffen werden konnte. In den folgenden Tagen sicherte die Deutsche Bank die Liquidität am Markt und wurde zur wichtigsten Clearingbank bei Dollar-Transaktionen am US-Devisenmarkt. Bis zu 500 Mrd. $ liefen über die Handelsplattformen der Bank.
Europas Märkte bleiben geöffnet
Als die Sonne in Europa unterging und die Märkte sich dem Tagesschluss zuneigten, fragten sich Händler und Beamte: Sollen die Börsen in Frankfurt und London sowie Euronext, die gemeinsame Handelsplattform der Börsen in Paris, Amsterdam und Brüssel, geöffnet bleiben? Schließlich war die Wall Street geschlossen. Die Börsenchefs entschieden, die Märkte offen zu halten. Euronext schloss sich mit Frankfurt und London kurz und zog nach.
Nach dem ersten Schock sorgten sich die Geschäftsbanken in einer zweiten Phase, wie die Geschäftswelt für die Dauer der Krise geschützt werden könnte. Bei BNP Paribas leitete Michel Pebereau ein Krisenkomitee, das sich jeden Abend traf. Die französische Bankenaufsicht Commission Bancaire untersuchte, ob französische Banken in der Tragödie Mitarbeiter verloren hatten. Außerdem wollte die Behörde von den Banken wissen, wie sie die finanzielle Situation einschätzten.
Es galt, möglichen Liquiditätsproblemen vorzubeugen, besonders bei US-Dollar. Die Bank of New York bekam erste Probleme beim Abrechnen - ausgerechnet jene Bank, die vielen Unternehmen an der Wall Street als Buchhalter und Abrechnungsstelle dient. In vier Filialen in Lower Manhattan wird mehr als die Hälfte des weltweiten Handels mit Staatsanleihen abgewickelt.
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Mittwoch, 12. September
Obwohl die Fed und die EZB in den Stunden unmittelbar nach den Angriffen bereits Maßnahmen getroffen hatten, wurde der Liquiditätsbedarf am Mittwochmorgen noch deutlicher sichtbar. Die Tagesgeldsätze waren bis dicht an den EZB-Grenzwert von 5,25 Prozent gestiegen. Die Märkte waren nervös. EZB-Präsident Wim Duisenberg wiederholte eine Erklärung, die er bereits um 7 Uhr früh abgegeben hatte:"Die EZB und die nationalen Zentralbanken stehen bereit, um bei Bedarf ein normales Funktionieren der Märkte und aller wichtigen Finanzsysteme zu unterstützen."
Das Problem der EZB bestand darin, dass sie keine Vorstellung davon besaß, wie die meisten Marktteilnehmer nach den Angriffen reagieren würden. Am Vormittag sagte Duisenberg vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments:"Ich bin vor fünf Minuten darüber informiert worden, dass sich meine Kollegen bei der EZB für ein kurzfristiges Angebot zu einem festen Satz von 4,25 Prozent entschieden haben." Mit dieser Maßnahme wurden den Märkten 69,3 Mrd. $ zugeführt. Am Donnerstag folgte ein zweites Angebot, das den Märkten weitere 40,5 Mrd. $ bereitstellte.
Die EU-Bankenaufsicht diskutierte auf einer Sitzung die Auswirkungen der aktuellen Ereignisse auf das Bankensystem. Sie zeigte sich sehr zufrieden mit der guten Kommunikation zwischen Banken und Behörden
Erste Gefahr gebannt
Alan Greenspan versuchte am Mittwochmorgen weiter, aus der Schweiz irgendwie in die USA zu gelangen. Endlich bekam er eine Militärmaschine. Mit an Bord war William McDonough, Präsident der New York Federal Reserve Bank, der an einer internationalen Zentralbankensitzung in Basel teilgenommen hatte. Von Zürich aus flogen beide zum US-Luftwaffenstützpunkt im britischen Mildenhall. Dort nahmen sie ein Tankflugzeug vom Typ KC 10 für die Reise nach Washington. Auf dem Flug besprachen sie ihre nächsten Schritte.
Der Blick aus dem Flugzeug auf die südenglische Landschaft rief bei McDonough Erinnerungen wach: Das letzte Mal war er vor 41 Jahren von Mildenhall aus gestartet. Als junger Luftwaffenoffizier hatte er in der Zeit des Kalten Krieges von diesem Stützpunkt aus Einsätze geflogen.
Als beide Washington am Mittwochnachmittag erreichten, waren viele der akuten finanziellen Gefahren bereits gebannt. Die Geldspritzen zeigten Wirkung. Die Börse sollte zwar noch bis zur kommenden Woche geschlossen bleiben, aber der Rentenmarkt war bereits wieder geöffnet. Die Fed hielt diese Maßnahme für wichtig, damit zumindest einige Bewegungen auf den Finanzmärkten stattfinden konnten.
Ein Problem, das nun schnell gelöst werden musste, waren die potenziellen Schwierigkeiten der Finanzinstitute mit Dollar-Transaktionen im Ausland. Denn es war denkbar, dass eine Bank in London Zahlungen zurückhielt, weil sie fürchtete, den fälligen Ausgleich dafür von einer Bank in New York nicht mehr zu erhalten.
Krisenpolitik mit Swaps
Nach Rücksprache mit Kollegen von der EZB und der Bank of England hatte Fed-Vize Ferguson eine Reihe von Swap-Geschäften veranlasst, die am Donnerstag und Freitag bekannt gegeben werden sollten. Damit konnten ausländische Zentralbanken über Dollar verfügen und diese den Banken ihrer Länder zur Verfügung stellen. Als Gegenleistung dafür erhielt die Fed Euro-Einlagen bei der EZB und Sterling-Einlagen bei der Bank of England.
Zusammen mit den beiden Senatoren des Bundesstaates New York, Charles Schumer und Hillary Clinton, flog McDonough nach New York weiter, um sich ein erstes Bild vom Ausmaß der Zerstörung zu machen. Die Fed hatte neben der Zentrale in der Liberty Street ein provisorisches Büro nahe des Hudson River in New Jersey eingerichtet und pumpte von beiden Standorten aus weiter Geld in die Finanzmärkte.
Bis Mittwochnachmittag europäischer Zeit hatten die Finanzminister und Zentralbankgouverneure der G7-Länder den ersten Schritt ihres Rettungsplans eingeleitet: Über das italienische Finanzministerium, das derzeit den Vorsitz innehat, verbreiteten sie eine Pressemitteilung:"Wir sind entschlossen, dafür zu sorgen, dass diese Tragödie nicht durch Störungen der globalen Wirtschaft noch verschlimmert wird."
Zum zweiten Schritt gehörte die Senkung der Kreditkosten. Dadurch sollte den Märkten zu mehr Liquidität verholfen und die Wirtschaft angekurbelt werden. Ähnlich war die Fed 1998 nach der Finanzkrise in Russland vorgegangen.
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Donnerstag, 13. September
Bei der planmäßigen Morgensitzung beließ die EZB den Leitzins unverändert bei 4,25 Prozent. Wie üblich gab der EZB-Rat keine genauen Einzelheiten über seine Gespräche bekannt. Kommentare verschiedener Ratsmitglieder ließen jedoch den Schluss zu, der Rat habe in erster Linie eine Panik vermeiden wollen.
"Wir sollten das Klima nicht vergiften, indem wir übereilt einen Beschluss fassen, der zu sehr unbefriedigenden Ergebnissen führen könnte", sagte Matti Vanhala, der finnische Zentralbankgouverneur."Die Leute denken sonst, wir wissen mehr, als wir vorgeben. Das wäre keine gute Politik." Hätte die Fed ihre Zinssätze am Montag nicht gesenkt, wäre die EZB sehr wahrscheinlich bei ihrer vorsichtigen Vorgehensweise geblieben, zumindest bis zu ihrem nächsten Treffen am 27. September.
In Berlin gab Finanzminister Hans Eichel bekannt, dass die Tabak- und Versicherungssteuer in Deutschland erhöht wird. 3 Mrd. DM sollen auf diese Weise für die Terrorismusbekämpfung bereitstehen. Eichels Hauptaufgabe - wie die seiner Kollegen auch - war es jedoch, die Märkte zu beruhigen. Regierungskreisen zufolge drängten US-Vertreter darauf, dass die europäischen Märkte weiter geöffnet bleiben. Ansonsten wären über 200.000 offene Verträge gefährdet gewesen.
Auch der Bundeskanzler trat Ängsten und Verunsicherungen entgegen. Nur Tage nach dem Angriff besuchte Gerhard Schröder die Internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt und forderte die Deutschen zum Geldausgeben aus. Und Eichel betonte, es gelte in den nächsten Wochen"alles zu vermeiden, was zu einer Panik führen könnte".
In Washington leitete die Fed zur gleichen Zeit ihre nächsten finanziellen Verteidigungsmaßnahmen ein. Das Risiko eines finanziellen Zusammenbruchs schien für den Augenblick abgewendet. Deshalb konzentrierten sich die Entscheider auf die Auswirkungen, die der Schock auf die allgemeine Wirtschaft gehabt hatte, und suchten die passende geldpolitische Antwort darauf.
Viele der zwölf US-Regionalbanken hatten bereits vor den Angriffen ihre Erwartungen für den Rest des Jahres heruntergeschraubt. Niemand zweifelte ernsthaft an, dass die Fed jetzt die kurzfristigen Zinssätze senken sollte, um das Vertrauen zu stärken. Die Frage war nur, wann sie diesen Schritt tun sollte. Die Börsen waren noch geschlossen, aber die Angst vor einem Crash nach Wiedereröffnung ließ manche zu dem Schluss kommen, die Bank sollte sofort handeln.
Die meisten Marktexperten der Fed hielten dies für keine gute Idee. Die Zinsen zu senken, während die Märkte geschlossen sind und die Welt weiter voll und ganz auf die Tragödie fixiert ist, wäre ihrer Meinung nach reine Verschwendung. Besser sei es zu warten, bis sich die Aufmerksamkeit - wenigstens für kurze Zeit - wieder auf die Finanzmärkte richtete. Das machte es wahrscheinlich, dass die Fed an dem Morgen handeln würde, an dem die Märkte wieder öffnen sollten.
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Freitag, 14. September
Am Ende dieser schrecklichen Woche hatte sich die Liquiditätslage in Europa stabilisiert. Die Händler lobten die EZB für ihr Handeln. Die EZB habe schnell gehandelt, um das Vertrauen zu festigen, sagten sie, auch wenn es keine ernsthafte Geldknappheit an den Märkten gegeben habe.
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Wochenende, 15./16. September
Wie würde der Rest der Welt reagieren? Eine Marktkrise in den USA könnte zu einer globalen Finanzkrise führen mit einem ähnlichen Ausmaß wie 1987 in Asien oder 1998 in Russland. Führende Beamte der Fed telefonierten das ganze Wochenende über mit ihren europäischen Kollegen, aber es gab keinen Plan für eine Runde abgestimmter Zinssenkungen."Wir (die Zentralbanken, die Red.) sprechen die ganze Zeit über miteinander", sagte ein Fed-Sprecher."Wir verstehen, was jeder von uns tut." In den Gesprächen teilten die Fed-Beamten ihre Sorgen und Absichten mit ihren Gegenübern in Frankfurt und anderswo.
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Montag, 17. September
Der Offenmarktausschuss der Fed (FOMC) war nun bereit zu handeln. Um 7.30 Uhr Washingtoner Zeit kamen die Mitglieder mit Alan Greenspan in einer Telefonkonferenz zusammen. Sie begannen mit einer Schweigeminute für die Opfer der Anschläge. Keine 20 Minuten später war die Sitzung vorüber, und man hatte sich darauf geeinigt, die Zinssätze um 50 Basispunkte zu senken. Der Tagesgeldsatz sollte, falls nötig, deutlich darunter liegen.
"Wir wollten an den Märkten nicht den Eindruck erwecken, dass wir Geld vom Markt absaugen würden und die Sätze wieder hochtreiben, falls die Märkte die Sätze unter drei Prozent (das neue Zinsziel, die Red.) schicken", sagte ein FOMC-Mitglied. Und in der Tat gab es in den nächsten Tagen das Geld praktisch umsonst, da die Kapitalsätze auf bis zu 0,25 Prozent fielen.
Nach ihrer Entscheidung, die Zinssätze zu senken, gab die Fed den meisten anderen Zentralbanken nur wenige Minuten Vorwarnzeit, bevor der Beschluss verkündet wurde. Dabei machten die USA deutlich, dass der Anruf nur aus Höflichkeit erfolge und keine Bitte um Einleitung ähnlicher Schritte war.
Wie eng die Kontakte zwischen EZB und Fed sind, wurde an diesem Montagmorgen deutlich. Duisenberg war wieder einmal unterwegs, dieses Mal in Helsinki, wo er an einer Konferenz über Euro-Scheine und -Münzen teilnahm. Alan Greenspan kontaktierte deshalb EZB-Vizepräsident Christian Noyer, um mitzuteilen, dass die Fed ihre Zinssätze senken werde. Als Duisenberg in Helsinki vor die Presse trat, hatte er zuvor nur wenige Minuten Zeit gehabt, die Nachrichten zu verdauen, die er indirekt von der Fed erhalten hatte. Das erklärt auch, warum Duisenbergs erste Bemerkungen den Anschein erweckten, die EZB sei nicht bereit, dem amerikanischen Beispiel zu folgen."Es ist noch zu früh, um alle Konsequenzen zu beurteilen, die (die Angriffe, die Red.) auf das zukünftige wirtschaftliche Wachstum haben werden, falls überhaupt", sagte Duisenberg."Wir wollen ein Anker der Stabilität in einem sehr unruhigen Umfeld sein." Sein Tonfall änderte sich jedoch mit fortschreitender Dauer der Pressekonferenz.
Wie es scheint, wuchs seine Überzeugung, die EZB müsse Solidarität zeigen mit der Fed. In seinem deutlichsten Hinweis auf eine bevorstehende Zinssenkung sagte er:"Falls es negative Auswirkungen gibt, werden sie sich in stärkeren desinflationären Entwicklungen niederschlagen, als wir sie bislang erwartet hatten." Direkt im Anschluss daran richtete sich Duisenberg im Hauptquartier der finnischen Zentralbank ein. Er arrangierte eine Telefonkonferenz mit den anderen 17 Mitgliedern des EZB-Rats. Es war die erste außerplanmäßige Sitzung des Rats zur Monetärpolitik seit Gründung der EZB 1998.
Die Sitzung begann kurz nach 16 Uhr MEZ (zehn Uhr in Washington). Eine halbe Stunde zuvor hatte die EZB in Frankfurt eine Maßnahme zur Refinanzierung des Geldmarkts angekündigt - zu einem Zinssatz von 4,25 Prozent. Ein klares Signal, dass zu diesem Zeitpunkt über eine Zinssenkung nicht nachgedacht wurde. Doch um 18.30 Uhr hatte der EZB-Rat seinen Beschluss gefällt - die EZB würde ihren Leitzins auf 3,75 Prozent senken."Die Welt musste sehen, dass die Europäer an der Seite der Amerikaner stehen", sagte ein EZB-Experte."Die EZB hat die richtige Entscheidung gefällt. Aber nicht zum ersten Mal war es ein Fall von ‚richtiger Politik, falscher Verpackung‘."
Nur wenige Stunden nach der Zinssenkung der Fed zog die Bank of Canada nach. Einige Zeit später folgten auch die Zentralbanken von Schweden und der Schweiz, offensichtlich jedoch nicht in abgesprochenen Schritten.
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Dienstag, 18. September
Die Bank of England schien von den jüngsten Entwicklungen ein wenig überrumpelt worden zu sein und wartete einen zusätzlichen Tag ab. Sie ging streng nach den Regeln vor, berief eine Vollversammlung des Zentralbankrats (MPC) ein und gab wie gewohnt zur Mittagszeit die Zinssenkung bekannt. Zudem suchte die Bank klarzustellen, dass bei der Senkung um 0,25 Prozentpunkte die inländischen Inflationsziele berücksichtigt wurden. Die Handlungsweise der britischen Zentralbank trug auch dazu bei, die Vorstellung zu entkräften, dass Zentralbanken aufeinander abgestimmt handeln, um der Bedrohung der weltweiten Wirtschaft zu entgegnen.
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Mittwoch, 19. September
Was als Nächstes geschah, beunruhigte viele Entscheider. Dass die amerikanischen Börsen bei ihrer Wiedereröffnung am Montag, den 17. September nicht mit einer Rally begonnen hatten, war nur für wenige eine Überraschung. Noch beunruhigender war jedoch die Reaktion der Märkte für festverzinsliche Anleihen. Treasuries verloren fast genauso schnell an Boden wie Aktien. Zwischen Montag und Dienstag stieg die Nominalverzinsung auf Treasuries mit 30-jähriger Laufzeit um 15 Basispunkte auf 5,55. Sollten die Märkte für Festverzinsliche tatsächlich negativ reagieren? Würde wirklich ihre Angst vor einer Inflation überwiegen?
Hochrangige Fed-Beamte gingen nicht davon aus. Die Investoren hätten wohl eher Angst vor einem möglichen anderen Schritt der Regierung: der Verabschiedung eines riesigen Maßnahmenpakets mit fiskalischen Anreizen. Der Kongress hatte nach den Anschlägen bereits ein 40 Mrd. $ schweres Notprogramm für Rüstungs- und Sicherheitsausgaben verabschiedet. Jetzt berieten die Senatoren und Abgeordneten über weitere Hilfen für die schwächelnde Wirtschaft.
Die Besorgnis der Investoren drohte, die Bemühungen der Fed zu untergraben, glaubte Greenspan. Daher traf er sich am Mittwoch ausführlich mit Spitzenpolitikern aus dem Kongress, um zur Vorsicht zu mahnen. Er wiederholte seine Botschaft auch bei einer Ansprache vor dem Kongress am nächsten Tag. Bis zum Ende der Woche legte sich seine Furcht jedoch wieder.
Die Märkte hatten sich langsam beruhigt, ebenso wie die Langfristrenditen. Jetzt ist die Bühne bereitet für einen neuen Akt der US-Notenbank: Die nächste Sitzung des Offenmarktausschusses findet morgen, am 2. Oktober, statt. Und Experten gehen allgemein von einer weiteren Zinssenkung aus.
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Beiträge von Redakteuren der Financial Times, Financial Times Deutschland, Les Echos und Expansión: Gerard Baker in Washington, Tony Barber, Lucas Zeise und Rolf Lebert in Frankfurt, Herbert Fromme in Köln, Martine Royo, Nessim Ait-Kacimi, Sylvie Ramadier und Isabelle Chaperon in Paris, Peter Ehrlich in Berlin, Alan Beattie in London, Peter Norman in Brüssel und Miguel Angel
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Liebe grüße
yatri
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