Enigma - der Film
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Im „Emigma“-Film von Michael Apted wird die Rolle, die polnische Mathematiker im Zweiten Weltkrieg bei der Entschlüsselung des Geheimcodes der Deutschen spielten, unterschlagen. Hier der Schauspieler Tom Hollander mit der riesigen „Bomb-Machine“ in Bletchley Park, mit der man Nachrichten der deutschen Wehrmacht zu dechiffrieren versuchte. (Foto: Senator Film)
<h2>Das Geheimnis der vier Zyklen</h2>
Wie drei polnische Studenten den Zweiten Weltkrieg verkürzten - und warum viele Polen den hochgelobten Film „Enigma“ nicht sehen wollen.
Von Thomas Urban
(SZ vom 16.2.2002) - Eigentlich sind Filme, die in Westeuropa einschlagen, auch in Polen immer eine sichere Bank. Doch diesmal sind die Säle in Warschaus hypermodernen Großleinwandkinos nicht mal halb gefüllt. Nur wenige Polen wollen die Geschichte sehen, wie britische Geheimdienstexperten die Enigma-Codes der Wehrmacht entschlüsselten und so den Zweiten Weltkrieg um einige Jahre verkürzten. Verwunderlich ist das nicht. Denn kaum ein Film wurde schon lange vor dem Kinostart in Polen so verrissen wie „Enigma“.
Für die Verrisse gibt es gute Gründe. Der Film stimmt nämlich über weite Strecken historisch nicht - und was die Polen besonders schmerzt: Die ganze polnische Vorgeschichte wird nur in einem halben Satz erwähnt, der für nicht eingeweihte Zuschauer unverständlich bleibt. Nach der von der Presse gefeierten Premiere in London hagelte es deshalb Protestbriefe polnischer Emigrantenorganisationen und Beschwerden aus Polen. Sogar der polnische Botschafter in London zieh in einem Brief an die Financial Times die Macher von „Enigma“ der Geschichtsklitterei. Die polnische Verleihfirma hat nun vorsichtshalber vor den Vorspann den Satz montieren lassen, dass es sich um Fiktion, nicht um Fakten handle.
Seminar für Kryptologen
Die Fakten sind in Fachpublikationen seit langem dokumentiert: Das Verdienst der Entschlüsselung der „Enigma“ genannten deutschen Chiffriermaschine kommt vor allem drei jungen polnischen Mathematikern zu: Marian Rejewski, Jerzy Rozycki und Henryk Zygalski. Daran haben auch britische Experten keinen Zweifel gelassen. In dem Film aber knacken Kryptologen des Geheimdienstzentrums Bletchley Park bei London den Enigma-Code.
Die wahre Geschichte der Enigma-Entschlüsselung war ein Spionagethriller, der der Filmhandlung an Dramatik in nichts nachsteht. Er begann 1918, als der deutsche Erfinder Arthur Scherbius beim Patentamt ein Chiffriergerät anmeldete. Zunächst interessierte sich niemand dafür. Der Weltkrieg war mit der Niederlage Deutschlands zu Ende gegangen. Gleichzeitig entstand der polnische Staat neu, der 123 Jahre zuvor von der politischen Landkarte verschwunden war. Die Deutschen mussten als Folge der Konferenz der Sieger in Versailles nicht nur große Gebiete an Polen abtreten, sondern auch ihre Streitkräfte auf ein 100.000-Mann-Heer reduzieren.
Bei allen Parteien der Weimarer Republik, von den Kommunisten bis zu den Nationalisten, war man sich einig darin, dass Polen die „geraubten Gebiete“ wieder herausrücken müsse. In Warschau baute man daher eine eigene Spionageabteilung für Deutschland auf. Polnische Spione erfuhren sehr rasch, dass die deutschen Streitkräfte keineswegs auf die 100.000 Mann reduziert worden waren. Vielmehr gab es die „schwarze Reichswehr“, die in Sowjetrussland Manöver abhielt. Als Gegenleistung bildeten die Deutschen führende Militärs der Roten Armee aus. Die Funksprüche zwischen Berlin und den Truppen in der russischen Steppe wurden verschlüsselt, mit Hilfe der Enigma von Scherbius, deren Wert die Militärführung in Berlin mittlerweile erkannt hatte.
1928 gründete der polnische Geheimdienst in Posen eine Zentrale für Entschlüsselung, abgekürzt BS, die Deutschland-Abteilung hieß BS-4. Über Mittelsmänner kaufte man ein Exemplar der zivilen Version der Enigma, die Banken und Industriebetrieben offeriert wurde. Bald gelang es auch, Teile der Militärversion zu bekommen. Doch verstanden die Experten das System nicht.
In ihrer Not wandten sich die Männer von BS-4 an einen Mathematikprofessor der Universität Posen. Dieser setzte sofort ein Seminar für mathematische Kryptologie auf den Lehrplan, in dem sich drei Studenten durch besonderen Scharfsinn auszeichneten. Da alle drei außerdem exzellent Deutsch sprachen, bot ihnen BS-4 gut dotierte Stellungen an. Es handelte sich um Rejewski, Rozycki und Zygalski. Rejewski wurde sogleich für ein Jahr zum Studium der mathematischen Statistik nach Göttingen abkommandiert. Seine beiden Kommilitonen studierten währenddessen alle in Polen zur Verfügung stehenden Materialien über Kryptologie.
Nach Rejewskis Rückkehr brauchten die drei dann immer noch mehr als ein Jahr, um das Enigma-System zu begreifen. Sie legten Listen mit sich wiederholenden Buchstabenkombinationen an und werteten sie aus; es waren mehr als 100.000. Als sie damit nicht weiter kamen, half ihnen der Zufall: Vom verbündeten französischen Geheimdienst bekam Polen 1932 Enigma-Baupläne und Chiffriertabellen. Die Franzosen hatten einen Mitarbeiter der Chiffrierstelle der Reichswehr bestochen. Zunächst hatten sie die Materialien den ebenfalls mit ihnen verbündeten Briten angeboten. Doch die zeigten sich nicht interessiert.
Nun kam die große Stunde der drei jungen Posener Mathematiker: Sie begriffen, dass Enigma auf vier Zyklen von untereinander verbundenen Buchstabengruppen beruhte. Polnische Agenten in Deutschland lieferten weitere Tabellen und Originalmeldungen. Bald konnte BS-4 eigene Chiffriertabellen aufstellen und die Funksprüche des deutschen Militärs lesen. Das reichte dem polnischen Geheimdienst aber nicht: Er ließ in einer hermetisch abgeriegelten Abteilung eines Radiowerks Enigma-Geräte nachbauen. Insgesamt 17 Maschinen wurden gebaut - ohne dass die Verbündeten in Paris und London davon erfuhren.
Deren Geheimdienste bissen sich in dieser Zeit selbst die Zähne an der mittlerweile sagenumwobenen Enigma aus. Wegen seiner massiven Aufrüstung wurde das Deutsche Reich längst als Bedrohung angesehen. Und die Spannungen zwischen Berlin und Warschau wuchsen immer mehr. Als sich im Sommer 1939 abzeichnete, dass Hitler Polen zum nächsten Ziel einer militärischen Aggression bestimmt hatte, kam die Stunde für BS-4, die Briten und Franzosen in die Enigma-Geheimnisse einzuweihen. Stolz führten Rejewski, Rozycki und Zygalski am 25. Juli 1939 in Warschau den Experten aus London und Paris die Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Man sprach Deutsch untereinander, es war die einzige Sprache, die alle Anwesenden beherrschten. Noch mehr staunten die Gäste, als ihnen die nachgebauten Enigma-Maschinen vorgeführt wurden. Beide Delegationen bekamen je eine geschenkt. Das Treffen endete mit einem Abendessen im noblen Warschauer Hotel Bristol.
Dann ging alles sehr schnell: Am 1. September marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Wenige Tage vor dem Fall Warschaus setzten sich die drei Mathematiker nach Rumänien ab, wie auch fast die gesamte polnische Regierung. Sie konnten dann schnell nach Frankreich weiterreisen, wo sie dortige Kryptologen einwiesen. Danach trennten sich die Wege der drei: Rozycki kam wenige Monate später bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer ums Leben. Rejewski und Zygalski flohen nach der Niederlage Frankreichs nach England. Dort war inzwischen nach dem Vorbild von BS-4 das Zentrum in Bletchley Park ausgebaut worden. Dank der Erkenntnisse der Polen waren die britischen Experten auch in der Lage, Weiterentwicklungen der Enigma nach kurzer Zeit zu knacken. So konnten sie die Einsatzbefehle der deutschen Luftwaffe und der U-Boote mitlesen, die Geleitzüge über den Atlantik versenken sollten.
In Michael Apteds Film kommt ein einziger Pole vor - er ist ein Verräter. Polnische Rezensenten und zahlreiche Leserbriefschreiber haben dies mit einem Aufschrei der Empörung quittiert: Nicht nur, dass die Leistung der drei Mathematiker verschwiegen wird, obendrein hat es einen polnischen Verräter nicht gegeben. Es ist umgekehrt: Nach polnischer Auffassung haben die Briten die Polen im Zweiten Weltkrieg verraten- und das gleich dreimal: Erst haben sie 1939 das Land im Stich gelassen; dann auf Druck Stalins die in London ansässige Exilregierung fallen lassen und schließlich auf der Konferenz von Jalta zugestimmt, dass Polen zur sowjetischen Einflusszone gehört.
Ein uraltes Trauma
Der Film rührt also auch an ein altes polnisches Trauma: den Verrat durch die Verbündeten, für die man selbst gekämpft hat. Im heutigen London äußert man mittlerweile Verständnis für die Verbitterung und auch Empörung vieler Polen. Um die Wogen zu glätten, wurde der Herzog von York an die Weichsel geschickt. Als Geschenk brachte er ein Enigma-Gerät mit. Auch zeigte das britische Fernsehen eine Dokumentation, die die Leistung der polnischen Mathematiker würdigt. In Bletchley Park wurde eine Gedenktafel mit ihren Namen enthüllt.
Wie mehr als 100.000 seiner Landsleute, die im Krieg auf britischer Seite gekämpft hatten, war Zygalski in England geblieben, seine Heimat sah er nie wieder. Er starb 1978. Rejewski war nach Polen zurückgekehrt - seine Leistung aber blieb lange tabu. Es hatte nämlich zu gelten, dass Hitler-Deutschland wegen des heldenhaften Kampfes der Roten Armee untergegangen sei. Dass Polen und Briten dazu entscheidend beigetragen haben, wurde lange verschwiegen. Erst vor zwei Jahren wurden die drei Mathematiker, die einen wichtigen Beitrag zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg geleistet haben, postum mit dem höchsten polnischen Verdienstorden ausgezeichnet.
Quelle
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