-->30. Juni 2003, 02:05, Neue Zürcher Zeitung
Der Irak und Blairs Glaubwürdigkeit
Downing Street auf dem Kriegspfad gegen die BBC
Die britische Regierung wirft der BBC fahrlässigen Journalismus vor; diese wehrt sich gegen die aggressive Drangsalierung durch Blairs Informationschef. Hinter der Auseinandersetzung steht die viel wichtigere Frage, ob Parlament und Bevölkerung vor dem Krieg gegen den Irak irregeführt worden sind.
pgp. London, 29. Juni
Im Zusammenhang mit den parlamentarischen Untersuchungen über die Vorgeschichte des Irak- Kriegs sind sich die britische Regierung und die BBC in die Haare geraten. Während seiner Aussagen vor der aussenpolitischen Kommission des Unterhauses hatte der Kommunikationsdirektor des Premierministeramts, Alastair Campbell, das staatlich subventionierte Medienkonglomerat der Lüge bezichtigt, weil der Verteidigungskorrespondent der Radiosendung «Today», Andrew Gilligan, Ende Mai berichtet hatte, laut einer glaubwürdigen Quelle aus den Geheimdiensten sei das im September veröffentlichte Dossier über die irakischen Massenvernichtungswaffen gegen den Willen der Geheimdienste dramatisiert worden; insbesondere sei auf Druck der Regierung die Behauptung aufgenommen worden, ein Teil von Saddams gefährlichsten Waffen könne innert 45 Minuten zum Einsatz gebracht werden.
Aufgebauschte Behauptung?
Campbell verlangte von der BBC eine formelle Entschuldigung. Diese hat das Ansinnen abgelehnt, sich hinter ihren Journalisten gestellt und gekontert, die Regierung habe schon mit ständiger Kritik an der Kriegsberichterstattung versucht, die BBC einzuschüchtern. «Eine Unverschämtheit!», reagierte Campbell darauf in einem wütenden Auftritt beim Privatfernsehen ITV. Gilligan seinerseits hat einem Regierungsmitglied, dem stellvertretenden Unterhausminister Woolas, mit einer Verleumdungsklage gedroht; dieser hatte ihn der Irreführung des aussenpolitischen Ausschusses beschuldigt.
Für den Ausgang des Streits wird der in acht Tagen zu erwartende Befund der aussenpolitischen Kommission entscheidend sein. Nachdem Aussenminister Straw in einem Hearing hinter verschlossenen Türen offenbar hat belegen können, dass die «45-Minuten-Behauptung» schon im ersten Entwurf der Geheimdienste für das Dossier enthalten war, dürfte Campbell vom Verdacht entlastet werden, er habe in dem Dokument die vom Irak ausgehende Gefahr aufgebauscht. Anderseits hat Blairs Informationschef zugegeben, dass ein von ihm selbst Anfang dieses Jahres produziertes zweites Dossier zum Teil auf dem Plagiat einer wissenschaftlichen Arbeit beruhte und besser gar nicht publiziert worden wäre. Niemand wird bei diesem Ausgang der parlamentarischen Untersuchung glänzend dastehen, auch die BBC nicht, die sich beim inkriminierten Bericht auf eine einzige Quelle stützte.
Auf einer einzigen Quelle - angeblich einem hohen irakischen Offizier, der früher verlässliche Informationen geliefert hatte - beruhte freilich auch die 45-Minuten-Behauptung, die heute als falsch gilt, nachdem bisher keine Spur von einsatzfähigen Massenvernichtungswaffen Saddams gefunden worden ist. Zu Recht wird nicht nur von britischen Medien, sondern auch von Politikern aller Parteien die Frage gestellt, ob bei den Vorbereitungen zum Irak-Krieg die Erkenntnisse der Geheimdienste die Grundlage der Regierungsentscheidung gewesen seien oder ob Premierminister Blairs Entschlossenheit zur militärischen Intervention nicht vielmehr eine einseitige Selektion der Information gefördert habe. Dabei wird einmal mehr die Machtstellung Campbells kritisiert, die auch in der Labourpartei umstritten ist.
Verluste in den Meinungsumfragen
So weit, dem Premier selbst den Willen zur Irreführung von Unterhaus und Ã-ffentlichkeit vorzuwerfen, geht niemand. Es ist jedoch rückblickend klar, dass das September-Dossier die Lage nicht akkurat wiedergab, und es gibt Anzeichen dafür, dass Blair über die dem späteren Dokument zugrunde liegenden Quellen von seinem Stab im Unklaren gelassen worden war und dieses deshalb dem Parlament weit über seinem tatsächlichen Wert «verkaufte». Da die Regierung New Labours ihre Politik in besonderem Mass auf die Glaubwürdigkeit des Premiers abstützt, kann dies für ihre Reputation bei den Wählern böse Folgen haben, auch wenn die Bevölkerung den Krieg und dessen Hauptfolge, den Sturz Saddams, am Ende mehrheitlich guthiess. Die jüngsten Meinungsumfragen belegen jedenfalls, dass Blairs Popularität sinkt und die Konservativen Boden gewinnen.
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stocksorcerer
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