Freiheit und Glück
Ein in der Politik vernachlässigter Kontext / Von
Professor Elisabeth Noelle-Neumann
Vor etwa einem Jahr fand in Köln eine Soziologen-Tagung
statt. Ich besuchte die Veranstaltung nicht über ihre ganze
Dauer, doch ich konnte einer größeren Zahl von Vorträgen
zuhören, die viele gesellschaftliche Themen betrafen und
Konzepte vorstellten. Nach einiger Zeit fiel mir auf, daß in
keinem Vortrag von Freiheit die Rede war. Statt dessen wurde
viel von sozialer Gerechtigkeit gesprochen.
Da mußte ich an den Nationalökonomen und Nobelpreisträger
Friedrich August von Hayek denken, an sein Buch"Der Weg
zur Knechtschaft". Hayek hatte oft gesagt, soziale
Gerechtigkeit gäbe es gar nicht. In einer seiner Studien schrieb
er:"Mehr als zehn Jahre habe ich mich intensiv damit befaßt,
den Sinn des Begriffs,soziale Gerechtigkeit' herauszufinden.
Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem
Schluß gelangt, daß für eine Gesellschaft freier Menschen
dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat." Das Wort, so Hayek,
diene nur als harmlos klingende Camouflage. Es sei ein
"Wieselwort", das dazu diene, mehr Gleichheit zu erzwingen
und die Freiheit zu verringern.
Da war wieder dieser Gegensatz, auf den auffallend viele
politische Denker immer wieder stießen. Sie erkannten, daß der
fanfarenhafte Dreiklang der Französischen Revolution"Freiheit
- Gleichheit - Brüderlichkeit" Dinge miteinander verband, die
zumindest nicht gleichrangig nebeneinander Bestand haben
konnten. Bebend bekennen sich die Menschen bis heute zu
dieser Parole, doch schon wenige Jahre nach der
Französischen Revolution sagte Goethe in seinen"Maximen
und Reflexionen":"Gesetzgeber oder Revolutionäre, die
Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind entweder
Phantasten oder Charlatane." Rund 150 Jahre später brachte
der Philosoph und Mitbegründer der Frankfurter Schule Max
Horkheimer den Konflikt auf den Punkt:"Je mehr Freiheit,
desto weniger Gleichheit; je mehr Gleichheit, desto weniger
Freiheit."
Seit Mitte der siebziger Jahre untersucht das Institut für
Demoskopie Allensbach regelmäßig die Einstellung der
Deutschen zu den beiden Grundwerten Freiheit und Gleichheit.
In einer oft wiederholten Trendfrage werden zwei Argumente
gegeneinandergestellt. Das eine lautet:"Ich finde Freiheit und
möglichst große Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, eigentlich
beide gleich wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon
entscheiden müßte, wäre mir die persönliche Freiheit am
wichtigsten, daß also jeder in Freiheit leben und sich
ungehindert entfalten kann." Das andere Argument lautet:
"Sicher sind Freiheit und möglichst große Gleichheit, soziale
Gerechtigkeit, wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon
entscheiden müßte, fände ich eine möglichst große Gleichheit
am wichtigsten, daß also niemand benachteiligt ist und die
sozialen Unterschiede nicht so groß sind." Die Befragten
werden gebeten anzugeben, welcher Aussage sie eher
zustimmen.
Die Ergebnisse dieser Frage zeigen ein jahrzehntelanges Ringen,
bei dem mal der eine, mal der andere Wert in der Gesellschaft
an Boden gewinnt. In den siebziger und achtziger Jahren
entschied sich regelmäßig eine deutliche Mehrheit der
Befragten, 50 bis 60 Prozent, für die Freiheit, während
zwischen 20 und 30 Prozent im Zweifel die Gleichheit
vorzogen. Nach der deutschen Einheit gewann der Wert der
Gleichheit spürbar an Bedeutung. Heute entscheiden sich rund
45 Prozent der Westdeutschen für die Freiheit, 35 für die
Gleichheit. In den neuen Bundesländern spricht sich seit
Anfang der neunziger Jahre regelmäßig eine klare Mehrheit von
rund 55 Prozent für die Gleichheit aus.
Ist es wichtig, ob in einer demokratischen Gesellschaft der
Wert der Freiheit oder der der Gleichheit Vorrang hat? Hat der
Politikwissenschaftler Samuel Huntington recht, wenn er
hervorhebt, daß in einer Demokratie im Konfliktfall die
Entscheidung immer zugunsten der Freiheit ausfallen müsse?
Zur Beantwortung dieser Frage kann die Demoskopie etwas
beitragen, nämlich die Erkenntnisse der Glücksforschung.
"Glücksforschung", das klingt so, als sei dies gar keine
Aufgabe für die Demoskopie. Doch wenn man mit Umfragen
Kaufmotive und Wahlentscheidungen durchleuchten kann,
warum sollte man nicht mit geeigneten Fragen untersuchen
können, was glückliche, mit ihrem Leben zufriedene Menschen
kennzeichnet und welche Lebenseinstellung oder welches
Verhalten zum subjektiven Wohlbefinden beitragen? So
tauchten die ersten Fragen zum Thema Glück schon in den
fünfziger Jahren in Allensbacher Fragebogen auf, zunächst
noch direkt formuliert:"Wenn jemand von Ihnen sagen würde:
,Dieser Mensch ist sehr glücklich' - hätte er damit recht oder
nicht recht?" Mit dieser und ähnlichen Fragen ließ sich nun in
den folgenden Jahren ein Phänomen beobachten, das die
Sozialforscher in vielen Ländern in Erstaunen versetzt hat:
Während der Wohlstand der Bevölkerung über Jahrzehnte
hinweg unaufhaltsam anstieg und immer neue soziale
Sicherungsinstrumente die sozialen Risiken verringerten, blieb
die Zahl derjenigen, die sich selbst als glücklich bezeichneten,
unverändert (Schaubild 1).
Die Geschichte der systematischen Allensbacher
Glücksforschung beginnt allerdings etwas später, im Jahr
1973. Damals war ich als Mitglied einer Unesco-Kommission in
Leipzig. Da fragte ich mich plötzlich:"Woran ist zu erkennen,
daß die Menschen hier so unglücklich sind?"
Unter einem Brückenaufgang beobachtete ich die Menschen,
die vorbeikamen. Dabei fiel auf:
- Die Augen sind zusammengekniffen,
- die Lippen schmal gepreßt,
- die Mundwinkel abwärts gezogen,
- die Ellbogen eng an den Körper gelegt,
- die Bewegungen klein und steif und so fort.
Aufgrund dieser Liste führte das Institut für Demoskopie
Allensbach insgesamt zehn Beobachtungen in die Fragebogen
ein. Ganz am Schluß, nach Ende des Interviews, wurde der
Interviewer gebeten, nach seinen eigenen Beobachtungen zu
notieren, wie der Befragte aussah und wie er sich bewegte,
etwa wie er die Ellbogen hielt und wie er dem Interviewer
gegenübersaß. Tatsächlich stellte sich heraus, daß sich mit
dieser kurzen Serie von Notizen genauso gut messen ließ, ob
ein Befragter sich glücklich oder unglücklich fühlte und es
allem Anschein nach auch war, wie mit in Amerika
entwickelten aufwendigen Frageserien. Seitdem enthalten
nahezu alle Allensbacher Fragebogen diesen sogenannten
Ausdruckstest, und seitdem häufen sich die Ergebnisse, die den
Zusammenhang zwischen Freiheit und Glück belegen.
So stellte sich heraus, daß Menschen, die das Gefühl hatten, an
ihrem Arbeitsplatz viel selbst entscheiden zu können,
glücklicher waren als diejenigen, die keine
Entscheidungsfreiheit hatten. Dieser Zusammenhang ließ sich
in allen Berufsgruppen und sozialen Schichten beobachten, bei
Selbständigen wie bei ungelernten Arbeitern.
In einer kürzlich abgeschlossenen internationalen Studie des
Allensbacher Instituts zur Werteorientierung der Bevölkerung
zeigte sich, daß Personen, die sich in ihrem Leben frei fühlen,
glücklicher und zufriedener sind als andere, ganz gleich, mit
welcher Frage oder Skala die Zufriedenheit mit dem eigenen
Leben gemessen wird. Dabei ließ sich der Zusammenhang
zwischen Freiheit und Glück nicht nur in Deutschland, sondern
auch in Frankreich und Großbritannien nachweisen (Tabelle),
und er läßt sich nicht einfach durch andere Merkmale der
Befragten wie etwa Alter, Bildung oder soziale Schicht
erklären.
Dieser Befund deckt sich gut mit den Forschungsergebnissen
des amerikanischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi, der
sich seit drei Jahrzehnten mit den Bedingungen eines
glücklichen Lebens beschäftigt hat. Die allgemeine Vorstellung,
daß Wohlstand, soziale Sicherung, Freizeit und Konsum die
Menschen glücklicher machen, sei falsch. Lebenszufriedenheit
entstehe dadurch, daß Menschen Herausforderungen annehmen
und meistern, sich selbst Ziele setzen, aktiv die eigenen Kräfte
einsetzen, eigene Entscheidungen fällen. Dadurch wachsen die
Kräfte, das Selbstbewußtsein und damit die Zufriedenheit. Die
Voraussetzung dafür ist Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.
Menschen, deren Entscheidungsfreiheit über ihr Leben
gemindert ist, können nur schwer eigene Kräfte und ein eigenes
Selbstbewußtsein entwickeln.
Nimmt man an, daß es eine Aufgabe der Politik ist, nach
Möglichkeit das Glück der Menschen zu befördern, dann
müßten diese Forschungsergebnisse eigentlich von großem
Interesse sein. Doch im Wahljahr 2002 ist Freiheit bisher kein
Thema.
Wer sich frei fühlt, ist glücklicher
Fragen:"Einmal ganz allgemein gesprochen: Würden Sie alles in
allem sagen, Sie sind sehr glücklich, ziemlich glücklich, nicht
sehr glücklich, gar nicht glücklich?"
"Wenn Sie einmal alles in allem nehmen, wie zufrieden sind Sie
insgesamt zur Zeit mit Ihrem Leben? Sagen Sie es mir doch
bitte nach dieser Leiter hier. 1 bedeutet,überhaupt nicht
zufrieden' und 10,völlig zufrieden'." (Bildblattvorlage)
"Wir möchten herausfinden, wie sich die Menschen heute so
im allgemeinen fühlen: Wie ging es Ihnen in der letzten Zeit..
.?" (5 positive und 5 negative Gefühle werden vorgelesen) (Alle
Angaben in Prozent)
Deutschland Frankreich
Großbritannien Persönliches
Freiheitsgefühl schwach stark schwach
stark schwach stark Es bezeichnen sich als 8
24 21 43 20 46"sehr glücklich"
Es sind sehr zufrieden 5 51 7 28 7 43
mit ihrem Leben (Stufen 9 und 10 auf einer Leiter von 1 bis
10)
Die positiven Gefühle 22 52 26 46 22 56
überwiegen stark
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.07.2002, Nr. 151 / Seite 5
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