Aus Solidarität.com
Von Konstantin Tscheremnych
Vor sechs Jahren veröffentlichte das Leontieff-Zentrum, ein Vorhut-Institut der liberalen Wirtschaftsstrategie, eine Studie, die St. Petersburg im Laufe des
kommenden Jahrzehnts einen Bevölkerungsschwund um 400000 Menschen prophezeit. Eine Tendenzwende sei erst nach einer"positiven gesellschaftlichen
Umschichtung" möglich. Aus dem Kontext war zu entnehmen, daß die Autoren unter"positiver gesellschaftlicher Umschichtung" das"natürliche" Wegsterben des
Bevölkerungssegments der alten Menschen verstanden.
Das Wirtschaftsprogramm von Jegor Gajdars Partei"Demokratische Wahl", das auf dem Gründungsparteitag 1994 vorgelegt wurde, enthielt den Vorschlag, das
Rentenalter für Männer um fünf Jahre hochzusetzen, nämlich von 60 auf 65 Jahre. Mittlerweile ist die Lebenserwartung männlicher Russen auf 59 Jahre abgesunken.
Da ich Gelegenheit hatte, mit Mitgliedern dieses Teams, die in der Mehrzahl vom Petersburger Institut für Wirtschaft und Finanzen kommen, persönlich zu sprechen,
weiß ich sehr genau, daß die beiden genannten Beispiele nicht zufällig zueinander passen und auch keine persönliche Meinung, sondern vielmehr die allgemeine
Sichtweise und Intention der Vordenker der sogenannten liberalen Reform in Rußland darstellen.
"Sehen Sie", sagte einer dieser Leute zu mir,"in Wirklichkeit gehen Gajdars Leute nicht entschlossen genug vor. Meiner Ansicht nach sollten Leute im sogenannten
Rentenalter kein Wahlrecht haben. Sie klammern sich an ein überkommenes politisches System und sind unfähig, sich zu ändern. Im Grunde könnte man die Rente
ganz abschaffen -"
"???"
"Warum, die Angehörigen sollten für sie aufkommen."
Und was ist, wenn die Angehörigen krank oder tot oder gar nicht vorhanden sind? Ich war zu schockiert, um weiter zu argumentieren. Der junge, adrett und
energisch wirkende Mann brach den Stab über Millionen Menschen mit einem kalten Lächeln, das jede Hoffnung, ich könnte ihn vielleicht falsch verstanden haben,
sofort zunichte machte. Das kalte Lächeln erinnerte mich an einen anderen Vorfall, der mit einer akademischen Unterhaltung in einer noblen Petersburger Wohnung
anscheinend wenig zu tun hat.
Dieser Wirtschaftstheoretiker befand sich nämlich in perfekter innerer Übereinstimmung mit gewissen Praktikern, die um 1992-93 in den großen Städten auftauchten.
Damals entstand der Immobilienmarkt - und zwar auf die gleiche anarcho-kriminelle Art und Weise wie alle anderen Märkte, die im frisch umgekrempelten Rußland
aufkamen -, und die gesamte"progressive Menschheit" war des Lobes voll für diesen radikalen Wandel zur freien Marktwirtschaft.
Ein gewisser Alexej M., dessen Laufbahn als Journalist (!) bei Immobilienzeitschriften begann, wurde 1994 einer Reihe von Morden überführt, wobei seine Opfer
meistens alte Leute und Alkoholiker waren, die in der Moskauer Stadtmitte wohnten. Zunächst machte er eine alleinstehende Person ausfindig, die ihre Wohnung
gegen eine kleinere eintauschen wollte, und suchte sie dann in der Wohnung mit einem Stapel vorbereiteter Dokumente auf, die das Opfer nur zu unterschreiben
brauchte. Mit gewinnendem Lächeln bot er an, anschließend auch alle bürokratischen Dinge zu erledigen. Sobald das Opfer unterzeichnet hatte, tötete er es und
verkaufte die Wohnung umgehend weiter. Die Sache kam heraus, nachdem man mehrere Leichen im Müllcontainer eines Häuserblocks gefunden hatte, wo der junge
Mann mehrere Kunden hatte.
"Im Grunde sollte Präsident Boris Jelzin mit meiner Arbeit zufrieden sein", äußerte Alexej im Fernsehen mit ebendiesem kalten Lächeln."Ich habe schließlich
Entsorgungsarbeit geleistet, indem ich lebensunfähige Individuen beseitigt habe."
Die gleiche"Entsorgungsarbeit" erledigten noch ein paar andere Verbrecherbanden in St. Petersburg. Eine davon war ein"Joint Venture" von Verbrechertypen und
Polizisten, offiziell als Immobilienagentur eingetragen. Die Firma existiert bis heute, wenngleich zwei ihrer Gründer im Gefängnis sitzen und der letzte Direktor
ermordet wurde. Die Täter waren vermutlich Angehörige früherer"Kunden", die als Mordwaffe Metallrohre benutzten. Diese unidentifizierten Robin Hoods der St.
Petersburger Immobilienkloake hielten es anscheinend für zwecklos, sich an die Polizei zu wenden. Wenn Sie einmal ein Polizeirevier in dieser Stadt betreten haben,
dabei Gefahr laufend, von herabfallenden Putzteilen getroffen zu werden, und die Atmosphäre dort erfaßt haben, verstehen Sie, warum.
In lokalen medizinischen Notfallstationen sieht es ähnlich aus. Unsere Ambulanz hatte sogar noch das Glück, vor Einsatz der Reformen ein neues Gebäude zu
beziehen. Heute drängen sich im Vorraum Straßenhändler aller Art, die allerhand Kram von Parfüm, Strümpfen, Schuhen, Pornomagazinen bis zu Bratpfannen
verkaufen. Man kommt sich vor wie in einer Metrostation anstatt einer medizinischen Einrichtung. Die Händler zahlen Miete, und damit hält sich die Ambulanz über
Wasser.
Die Patienten, die zur Ambulanz kommen, sind größtenteils alte Leute. Denn der kleinere Teil der jungen Generation kann sich private Arztbesuche leisten, während
die große Mehrheit der"Mittelklasse" zwischen drei oder vier Jobs hin- und herhetzt und praktisch keine Zeit hat, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern.
Zahlreiche kleine Privatkrankenhäuser für Patienten mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben in den letzten Jahren bankrott gemacht, weil die
"Zahlungsfähigkeit" ihrer Patienten nicht mit den Mieten und inoffiziellen Zahlungen, die jeder Klinikdirektor genau wie jeder Firmeninhaber an örtliche
Schutzgelderpresser leisten muß, Schritt hielt.
Unter solchen erniedrigenden Bedingungen weiterzuarbeiten und nicht selbst Teil des alles durchsetzenden kriminellen Netzes zu werden, erfordert besondere
menschliche Eigenschaften. Bedroht ist dabei mehr die moralische Integrität als die physische Sicherheit, auch wenn die Klagen derer, die dem Druck des Milieus
nicht standgehalten haben und sich dafür rechtfertigen möchten, anders lauten. Ein aufrechter Firmenchef, Lehrer oder Arzt muß ständig der Versuchung widerstehen,
mit dem Bösen Kompromisse zu schließen: einen Gebäudeteil an eine zwielichtige Handelsgesellschaft zu vermieten; von der Soros-Stiftung bereitgestellte
Lehrbücher zu verwenden in der Hoffnung, die darin enthaltenen Lügen über Kultur und Geschichte durch das eigene Wissen und die eigene Autorität auszugleichen.
Vor dem schmerzlichsten Dilemma steht der Arzt, der seine Patienten nicht behandeln kann, weil die Medikamente fehlen oder nur zu immensen Preisen zu haben
sind, die von dem gründlich kriminalisierten Pharma-Markt diktiert werden. Für ihn ist das Faktum erbarmungloser, vorsätzlicher darwinistischer Auslese am
alleroffensichtlichsten, und wie oft könnte er mit der alten Landfrau aus Solschenizyns Aufsatz Matrjonas Hof sagen:
-"Ich bin es so leid, euch alle zu begraben...
Ein Ingenieur als Obstverkäufer
Kurz vor den Wahlen 1996 bediente Rußlands"demokratische" Führung die umfangreiche russische Verbrecherklasse mit einer Art Wahlgeschenk. Nach dem
modifizierten Rentengesetz werden die Jahre, die man im Gefängnis gearbeitet hat, nun auf die Altersrente angerechnet, während die Jahre einer höheren Ausbildung
nicht angerechnet werden; Arbeitseinsätze im hohen Norden oder unter ähnlich harten Bedingungen, bei denen vorher ein Jahr wie zwei Jahre normaler
Berufstätigkeit bewertet wurden, werden jetzt wie jede andere Arbeit behandelt. Zusammen mit der sonstigen Demütigung der Intelligentsia könnte man diesen
Umstand als Eingeständnis werten, daß die Verbrecher die herrschende Klasse im postsowjetischen Rußland sind, während die verschiedenen überflüssigen
Akademiker und nutzlosen Facharbeiter nicht mehr als ehrenwerter Teil der Gesellschaft betrachtet werden.
Die Änderung des Rentengesetzes hatte in der Praxis gewissermaßen den gleichen Effekt wie Gajdars Vorschlag, denn es zwang Millionen von Akademikern über
60 Jahren, irgendeine Arbeit zu suchen, um später eine etwas höhere Rente zu beziehen. Dazu mußten sie allzu häufig ihren Verstand und ihre Erfahrung an die neue
herrschende Klasse verkaufen, die in der ersten Privatisierungswelle hochkam (oder wie Vitalij Neischul von der Mont-Pèlerin-Gesellschaft sagen würde,
"institutionalisiert wurde").
Dabei zerfiel die Bevölkerung in eine in sich geschlossene Gruppe der Neureichen mit ihrem eigenen System von Schulen, Kliniken und bewachten Clubs; in die
Kategorie der arbeitsunfähigen, hilflosen Alten; und die Mehrheit dazwischen, verzweifelt bemüht, ein bißchen Rahm von der Oberfläche des Lebens abzuschöpfen,
voller Feindseligkeit, sich selbst und allen übrigen entfremdet und dabei stets in Gefahr, selbst unterzugehen. Ein Großteil dieser Klasse arbeitender bzw. ums
Überleben kämpfender Durchschnittsbürger geht nicht zur Wahl. Zwar hassen die meisten die Liberalen, dennoch bietet ihnen die semi-anarchische, durch und durch
kriminalisierte Schattenwirtschaft die Möglichkeit, selbst über die Runden zu kommen, und daher ist für sie die Idee einer Gesellschaft, in der Ordnung herrscht, ein
Schreckbild, das sie an sowjetische Zeiten erinnert. Und wer doch wählen geht, der gibt eben einem Mafioso-Kandidaten den Vorzug vor einem anderen. In Nischni
Nowgorod konnte nur ein Eingreifen der Polizei verhindern, daß regelrechte Verbrecher zum Bürgermeister bzw. Gouverneur gewählt wurden.
Wenn Sie einen kleinen Straßenhändler auf dem Luschniki-Markt in Moskau oder dem Sennaja-Platz in St. Petersburg ansprechen, werden Sie überrascht
feststellen, wie durch das vordergründige Vokabular der Straßenhändler-Subkultur eine akademische Ausdrucksweise durchschimmert, und bald vermuten Sie,
obgleich Sie zu verwirrt sind, danach zu fragen, daß diese Frau oder dieser Mann mit geschwollenen Händen und wettergegerbtem Gesicht früher Ingenieur(in),
Wissenschaftler(in) oder Bibliothekar(in) gewesen ist, bis sie oder er aus diesem Milieu vertrieben und in die erbarmungslose Wildnis des protoplasmatischen
Straßenmarkts gestoßen wurde, der für sie oder ihn die einzige Einkommensmöglichkeit für die Familie bedeutet.
Wer als Ex-Akademiker die Chance verpaßt hat, sich an Soros zu verkaufen, wird je nach Ausbildung vom puren Verbrechen angeheuert: ein Schriftsteller als
"Image-Maker", ein Offizier als Bodyguard, ein Chemiker als Produzent synthetischer Drogen. Dort behandelt man sie wie minderwertige Wesen, Untermenschen,
oder wenn es hoch kommt, wie Diener. Aber die meisten haben nicht vergessen, daß sie einst größere geistige und sonstige Unabhängigkeit besaßen trotz der
wohlbekannten Mängel und Beschränkungen des sowjetischen Systems. Sie finden sich heute in einem schlimmeren Käfig wieder, als es der alte war, und die
alltägliche Entfremdung läßt kein Hoffnungsfenster, daß der fortdauernde Überlebenskampf irgendeinem höheren Zweck oder Allgemeinwohl diente. Dennoch sind
viele von ihnen als Menschen noch nicht völlig auf den Hund gekommen, sonst würden sie sich nicht so krumm legen für ihre Kinder bzw. Enkelkinder. Und die
meisten wären überglücklich, wenn eine neue politische Führung auf die Idee käme, eine Arbeitsvermittlung einzurichten, bei der die moralische Einstellung zählt, und
nicht nur die fachlichen Fertigkeiten.
Jenseits des"Kader-Problems"
Die neue russische Führung ist entweder zu sehr in den höheren Sphären der Geopolitik befangen, von wo aus der einzelne Mensch kaum noch wahrzunehmen ist,
oder sie verläßt sich blind auf das nachrichtendienstliche Kader-Prinzip, das sich aus dem gleichen Kriterium"professioneller Fertigkeiten" und empirischem
persönlichen Vertrauen zusammensetzt. Dieses Prinzip bewährt sich bis zu einem gewissen Grade beim Aufbau eines kleinen Teams für unmittelbare Aufgaben, auch
auf staatlicher Ebene, aber es versagt, wenn es darum geht, die Nation zu organisieren und für die anstehenden lebenswichtigen Aufgaben die dazu am besten
befähigten Generationen und Bevölkerungsteile mitsamt ihrem menschlichen Potential zu mobilisieren. Anstatt sich direkt an die Bevölkerung zu wenden, die in ihrer
großen Mehrheit der neuen Führung gerade ihre Unterstützung bekundet hat, verharrt diese Führung in linear-logischen Kalkulationen eines Schachspiels abseits der
öffentlichen Politik, schiebt Figuren hin und her, als wäre sie auf der Suche nach einer magischen Schrittfolge oder einer mystischen Rezeptur, um die verstreuten
Elemente in Aktion zu versetzen.
Der Playboy Boris Nemzow, dessen kaltes Dauerlächeln Anstoß des Hasses ist, macht sich für eine unverhältnismäßige Steigerung der Beamtengehälter stark -
obwohl es ihm als demokratischem Mustergouverneur von Nischni Nowgorod wohlbekannt ist, daß höhere offizielle Einkünfte keineswegs den Appetit nach noch
höheren inoffiziellen Einkünften zügeln. Wenn die Ministerbezüge auch ein dutzendmal erhöht würden, wären sie immer noch um Größenordnungen niedriger als die
Einkommen der"wirklichen Elite", die im Zuge der"liberalen Reformen" entstand.
Die"wirkliche Elite" besteht nicht bloß aus den skandalös notorischen Oligarchen, deren Namen man in allen Zeitungen lesen kann. Die Geschäftsleute, die kürzlich
im Kreml zusammenkamen, sind nicht die reichsten Leute Rußlands. Der luxuriöseste Landsitz mit Schloßcharakter in der Umgebung Moskaus gehört dem Direktor
einer früheren staatlichen Handelsbehörde, die zuerst in eine ausländische Wirtschaftsvereinigung und dann in einen privaten Konzern mutierte und tatsächlich den
gesamten Exporthandel mit Holz monopolisiert. Sein Name erscheint nicht in den Massenmedien, genausowenig wie der Name des Präsidenten der Diamantenbörse
oder die Namen anderer ehemaliger halbstaatlicher Monopolbetriebe, die in der späten Gorbatschow-Periode des"großen Ausverkaufs" gegründet wurden. Namen
wie Roskontrakt, Maschinoexport, Rasnoimport, Interprivatization, Roswnjesch-dies, Roswnjesch-das oder die erst kürzlich gegründete Rospirtprom erscheinen
nicht an der Oberfläche der politischen Auseinandersetzung oder Medienanalyse, obwohl jeder Ministerpräsident ihre Existenz ebensogut kennt wie die eigene
Ohnmacht, in diesem Bereich etwas zu ändern. Denn diese halb offiziellen, halb privaten Konzerne werden in bestimmten politischen Situationen nötig gebraucht, vor
Wahlen zum Beispiel, wenn die staatliche Führung darauf angewiesen ist, daß beträchtliche Geldbeträge bereitgestellt und in bestimmte Bahnen gelenkt werden -
wohl wissend, daß die"grauen" und"schwarzen" Oligarchen der Schattenwirtschaft der Realwirtschaft unermeßliche Summen entziehen, so daß diese unterfinanziert,
unterversorgt und unterentwickelt bleibt und Jahr um Jahr weiter erschöpft wird. Unterdessen schafft es die Führung des Landes nicht, die"Kader-Frage" in einer
Weise zu lösen, welche die inoffizielle Praxis beseitigt, für jedes Projekt, Programm oder Venture einem fetten halb-offiziellen Iwan Iwanowitsch ein Schmiergeld von
40% oder mehr zu zahlen.
Das Salz der Erde
Früher oder später werden die Machthabenden den Mut finden, die verstreuten Edelsteine wenn schon nicht einzusammeln, dann doch wenigstens zu zählen.
Vor kurzem erschien in Kommersant ein Bericht, den der Geschäftsmann Michail Chodorkowskij auf der Grundlage zuverlässiger Daten noch funktionierender
akademischer Institute verfaßte und in welchem er den entsetzlich heruntergekommenen Zustand der Industrieanlagen in Rußland schildert, der eine ständige und
wachsende Gefahr von technogenen Katastrophen aller Art darstellt. Die Hälfte aller Industriebetriebe liegen still, mehr als 10% jährlich werden geschlossen und
entweder ganz vernichtet oder komplett ausgeschlachtet. Die Notwendigkeit, dieses Problem auf den Tisch zu bringen, war jedem ehrlichen Fachmann oder früheren
Facharbeiter, der heute Bodyguard oder Obstverkäufer ist, schon seit Jahren klar. Dem muß man jedoch ein weiteres schreckliches Kapitel hinzufügen, wenn man
ein realistisches Bild des heutigen Rußland zeichnen will: das der menschlichen Erschöpfung.
Dieses Syndrom betrifft vor allem die anständigen Menschen, die für das Weiterbestehen des Staates strategisch notwendig sind, aber dennoch weiter vernachlässigt
und übergangen werden. Diese Menschen brauchen keinen dicken Umschlag voll harter Auslandswährung oder einen polizeilichen Befehl, damit sie für die Nation
tätig werden. Darunter sind betagte Direktoren und erfahrene Experten, die ihr Leben lang in der realen Wirtschaft für ihr Land und seine Menschen gewirkt haben.
Dieses Syndrom betrifft die Kriegsveteranen, für die das Jahr 1991 ein zweites 1941 gewesen ist. Und es betrifft all jene, die ihre Arbeit nicht aufgegeben haben,
obwohl sie viel zu wenig oder seit Monaten überhaupt kein Gehalt bekommen haben und deshalb zusätzliche, oft langweilige und widerwärtige Jobs annehmen
mußten, um die Ergebnisse ihrer eigentlichen Arbeit zu retten.
Für einen solchen Menschen wirkt das Gefühl, in seinem Beruf notwendig zu sein, persönliche Verantwortung für die Gesundheit seiner Patienten oder die Gemüter
seiner Schüler zu tragen, als mächtige antientropische Kraftquelle; auch unter körperlich zermürbendsten Umständen wird er fähig sein, sich zusammenzunehmen und
sich jünger und kräftiger zu fühlen. Solange ein hingebungsvoller Arzt oder Lehrer einen Arbeitsplatz hat und damit eine Möglichkeit, Gutes zu wirken, bleiben Geist
und Körper intakt. Manchmal kann man aus der Nähe diese wunderbare Verwandlung eines Menschen erleben, wenn in seinem Innern ein Licht angeht und ihm aus
den Augen leuchtet.
Ein derartiger Mensch reicht oft aus, um ein ganzes Labor, einen Betrieb, eine Klinik oder Schule am Leben zu erhalten, indem er durch sein persönliches Beispiel
aufrechte Kollegen um sich schart. Und immer öfter fallen ganze Bereiche wissenschaftlicher, erziehender oder sozialer Tätigkeit in Trümmer, wenn ein solcher
Mensch ausscheidet und das Vakuum mit kleinmütigen jüngeren Leuten gefüllt wird, die sich als charakterlose Faulenzer oder energische Schwindler entpuppen und
früher oder später kaputt machen, was der Vorgänger und seine Generation geschaffen haben.
Wird die russische Augenchirurgie den Tod von Swjatoslaw Fjodorow überleben? Gibt es noch einen russischen Kinderfilm nach Rolan Bykow? Kann die russische
Geschichtswissenschaft den Tod von Lew Gumiljow und Igor Diakonow verwinden? Was wird aus dem Schaupspiel in St. Petersburg nach Georgij Towstonogow
und Igor Wladimirow? Wer kann in der klassischen Musik Jewgenij Mrawinskij und in der Bildhauerei Michail Anikuschin ersetzen? Gibt es noch Gestalten vom
Format eines Jewgenij Juchnin in der Schiffsbautechnik? Gibt es herausragende Persönlichkeiten in der Petersburger Schule der Psychiatrie nach Dmitrij
Oserezkowskij, Fjodor Slutschewskij und Boris Lebedew? Die Lehrer hinterlassen leere Stellen zurück, und das noch im besten Fall; allzuoft bringen es die lieblosen
Erben über sich, die ursprünglichen Gedanken des väterlichen Begründers ihres Instituts oder die Grundlagen seines Beitrags zur Kunst oder Wissenschaft auch noch
zu verdrehen und zu verfälschen.
Beim Wirtschaftsmanagement, aus dem die"liberalen Reformen" die fähigsten Leute vertrieben haben, ist das Bild noch furchtbarer: Zum Teil wurden die erfahrenen
und moralisch hochstehenden Leute unter ideologischen Vorwänden hinausgeworfen, andere schieden durch Selbstmord oder Mord aus. Der Abstieg St.
Petersburgs von einem gewaltigen Industriezentrum zu einer Hauptstadt des Tourismus und der Dienstleistungen - Champion in der Güterherstellung und
Bereitstellung von Einkommen ist heute die Brauerei Baltika, die sich in ausländischem Besitz befindet - ist das Resultat einer vorsätzlichen Beseitigung führender
Manager: Der Generaldirektor Viktor Scherschnjow der Baltischen Werft wurde entlassen; Dmitrij Filippow von den St. Petersburger Treibstoffwerken wurde
ermordet; der Generaldirektor German Gardymow von den Maschinenwerken Nord ist gestorben; der Präsident der Baltischen Schiffahrtsgesellschaft Viktor
Chartschenko wurde unrechtmäßig ins Gefängnis gesperrt. Es ist das Resultat des Vakuums, das entstand, weil es keine geeigneten Leute gab, sie zu ersetzen; der
Verödung dieser und anderer Wirtschaftsbereiche oder ihrer Übernahme durch das Verbrechen; der Unfähigkeit der neuen Managergeneration, sich und andere vor
der um sich greifenden Epidemie krimineller Gewalt zu schützen, die bereits einige der besseren jüngeren Manager das Leben gekostet hat. Und es ist die Folge des
Vakuums, das durch Erschöpfung dessen entstanden ist, was einmal das Salz von Rußlands Erde gewesen ist.
Der Teufelskreis
Aus dem Vorgehen der neuen Führung Rußlands in den ersten Monaten ist zu entnehmen, daß die Energie jugendlichen Alters den Mangel an Bildung, Erfahrung und
Moral nicht aufwiegen kann. Die neuen Führer werden darin scheitern, ihre Fähigkeiten zu beweisen, wenn sie nicht darangehen, schleunigst den verbliebenen Teil
der älteren Generation von Fachleuten vor dem Untergang zu retten, bevor die gnadenlosen Umstände des täglichen Überlebens sie, einen nach dem anderen,
auslöschen.
Mittlerweile bleibt genauso wenig Zeit, dem Problem der menschlichen Erschöpfung entgegenzutreten wie dem der Erschöpfung der Industrie.
Der Kollaps der physischen Wirtschaft führt zu leeren Haushaltskassen; die Erschöpfung der Anlagen führt zu Unfällen; der Verfall der Moral und des
Verantwortungsbewußtseins der Gesetzeshüter macht sie zu einem Accessoire des organisierten Verbrechens; die schwindende Qualität der öffentlichen
Dienstleistungen vervielfacht die Bedrohungen des physischen Überlebens - und all das zusammen zerreißt das Gewebe der Gesellschaft und trennt die verbleibenden
Inseln des Denkens und wohlmeinender Kreativität voneinander. Es dreht sich ein Teufelskreis wie in Kafkas Prozeß in der Wüste öffentlicher medizinischer
Einrichtungen, der die meisten kostbaren und einzigartigen Persönlichkeiten, die noch leben und um das Überleben ihrer Institute und Familien kämpfen, jedwedem
Notfall schutzlos ausliefert. So ein Notfall kann entstehen durch ein Auto, das von einem betrunkenen"neuen Russen" gesteuert wird; durch einen unfähigen
Chirurgen, einen skrupellosen Geschäftspartner, einen korrupten Polizisten oder einen kaltblütigen Paparazzo.
Und manchmal ist so wenig nötig, um sie aufzurichten: ein Auditorium interessierter Studenten; ein guter alter Film im Fernsehen, wenigstens einmal die Woche, eine
Insel des Optimismus und der geistigen Gesundheit in dem Ozean harter Pornographie, weicher Seifenopern und Killer-Thriller; ein Bus, der nicht überfüllt ist wie
eine Sardinenbüchse; ein Vorortzug, der pünktlich kommt; ein Arzt, der es schafft, sich auf den Zustand des Patienten zu konzentrieren, obwohl er auf dem Sprung
zu seinem Zweitjob ist -.
"Die größte Gefahr ist gerade die, die nicht ins Auge fällt", stellte der Verfasser des Kommersant-Berichts über den Verfall der Industriebetriebe traurig fest. Wieviele
Jahre darwinistischer Auslese des menschlichen Potentials unserer Nation müssen vergehen, bevor die Frage der menschlichen Erschöpfung, insbesondere der
Erschöpfung der geistigen Kräfte, auf Regierungsebene zum Thema gemacht wird?
Wenn die Sonne zuschlägt
Mein Großvater starb in dem heißen, beschwerlichen Sommer des Jahres 1954, das später"das Jahr der Akademiemitglieder" genannt wurde; ein Sommer
vernichtete eine ganze Galaxie hervorragender wissenschaftlicher Köpfe. Die am häufigsten genannte Erklärung lautete, obwohl weder Zeit noch Milieu von
Aberglauben geprägt waren, daß es sich um ein Schaltjahr gehandelt habe. Dahinter verbarg sich aber ein wesentlich bedeutsamerer Faktor. Die Jahre permanenter
psychischer Anspannung, mit einem Schwager im Exil und einer Menge Freunden in Haft, lösten sich plötzlich auf in das später sogenannte"Tauwetter" und
schwächten die Lebensfäden, die Körper und Geist wach gehalten hatten, so daß der gefährliche Keim der Entropie in sie eindringen konnte. Die Sonne brannte
herab auf die gespannten Nähte und zerriß sein Herz, dessen Erschöpfung er nicht geahnt hatte.
Der unausgesprochene Gedanke, das Jahr 2000 sei eine Art Grenzgebiet, das auf wundersame Weise dem Desaster ein Ende setzen möge, zusammen mit ein
bißchen Aberglauben, der sich um die Milleniumwende rankt, erschien vielen russischen Intellektuellen - die das Jahr 1991 als Beginn einer neuen rücksichtslosen
Ära erlebten, in der Wissen nichts mehr gilt, die Moral untergraben und das menschliche Leben, besonders das einer alten, kranken Person, entwertet wird - wie
eine Zielgerade im Sport, nach der man endlich ein bißchen Ruhe haben würde.
Das Jahr nahm die Professoren Boris Sanegin und Elmer Murtasin mit sich fort, zwei hochanständige außenpolitische Experten, die Gründer der russischen Liga
gegen den Kolonialismus. Ein weiterer Gründer der Liga, Nikolaj Koroljow, war letzten Sommer verstorben.
"Ich bin es so leid, euch alle zu begraben..."
Am 18. Juli verloren Rußland und die Menschheit Taras Muraniwskij; einen Tag später folgte ihm Professor Sergej B. Lawrow, der Präsident der Russischen
Geographischen Gesellschaft, in den Himmel. Beide hatten sich nicht sonderlich um ihr Herz gekümmert, haßten medizinische Untersuchungen und hatten keinen
Hausarzt, der den Zustand ihres Herzens überwachte.
Spät nachts im Moskauer Büro erwachte ich und hörte, wie jemand den Schlüssel im Schloß umdrehte, hustend den Flur entlang ging und etliche Türen aufmachte.
"Taras Wassiljewitsch?" rief ich, im Halbschlaf ganz vergesssend, daß er ja im Krankenhaus war. Alles war still, bewegungslos und furchtbar heiß.
Ich habe nie an mystische Dinge geglaubt, und bin daher um so gewisser, daß Taras' Seele, bevor sie diese Welt verließ, noch einmal den Ort seiner schöpferischen
Arbeit aufsuchte, die er zu seiner Sache gemacht hatte und die seinen Körper und Geist während dieser katastrophalen Jahre lebendig und auf eine Aufgabe
konzentriert erhielt, trotz Erschöpfung und gegen die Entropie der Verzweiflung.
Und mir schwindelt immer noch von dieser blitzartigen Erkenntnis, diesem tragisch-mächtigen Zeichen aus einer anderen Welt, wo das himmlische Rußland seine
besten Söhne wiedertrifft, welche die Früchte ihrer Arbeit denen hinterlassen, die vielleicht eines Tages aus ihrem Kniefall aufstehen, um die gesenkte Fahne der
nationalen und öffentlichen Würde wieder aufzurichten.
Wir scheine wirklich langsam aber sicher ins Mittelalter zurückzuverfallen.
Gruß
Jan
<center>
<HR>
</center> |