Wo vor zwei Wochen noch Tausende
Palästinenser lebten, herrscht
Totenstille
Gab es ein Massaker im Flüchtlingslager von Dschenin? / Israel
gewährt erstmals Journalisten Zutritt / Von Jörg Bremer
DSCHENIN, 14. April. Stickige Hitze liegt über dem
menschenleeren Flüchtlingslager von Dschenin. Vor zwei Wochen
wohnten dort noch 15 000 Menschen, bis sie die israelische Armee
vertrieb. Eine kleine Journalistengruppe gehörte am Sonntag zu den
ersten Zivilisten, die nach den schweren Kämpfen wieder in das
Lager durften. Sie sollten Berichte der Armee bestätigen, daß es in
diesem Teil von Dschenin nicht zu einem"Massaker" unter der
palästinensischen Bevölkerung gekommen war. Oberleutnant Joni
Wolff war einer der Zugführer, dessen Männer sich von Haus zu
Haus durch das Lager vorgekämpft hatten."Ich sah kein Massaker,
ich sah, was ich sah."
Wohl die Hälfte der Selbstmordattentäter in den vergangenen
Monaten kam aus dem Lager in Dschenin nach Israel. Viele andere
aus dem nördlichen Westjordanland erhielten in diesem Lager ihren
"Segen", bevor sie nach Israel weiterfuhren. Deshalb erstaunt es
nicht, daß die israelischen Soldaten in dem Lager von Dschenin auf
den größten Widerstand stießen."Die meisten Menschen hatten
das Lager längst verlassen, als sie kamen", bestätigt der
stellvertretende Brigadekommandeur Yoni Lavie.
Dann hätten sich wohl noch 200 Terroristen der israelischen Armee
entgegengestellt."Wir isolierten das Lager von der Stadt und
drangen dann langsam von Haus zu Haus ins Zentrum vor, wo bei
einem Hinterhalt 13 Soldaten innerhalb weniger Minuten im Feuer
der Terroristen umkamen." Insgesamt kamen 15 Israelis bei den
Kämpfen in Dschenin ums Leben.
Seit etwa 24 Stunden ist weitgehend Ruhe in dem Lager eingekehrt,
die fast wie Totenstille wirkt. Es werden immer noch Minen
entdeckt. Nur eng nebeneinander dürfen die Besucher auf einem
schmalen Pfad zwei Straßenzüge entlang über zerborstene
Wasserrohre und durch tiefe Pfützen gehen. Neben dem Weg
ragen Drähte hervor, die wohl dazu dienten, Minen zur Explosion zu
bringen. Wolff berichtet, die meisten Häuser seien schon leer
gewesen bei ihrem Vormarsch. Seine"Kollegen" hätten sich von
Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk"sehr langsam und
sehr vorsichtig vorgearbeitet". Man habe einmal eine alte Frau,
dann ein Kind vor einer Tür gesehen und sofort eine Falle geahnt.
"Das Lager war auf den Krieg vorbereitet", sagt Wolff. Nur ein paar
Tage zuvor hätten alle Zivilisten das Lager verlassen. Die, die dann
noch blieben, dienten als menschliche Schutzschilde. Hinter deren
Rücken hätten die Kämpfer auf die Soldaten gewartet. Sie hätten
Bomben an Türen und Eisschränken gefunden, die zu explodieren
drohten. Die Armee hätte es sich leichter machen können, hebt
Wolff hervor."Sie hätte das ganze Lager einfach aus der Luft
ausradieren können. Aber wir wollten die verbliebene
Zivilbevölkerung nicht zu stark in Mitleidenschaft ziehen."
Oberstleutnant Schmul Tsuell ist Arzt. Es habe ständig die
Möglichkeit gegeben, Verletzte zu bergen, sagt er. Sie hätten auch
in das einzige Krankenhaus in Dschenin gebracht werden können,
das sich am Rande des Lagers befindet. Das hätten die
Palästinenser aber auch ausgenutzt, fährt Tsuell fort. Einmal hätten
sie einen gesuchten Attentäter mit Infusionskanülen aus einem
Haus getragen, obwohl er vollkommen gesund war. Festgenommen
habe die Armee auch den Mann, der sich als Sanitäter verkleidet
habe, um so mit einem Sanitätswagen ins Krankenhaus zu kommen.
Bleierne Stille liegt über den staubigen Straßen des Lagers. Die
Türen und Häuserwände zur Straße hin wurden von Bulldozern und
Panzern einfach niedergefahren. Ihre Trümmer liegen auf der Straße.
In den Ruinen dahinter stehen auf den Regalen in den Läden noch
Haarwaschmittel, Klopapier und Dosen mit Pflaumen. In einem
Friseurgeschäft hängt ein zerbrochener Spiegel. Es riecht noch
süßlich nach Haarspray. Hinter Gittern warten Hühner in einem
anderen kleinen Geschäft auf Nahrung. Sonst gibt es in dem Lager
kein Leben mehr - bis die Armeeführung mitteilt, man habe 19
Palästinenser lebend in den Trümmern auf der anderen Seite des
Lagers entdeckt. Doch die Journalisten sehen nur etwa ein Fünftel
des Lagers, und zu den Verschütteten gelangen sie nicht.
Sie bekommen nur das Zentrum zu Gesicht, wo einmal zwei zentrale
Gassen aufeinanderstießen. Dort türmt sich nur noch ein einziger
Trümmerhaufen auf. Noch in der Nacht zum Sonntag fuhren
Bulldozer diese Häuser nieder. Unklar blieb, ob unter den Steinen
noch Leichen lagen. Nicht weit davon entfernt sei das Haus mit
dem Hinterhof gewesen, in dem 13 jüdische Soldaten eines
Bataillons ums Leben gekommen seien, berichtet Wolff. Weil man
in diesem Abschnitt auf den größten Widerstand gestoßen sei, sei
hier auch am meisten zerstört worden."Mehrfach haben wir die
Leute aufgefordert, aus den Häusern zu kommen und sich zu
ergeben." Meistens hätten die Zivilisten dann auch das Haus
verlassen wollen, seien dann aber vielfach von Kämpfern daran
gehindert worden.
Major Rafi Ledermann nennt Zahlen. Von den 15 000 Menschen im
Lager hätten 13 000 das Lager verlassen, bevor die Armee
einrückte. Danach hätten die Kämpfer die Häuser und Straßen
vermint und sich für den Kampf verschanzt. Mindestens 2000
Menschen seien also noch im Lager gewesen. Mindestens 500
davon hätten sich ergeben. Viele andere seien entkommen.
Sind damit einige hundert bei einem"Massaker ums Leben
gekommen"? Die Armee spricht von einigen Dutzend Verletzten,
die in mindestens drei Schüben zum Krankenhaus hätten gebracht
werden können. Diese Darstellung weist das Internationale Rote
Kreuz zurück. Ihm sei bis jetzt verwehrt worden, in das Lager zu
kommen. Während schon Journalisten die Stätte der Verwüstung
besichtigen dürfen, können auch verschiedene UN-Organisationen
und die Weltbank nicht hinein, obwohl es am vergangenen
Mittwoch schon einmal eine Genehmigung dafür von
Generalstabschef Mofaz gegeben habe: Die Lage sei noch zu
gefährlich, es gebe noch zu viele Minen, heißt es bisher. Es war
ihnen nicht einmal gestattet worden, Leichensäcke und
Blutkonserven in das Krankenhaus zu bringen, sagt Paul McCenn
von der UN-Organisation UNWRA.
Der israelische Sanitätsoffizier Suad Chalchal berichtet, Israel selbst
habe das Krankenhaus mit dem Nötigsten versehen.
Sauerstoffflaschen seien geliefert und die elektrische Versorgung
sei sichergestellt worden. Unter den Palästinensern im Lager habe
es etwa 50 Verletzte gegeben, bis jetzt habe man 90 Prozent der
Häuser durchsucht und nur 26 Leichen gefunden. Es seien auf
jeden Fall schon drei Leichen beerdigt worden. Die weiteren
Leichen durften erst am Sonntag nachmittag geborgen und
bestattet werden, nachdem das Oberste Gericht Israels dazu die
Genehmigung erteilt hatte. Zwei arabische Parlamentsabgeordnete
hatten am Freitag in Jerusalem Einspruch gegen eine
Massenbeerdigung erhoben. Die Armee plane wohl, hatten sie
vermutet, die"Massaker" durch entehrende Massenbestattungen
zu vertuschen. Das weisen die Soldaten in Dschenin zurück. Aber
Oberleutnant Wolff gibt zu, daß es wohl einige tote Palästinenser
geben könnte, die unter den von den Bulldozern zerstörten
Häusern liegen."Dabei haben wir mehrfach mit Megafon diese
aufgefordert, endlich aus den Häusern zu kommen, wir haben auch
mit dem Einsatz von Raketen aus F-16-Jets gedroht. Und da haben
bestimmt die meisten die Häuser verlassen", sagt Wolff.
Mitten im Schmutz schwirren Fliegen um einen Leichnam. Es ist
einer der etwa fünfzig palästinensischen Toten, von denen die
israelische Armee mittlerweile spricht. Der bleiche Kopf ist auf die
linke Hand gefallen, die gerade noch aus dem Betongeröll
herausragt. In schwarzer Uniform hockt der Tote als vielleicht
letzter und stummer Zeuge eines unverhältnismäßigen Kampfes in
den Trümmern einiger Dutzend niedergewalzter Häuser.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.04.2002, Nr. 87 / Seite 3
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